Mittwoch, 30. April 1997

30. April

"Kommst du heute abend zu mir? Meine Eltern sind nicht da?"
Mein Herz machte einen Sprung. Die Aussicht, eine Nacht mit Nils zu verbringen ließ mich dahinschmelzen. Nils, mein Nils. Ich verspreche dir, wenn ich aus Köln zurück bin, wird alles anders. Ich werde das mit Heiko geklärt haben, alles wird wieder so sein wie früher. Ich weiß es.
Dimitri hat es tatsächlich geschafft, uns das ganze Training nur einen einzigen Griff üben zu lassen. Er nannte das Ding den "Türkischen Einsteiger von vorne". Ich gebe zu, daß ich echt meine Schwierigkeiten hatte, meine Beine dabei halbwegs in Ordnung zu halten, aber das Ding ist wirklich äußerst wirkungsvoll. Wenn der Gegner in der Brücke ist, dann geht man mit seinem Bein in die Ellenbeuge des Gegners, klemmt den Arm ein und jumpt auf die andere Seite und zieht ihn dadurch fast vollkommen auf den Rücken. Ich weiß ja nicht, ob das wirklich im Kampf so klappt, aber irgendwie ist es cool, weil total ungewöhnlich.

So, jetzt gehe ich gleich los zu Nils. Im letzten Augenblick ist mir Doris Satz wieder eingefallen so von wegen der Kondome und so. Shit, ich mußte echt noch mal bis in die Innenstadt zu HS fahren um welche zu bekommen. Ich erinnerte mich dabei an diese total witzige Szene, die ich mal im Fernsehen gesehen habe, mit Hella von Sinnen als Kassiererin, die ganz laut durch den Laden grölt: "Was kosten denn die Kondome?". Yeah, wenn mir das passiert wäre, dann wäre ich glaube ich auch knallrot geworden. Aber es passierte nichts. Die Kassiererin lächelte mich nur einfach an, als wollte sie sagen "Viel Spaß." Ich weiß nicht, ob sie genauso gelächelt hätte, wenn sie gewußt hätte, WOFÜR ich die Dinger vielleicht brauche.

Dienstag, 29. April 1997

29. April

"Meine Güte, was ist denn mit dir in letzter Zeit los?"
Nils schaute mich verwundert an: "Du bist ja kaum zu bremsen?" Ich hatte die 60 kg beim Bankdrücken ohne Probleme geschafft und war total happy.
"Ich weiß auch nicht. Auf einmal geht alles ganz von alleine, habe ich den Eindruck."
"Respekt. Ich glaube, du wirst tatsächlich noch ein richtiger Ringer."
Ich lächelte. Und ich freute mich gleichzeitig, daß er sich freute. Es geht mir wirklich gut, wenn er zufrieden ist. Eine komische Sache.
Nach dem Krafttraining haben wir noch eine Weile im Podium draußen gesessen, über die Leute gelästert. Es ist schon seltsam, wenn man richtig sitzt, dann kann man Tobias' Fenster sehen und manchmal denke ich mir, oder ich bilde es mir ein, daß ich ihn dort stehen sehe. Was natürlich absoluter Unsinn ist. Aber immerhin.
So, nun sitze ich hier und überlege. Was mache ich eigentlich? Ich fahre am Freitag nach Köln. Am Sonntag Abend holt mich Das wieder von dort ab. Verdammt nochmal, wie finde ich Heiko überhaupt? Eigentlich ist doch dieser gesamte Plan der absolute Wahnsinn. Ich habe weder seine Telefon- noch seine Scallnummer, ich weiß nicht wo er wohnt, ich weiß überhaupt nichts. Die einzigen beiden Sachen, die ich weiß, sind sein Verein und diese komische schwule Jugendgrupe. Toll, ich kann ja nun schlecht einfach bei seinem Training aufkreuzen und sagen: "Hallo hier bin ich." Überhaupt. Was soll ich überhaupt sagen. Was WILL ich sagen? Warum mache ich den ganzen Scheiß überhaupt? Verdammt nochmal weil ich ihn wiedersehen will. Einfach nur wiedersehen und weil ich vielleicht noch viel mehr von ihm will...ich weiß es nicht. Es sind so viele Sachen, es ist dieses spöttische "Na Kleiner?" von ihm, es ist dieses verdammte "Dich hatte ich doch schon mal", es ist einfach alles an ihm, was mich zu ihm hinzieht. Ich kann es einfach nicht mit Worten aufschreiben. Aber wie, wie verdammt noch mal soll ich ihn in Köln finden?

Ha! Ich habe es. Jedenfalls zum Teil! Um drei Ecken aber es hat geklappt. Ich dachte, ich gucke mal bei AOL nach, ob die vielleicht irgendwas haben von einer schwulen Jugendgruppe in Köln. Aber Fehlanzeige! Entweder bin ich zu blöd oder es gibt wirklich nichts. Aber ich habe eine Telefonnummer von einer Beratungsstelle in Berlin gefunden, Mann-O-Meter heissen die. Und da habe ich einfach mal angerufen, und gefragt, ob sie diese Gruppe in Köln vielleicht kennen. Und nach einer halben Minute konnten sie mir wirklich alles sagen. Und yeah...ich weiß jetzt, daß sie sich am Freitag treffen und auch wo in Köln. Jetzt kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Ich bin auf das Gesicht von Heiko gespannt, wenn er mich da sieht.

Montag, 28. April 1997

28. April

"Na toll. Ganz toll. Und wer soll dann für dich antreten?"
"Was weiß ich denn? Es sind doch genug Leute in meiner Gewichtsklasse da. Irgendjemand wird sich finden, und wenn es Flo ist."
Nils machte ein total saures Gesicht, als ich ihm sagte, daß ich am nächsten Samstag nicht da bin beim Wettkampf. Ich bin doch nun auch kein Sklave vom Verein, der immer und jederzeit da zu sein hat.
"Und warum mußt du nun ausgerechnet am Samstag wegfahren? Und wohin überhaupt."
"Das ist eine Familiensache. Dad fährt nach Düsseldorf."
Ich versuchte, so wenig wie möglich zu lügen. Ich ließ einfach die Hälfte weg. Nils war für den Rest des Tages weiter eingeschnappt. Aber es ging ihm einfach nur um die Sache, daß ich nicht beim Wettkampf dabei war. Mehr nicht. Und das bestärkte mich eigentlich nur da drin noch mehr, einfach zu fahren.

Sonntag, 27. April 1997

27. April

"Wie schön, daß wir endlich mal wieder alle gemeinsam am Tisch sitzen", meinte Mom. Sie hatte unser Mittagessen im Garten gedeckt und für einen halben Tag spielten wir wieder Rama-Familie. Naja, das ist jetzt gemein, ich meine, es war ja wirklich schön. Die Sonne schien, es war angenehm warm und wir saßen alle zusammen. Ich erzählte wie ich gestern gewonnen hatte, Mom verzog zwar immer noch das Gesicht, als sie meine blauen Flecken sah, aber sie nickte immerhin anerkennend, als ich ihr sagte, daß ich zwei Kämpfe gewonnen habe. Dad meinte, er müsse unbedingt mal wieder vorbeikommen und zuschauen. Mom lehnte dankend ab: "Ich glaube mir würde das Herz stehenbleiben", sagte sie, "wenn ich sehen würde, wie sich mein Sohn mit anderen prügelt."
"Mom, bitte, ich prügele mich nicht."
Vergeblich, sie will es einfach nicht verstehen. Aber wenigstens artete die Diskussion nicht in irgendwelche bösen Richtungen aus. Es war komisch. Alles war auf eine seltsame Art harmonisch. Dad erzählte schließlich, daß er nächste Woche am Freitag für einige Tage wieder nach Düsseldorf muß um seine Quartalsberichte vorzutragen.
"Ich glaube, ich nehme den Wagen diesmal. Das mit der Fliegerei ist wirklich zu umständlich."
Düsseldorf. Plötzlich hatte ich diese Idee. Innerhalb von zwei Sekunden hatte ich den kompletten Plan im Kopf: Düsseldorf...
"Kannst du mich dann nicht mitnehmen und in Köln absetzen?"
"Was willst du denn in Köln?" Dad sah mich verwundert an.
"Da ist am Samstag ein Freundschaftskampf und da wäre ja ganz praktisch, weil dann brauche ich nicht mit der Bahn hinfahren."
"Fahrt ihr nicht mit dem Vereinsbus hin?"
"Nein, da ist ein inoffizieller Freundschaftskampf, da fahren nicht alle hin."
Ich war selber überrascht, wie leicht mir die Lügen fielen. Ich hoffe nur, daß ich nicht irgendwo einen logischen Fehler gemacht habe.
"Aber du hast am Freitag noch Schule."
Shit, na klar, daran hatte ich nicht gedacht. Aber ich schaffte es tatsächlich, alle beide davon zu überzeugen, daß am Freitag sowieso nicht so viel passiert. Ich habe es geschafft. Ich fahre am Freitag nach Köln! Ich fahre nach Köln! Zu Heiko!

Samstag, 26. April 1997

26. April

"Das kommt von deinem blöden Biertrinken gestern", meinte Nils vorwurfsvoll. Ich hasse es, wenn er so redet wie Mom und dann auch noch recht hat. Mein Kopf dröhnte den ganzen Tag. Und er dröhnte auch noch vor dem Wettkampf. Ich weiß ja auch nicht. So viel habe ich doch gar nicht getrunken. Ich kann mich jedenfalls noch an alles erinnern was gestern war. Aber trotzdem fühlte ich mich den halben Tag, als wäre ich in Watte. Florian gab mir zwei Tabletten: "Das eine ist was für den Kopf, das andere ist as zum Munterwerden von Max."
Ich wollte gar nicht wissen, was es genau war und schluckte die Dinger runter. Und tatsächlich wirkten sie. Nach einer Viertelstunde war mein Kopf wieder klar und ich war putzmunter. Mehr noch, ich wurde total hibbelig. Sprang auf und ab und hatte Mühe stillzusitzen.

Mein erster Kampf kam und seltsamerweise klappte alles total easy. Ich wirbelte herum, war an seinen Armen, an den Beinen und als der Kampf zu Ende war, lag ich mit sechs Punkten vorne.
"Was ist denn mit dir los?" fragte mich Nils, als ich von der Matte kam. "Du fegst ja wie ein Wahnsinniger über die Matte."
"Ich weiß auch nicht, das kommt ganz automatisch."
"Paß bloß auf, daß du nicht zu sehr überdrehst. Konzentrier dich lieber und mache etwas langsamer. Sonst machst du zu viele Fehler."
Borrh, und ich dachte, er würde sich freuen, wenn ich ein paar Punkte mache. statt dessen spielt er den großen, vernünftigen Coach. Ich setzte mich in eine Ecke und versuchte mich wieder zu sammeln. Ich weiß nicht woran es lag, daß ich auf einmal so hibbelig und voller Energie war. Ob das vielleicht doch an dem Zeugs von Flo gelegen hat? Wobei, das kann ich mir nicht vorstellen, daß gerade er so ein Zeugs zum Wettkampf mitbringt. Andererseits, wenn das von Max kommt. Ach Shit, ich will gar nicht darüber nachdenken.

Mein zweiter Kampf war nicht mehr ganz so easy. Ich hatte den Eindruck, daß mein Gegner gar nicht in meine Gewichtsklasse gehörte sondern mindestens eine höher. Wenn ich ihn tatsächlich mal auf dem Boden hatte, schien er da wie festgeklebt zu sein. Was ich auch versuchte, ich bekam ihn keinen Millimeter bewegt. Blöderweise erwischte er dann auch noch einen Arm von mir und klemmte ab, so daß ich fast auf der Schulter landete. Nur durch einen großen Zufall und mit jeder Menge Glück kam ich da raus und konnte sogar noch kontern und mit einem winzigen Punkt in Führung gehen. "Das nächste Mal bist du dran", knurrte er mich danach an. Was sollte denn das? So eine bekloppte Reaktion hatte ich ja noch nie erlebt. Ich ging wieder in meine Ecke: "Gut gekämpft, Kleiner", Nils klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Kleiner hatte er gesagt. Von einer Sekunde auf die andere war Heiko wieder in meinem Kopf. Sein "Na Kleiner?" von dem Abend kam mir wieder in den Sinn. Und plötzlich war wieder alles da, als wäre es vor ein paar Minuten passiert. Ich raste in die Umkleide, hielt wieder mal meinen Kopf unter eiskaltes Wasser. Mein Herz raste, ich schnappte nach Luft. Was mache ich hier? Was ist das alles für eine Scheiße? Ich ging nach draußen, kein Wind, es war stickig, die Luft war wie Blei. Wie schön wäre es, jetzt irgendwo am Meer zu sitzen und den Wind zu spüren. Ich riß mich zusammen und ging wieder zu den anderen, gerade noch rechtzeitig zur gemeinsamen Verabschiedung. Ich glaube den Rest des Abends war ich ziemlich schweigsam. Wir waren alle noch Pizza Essen und ich habe mir den Bauch vollgestopft. Ich weiß nicht, ob es mir dadurch besser ging, jedenfalls wurde ich im Kopf wieder ein klein wenig klarer.
Der Bus setzte Nils und mich an "unserer" Kreuzung ab. "Ciao ihr zwei", meinte Flo und grinste mich unverschämt an. Ich glaube er weiß es, oder er ahnt was. Aber im Moment ist es mir so ziemlich egal. Im Moment ist mir so ziemlich alles egal. Wir taperten noch ein bissele in Richtung Eichelberg (was für ein schräger Name). Nils wollte wissen, was mit mir los ist: "Du bist so komisch in der letzten Zeit."
"Wieso denn komisch?" wollte ich wissen.
"Ich weiß auch nicht. Mal bist du so total depri drauf und dann bist du wieder so überdreht. Irgendwas ist doch mit dir."
"Ich weiß es doch auch nicht." Ich blieb stehen und drückte ihn an mich. "Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich bin nur einfach so, so komisch durcheinander. Ich kriege das alles einfach nicht mehr auf die Reihe."
"Was alles?"
"Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber es hat nichts mit dir zu tun, echt nicht."
Nils guckte mich an. Seltsam ernst, seltsam erwachsen. "Und womit hat es dann zu tun?"
Ich zuckte hilflos mit den Schultern: "Mit mir, ich weiß auch nicht. Das ist es ja eben. Wenn ich es wüßte, würde es mir besser gehen."
"Man könnte ja fast sagen, du bist verliebt."
In mir schrillten sämtliche Alarmglocken. Ruhig bleiben, ganz langsam, dachte ich mir, nur jetzt keinen Fehler machen. Ich guckte Nils in die Augen: "Vielleicht hast du mir ja das Herz gebrochen", sagte ich. Und ich fühlte mich wie ein Schwein in dem Moment. Daß ich ihn so anlog, daß ich ihm nicht die Wahrheit sagte, nicht sagen konnte, nicht sagen wollte. statt dessen log ich ihn an, spielte ihm irgendas vor. Obwohl, natürlich liebe ich ihn, ich lieber ihn wirklich. Verdammt noch mal, genau das ist ja das Problem. Nils zog mich an sich und drückte mich ganz fest. Er gab mir einen ganz langen Kuß: "Ich liebe dich auch", flüsterte er. Wir gingen zurück. Schweigend. Ein schöner Kuß zum Abschied.

Freitag, 25. April 1997

25. April

"Das ist doch eigentlich total zum Kotzen. Da zahlt man echt ein halbes Vermögen um reinzukommen und dieser Türsteher macht einen blöde an."
Max hörte gar nicht auf, sich aufzuregen. Wir waren heute in der Tofa und ein neuer Typ an der Tür war da und wollte unsere Ausweise sehen. Na toll, und da wir unter 18 sind, mußten wir sie am Eingang abgeben und um Punkt zwölf gehen. Dann haben wir sie wiedergekriegt. So was Blödes ist mir ja auch noch nie passiert. Zum Glück ist es ziemlich schnell voll geworden und es war ein bißchen was los, obwohl heute irgendwie Bauern- und Goldkettchen-Tag war. Aber einfach um sich wieder mal mit Musik zuzudröhnen war es ok. Nils meinte zwar, daß ich nicht so viel Bier trinken soll, aber das war mir ziemlich egal. Solange noch Happy Hour war muß man das ausnutzen. Und so verschwand wenigstens Heiko ein bißchen weiter im Nebel. Na jedenfalls haben Nils und ich den halben Abend versucht, Max mit so einem Mädel aus Degendorf zu verkuppeln, was dann auch irgendwann geklappt hat. Irgendwann saßen sie dann knutschend in einer Ecke und Nils und ich guckten uns zufrieden an. Dann wurde mir kotzübel und wir sahen zu, daß wir raus kamen, aber es war ja eh schon kurz vor zwölf. Es war blöd, weil so früh fuhr noch niemand zurück in die Innenstadt und so taperten den ganzen Weg zu Fuß. Was aber sehr schön war. Wir sprachen kaum miteinander sondern Nils hielt mich nur im Arm und das reichte. Er war einfach nur da. Mein Nils.

Donnerstag, 24. April 1997

24. April

"Ist dir eigentlich klar, daß wir noch über einen Monat hier sitzen und ackern müssen, bis wir Ferien haben?"
Ich guckte Nils an. Na toll, damit war ja meine Stimmung wieder auf dem heutigen Tagestief angekommen. Drei Monate, schreckliche Aussichten. Ich würde am liebsten sofort weg aus diesem Kaff. Mir ist, als würde ich inzwischen jedes Haus, jede Ecke, ja sogar jedes Gesicht kennen, was mir auf der Straße begegnet. Ich will weg hier, nur raus, in eine große Stadt, nach Hamburg. Nach Köln?

Heiko geht und geht mir nicht aus dem Kopf. Nachdem ich gestern mit Robert telefoniert und Tagebuch geschrieben habe, lag ich noch eine halbe Ewigkeit unter meinem Kopfhörer, habe mich zugedröhnt und vor mich hingeheult. Immer wieder kommen mir die Situationen in den Kopf zurück, Bilder, Gesprächsfetzen. Und dann immer wieder dieser Satz: "Dich hatte ich doch schon mal." Ich versuche das alles beiseite zu schieben, doch es klappt nicht. Es geht in ein paar Momenten. Wenn ich ringe, vergesse ich für einen Moment alles um mich herum. Ich merke, wie ich besser geworden bin, schneller, aggressiver. Manchmal so, daß Dimitri mich bremsen muß. Vielleicht ist es tatsächlich mein Frust, der rauskommt. Ich bin sogar noch nach dem Training eine ganze Stunde gelaufen. Ich habe Nils gefragt, ob er mitkommt. Der hat mich aber nur groß angeguckt und gemeint, daß er das nach dem Training nimmer packt. Das hat Nils gesagt. Naja, bin ich eben alleine gelaufen. Jetzt bin ich zwar richtig fertig aber trotzdem noch quietschmunter. Und Heiko, der ist immer noch da.

Mittwoch, 23. April 1997

23. April

"Nicht weinen, es ist doch alles gut." Nils drückte mich ganz fest und hielt mich in seinen Armen. Ich hatte es nicht mehr ausgehalten und hatte ihn angerufen. Er war inzwischen wieder zu Hause angekommen. Ich hatte ihm nur gesagt, daß es mir total dreckig geht und er meinte gleich ich soll vorbeikommen. Er ließ mich rein. Seine Eltern waren anscheinend gar nicht zu Hause. Ich sah seinen fragenden Blick. Aber ich konnte ihm nichts erklären. Was sollte ich ihm erklären, was ich selbst nicht mal verstand. Er hielt mich fest. Ganz fest. So, wie ich ganz oft Lisa getröstet hatte, hielt er mich und wog mich hin und her. Keine Fragen, einfach nur da. Seine Nähe, sein Atem, sein Geruch. Was mache ich? Ich lasse mich von meinem Liebsten trösten, weil ich in einen anderen Jungen verknallt bin? Ich fühle mich so schrecklich verlogen. Aber es tut gut, daß Nils mich festhält. In dieser Nacht haben wir nicht miteinander geschlafen. Er hielt mich nur fest und kuschelte sich an mich. Und ich fühlte mich so sicher und so geborgen.
Es war kurz vor sechs, als wir gleichzeitig aufwachten. So wie wir ins Bett gefallen waren, lagen wir noch da. Ein langer Kuß zum Abschied. In knapp zwei Stunden würden wir uns in der Schule wiedersehen.
Mom maulte rum, daß ich nun schon unter der Woche die Nächte durchmachen würde und warum ich denn nicht angerufen hätte. Ich warf ihr nur so im Vorbeigehen zu, daß wir noch mit den Kölnern zusammen gefeiert hätten und daß wir dann zusammen im Vereinsheim gepennt hätten. Ich bin selber erstaunt, wie problemlos mir bestimmte Ausreden inzwischen einfallen.
"Wie geht's?" fragte Nils in der Pause.
"Ganz gut", log ich.
"Was ist denn überhaupt los? So eine allgemeine Depristimmung?"
"Wahrscheinlich. Ich weiß es auch nicht so genau." Ich blickte in den Himmel und begann Wolken zu zählen.
"Und ich dachte immer, du bist so stark, und jetzt muß ich dich trösten."
Es dauerte einige Sekunden, bis ich begriff, was er gesagt hatte. Ist es das, was Liebe ausmacht? Das mal der Eine mal der Andere da ist, um zu trösten und beizustehen? Ich wünsche mir, ich könnte Nils sagen, was in mir so vorgeht. Aber das wäre Wahnsinn. Und ich bin dankbar dafür, daß er nicht weiter nachbohrte.
Training. Die Kölner sind also tatsächlich weg. Ringen und ich sind plötzlich eines. Ich setze Griffe an, von denen ich bisher noch nicht mal etwas wußte. Trotz Training greife ich so fest zu, daß Florian aufheult und ich einen riesigen Schreck bekomme, weil ich dachte, ich hättte ihm die Rippen gebrochen. Ich bekomme mit, wie Nils und Dimitri miteinander flüstern und anerkennend zu mir rüber nicken. Es macht mich ein bißchen stolz. Aber gleichzeitig weiß ich, daß ich so meinen Frust loswerden kann. 'Dich hatte ich schon mal.' Ich glaube, wenn ich Heiko nochmal auf einer Matte in die Finger bekommen würde, dann würde ich ihn bis zum Gehtnichtmehr zusammenfalten. Aber das Seltsame ist: nicht um ihn zu demütigen, um ihn zubestrafen. Nein, verdammt nochmal, und das ist ja der Mist: um ihn zu beeindrucken. Vielleicht einzig und allein, um ihn zu beeindrucken. Vielleicht um für einen kleinen Moment diesen erstaunten und zugleich anerkennenden Blick einzufangen, den er hatte, als ich ihn schulterte.
Ich habe gerade Robert angerufen und ihm gesagt, daß Heiko weg ist. Daß nichts mehr passiert ist, absolut nichts mehr.
"Gut so", hatte er gesagt. "Vielleicht geschieht dir das mal ganz recht."
"Wie meinst du das?" wollte ich wissen.
"Vielleicht holt dich das ein klein wenig wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Vielleicht wirst du ja ein bißchen weniger arrogant."
Das traf mich, das trifft mich immer noch. Robert meint also, ich bin arrogant? Wo bin ich denn arrogant? Ich bin durcheinander, ich kriege die meisten Sachen im Moment nicht auf die Reihe. Aber arrogant? Das Dumme ist, daß mir die besten Antworten oder auch Fragen immer erst hinterher einfallen. Ich habe jedenfalls beschlossen, daß ich nicht arrogant bin und daß sich Robert irren muß.

Dienstag, 22. April 1997

22. April

"Was willst du denn? Dich hatte ich doch schon mal."
Ich stand da und blickte Heiko mit offenem Mund nach. Was war denn das für ein Spruch? Und vor allem: was ist denn das für ein Arsch? Ich meine, er hat das total lieb gesagt, keine Spur von Arroganz eher Erstaunen. Je länger ich darüber nachdenke, desto durchgeknallter finde ich das.

Wir waren beim Krafttraining und Nils mußte früher weg. Die ganze Zeit über habe ich mißtrauisch jeden Blick beobachtet. Aber da war nichts zwischen Nils und Heiko, oder wenn da was war, sind die beiden die perfekten Schauspieler. Heiko war wie immer: total lieb und nett. Wir blödelten und er guckte immer wieder zu mir rüber. Jedenfalls war Nils irgendwann weg und Heiko und ich trainierten alleine weiter. Auf dem Heimweg begleitete ich ihn noch ein wenig und irgendwie, fast ganz automatisch griff ich nach seiner Hand. Er blieb stehen und schaute mich mit großen Augen an und sagte diesen Satz. So etwas habe ich noch nie gehört, so was von daneben. "Was willst du denn? Dich hatte ich doch schon mal."

Ich war sprachlos. Ich war den gesamten Rest des Weges einfach nur sprachlos. Und ich glaube, er hat das noch nicht mal mitbekommen. Weder daß sein Satz total daneben war noch meine Sprachlosigkeit. Er mußte in eine andere Straße einbiegen. "Na dann tschüß", sagte er, "vielleicht hören wir ja noch mal voneinander. Oder vielleicht sehen wir uns bei einem Wettkampf." Er grinste, buffte mich leicht auf die Schulter, drehte sich um und ging davon. Einfach so, keine Umarmung, nichts. Dreh dich um, dreh dich wenigstens EINMAL um, dachte ich. Ich flehte ihn förmlich in Gedanken an. Nichts, er drehte sich nicht um. Er bog um die Ecke und war verschwunden. Und ich, ich stand da, hatte Tränen in den Augen und schluchzte. Ich heulte tatsächlich und mir liefen wirklich die Tränen über die Wangen. Was hatte dieser Typ mit mir gemacht? Was nur? Ich stand bestimmt eine halbe Stunde da und heulte nur. Irgendwann schaffte ich es, langsam nach Hause zu tapern. Es ist immer noch alles so verworren.

Montag, 21. April 1997

21. April

"Ich war mit den Kölnern unterwegs und bin dann noch mit Heiko in die Tofa gezogen."
Es war, als hätte mir jemand einen Schlag auf den Kopf gegeben.
"Mit wem?" schrie ich eine Idee zu laut.
"Mit Heiko, du weißt doch, der gehört doch auch dazu."
"Ich weiß, wer Heiko ist, ich war nur etwas, etwas, ich bin nur...", plötzlich fing ich an zu stottern. In meinem Kopf beganng sich wieder alles zu drehen.
"Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du warst nicht da. Und erst als ich zu Hause war, habe ich den Zettel gefunden, daß du bei Doris bist. Aber da war es schon nach zwölf."
"Ihr scheint euch ja prächtig amüsiert zu haben, wenn du erst so spät nach Hause kommst." Ich versuchte ruhig zu bleiben, doch meine Stimme zitterte. Ich merkte, wie ich anfing zu kochen.
"Ja, es war wirklich nett", meinte Nils, "wir haben eine halbe Ewigkeit miteinander gequatscht und so." Ich schaute ihn an. In seinen Augen war ein merkwürdiges Leuchten zu sehen.
"Und soll ich dir mal was sagen? Er hat mir erzählt, daß er schwul ist."
In meinem Magen begann es zu rumoren. Warum kam mir das alles so vor wie in einem Film, dessen Wiederholung ich sah?
Ich blickte Nils nur an, ich sah ihn einfach nur an und das schien ihn zu irritieren: "Was ist denn?" fragte er.
"Er ist schwul, und das hat er dir einfach so gesagt?"
"Ja, ich fand das ja auch ein bissele seltsam, aber er hat von einer schwulen Jugendgruppe in Köln erzählt, "My Way" oder so ähnlich, wo er mitmacht."
Ich blickte ihn wieder an, versuchte seine Gedanken zu lesen. Die ganze Zeit lag mir diese Frage auf der Zunge, diese eine Frage, deren Antwort wahrscheinlich alles verändern würde. Doch ich stellte sie nicht. statt dessen schaute ich Nils nur an und versuchte das Leuchten in seinen Augen zu deuten.
"Du bist so komisch", sagte er.
"Ich bin komisch?" fragte ich gereizt.
"Hey, wirst DU jetzt etwa eifersüchtig? Nur weil ich mich mit einem anderen schwulen Jungen unterhalten habe?"
Jetzt, wo ich das aufschreibe merke ich erst, wie leicht ihm auf einmal das Wort 'schwul' schon zum zweiten Mal über die Lippen gekommen war. Ich WAR eifersüchtig, aber nicht, weil er sich mit einem anderen Jungen unterhalten hatte, nicht mal, weil er sich mit Heiko unterhalten hatte. Ich hatte Angst, Angst, daß er mit Heiko das gleiche erlebt hatte, wie ich mit ihm. Doch ich konnte ihn ja schlecht fragen.
Ich versuchte so belanglos wie möglich zu klingen: "Und was habt ihr sonst noch so gequatscht."
"Nichts besonderes weiter. Ein bissele übers Ringen, aber er ist ja da nicht so toll, finde ich und nix weiter. Ich fand das eben nur total eigenartig, daß alle Leute in seinem Verein wissen, daß er homosexuell ist."
"Hast du ihm etwa erzählt, daß..."
"Nein, was denkst du denn? Natürlich nicht. Ich habe ihm nur gesagt, daß ich nichts gegen Schwule habe, das ist ja nicht mal gelogen. Aber das war auch alles.
Ich konnte Nils nicht mal böse sein. Wesentlich mehr hatte ich Heiko ja auch nicht gesagt und ich verfluchte mich in diesem Moment, daß ich so feige war.
Ich schaute Nils immer noch an: verschieg er mir was? Hatte er etwa auch Sex mit Heiko gehabt? Ich weiß es nicht, verdammt noch mal ich weiß es nicht und das macht mich wahnsinnig. Aber vielleicht würde es mich noch viel mehr wahnsinnig machen, wenn ich wüßte, daß er was mit ihm hatte. Mein Nils, mit meinem Heiko. Das ist doch wirklich alles daneben.
Das Training verlief heute ziemlich unspektakulär. Heiko sagte uns brav guten Tag, schenkte mir eine Zehntelsekunde mir Augenzwinkern und war dann wieder im allgemeinen Trainingsgewusel untergegangen. Ich schaffte es wirklich nicht, ihn irgendwie wenigstens für eine Sekunde alleine zu sprechen. Ständig waren irgendwelche Leute um uns herum. Das machte mich wütend, richtig wütend, so daß ich, als ich ihm zum Trainingskampf zugeteilt wurde, so aggressiv war, daß ich ihn nach einer Minute geschultert hatte. Ich habe Heiko geschultert! Die anderen standen fassungslos am Mattenrand und schauten mich an: "Was ist denn mit dir los? Hast du was genommen zum Doping?" wollte Nils wissen. "Mir scheint eher", meinte Dimitri, "unser Anfänger scheint langsam den richtigen Kampfgeist zu entwickeln."
Ich glaube in dem Moment hätte ich es mit jedem aufgenommen. Heiko grinste mich an. Ich hätte ihn in dem Moment einfach nur in den Arm genommen und geküßt. statt dessen verschwand ich in der Umkleide. Einfach nur, um alleine zu sein. Vielleicht auch hatte ich ein wenig Hoffnung, daß Heiko nachkommen würde und wir wenigstens einen Augenblick mieinander alleine reden konnten. Aber er kam nicht. Ich schaute mich im Spiegel an: Wer bin ich, dachte ich. Wer bin ich, was mache ich? Ist das alles nur ein Film, der hier abläuft? Hat sich das jemand ausgedacht, um mich zu ärgern, um mir irgendeine Prüfung zu stellen? Im Spiegel blickte mich mein Gesicht an. Tim, den ich seit so vielen Jahren im Spiegel gesehen habe, Tim, der Stück für Stück erwachsen ist, der sich schon ein paarmal rasieren muß, der mit anderen Jungs rummacht, wieviele es bisher waren kann er nicht mal so spontan von einer auf die andere Sekunde sagen. Tim, der einen Freund hat, der eigentlich doch so glücklich ist und gleichzeitig in einen komischen Typen aus Köln verknallt ist. Einen Typen, der sich anscheinend einen Dreck um ihn schert, oder doch wenigstens nicht viel wie ich gerne möchte. Ich blickte in den Spiegel und versuchte alle Wahrheiten der Welt aus ihm herauszulesen. Doch da war nichts. Alles was ich sah war ich, Tim Berger, 17 Jahre alt, schwul und verwirrt wie noch nie.
"Ach hier steckst du."
Ich drehte mich um. Nils stand hinter mir: "Ist alles in Ordnung?"
"Ja, ich dachte ich hätte irgendwas im Auge, aber da ist nichts."
Er nahm menen Kopf in seine Hände und küßte mich auf die Stirn: "Ich hab dich lieb", flüsterte er zärtlich. Nils, mein Nils. Mein Herz quoll über und ich drückte ihn ganz fest.

Sonntag, 20. April 1997

20. April

"Ok, dann treffen wir uns heute Nachmittag auf dem Marktplatz."
Ich habe Robert angerufen. Ich wußte nicht mehr weiter. Ich MUSS mit jemandem reden. Die ganze Nacht habe ich wachgelegen. Ich muß jemandem sagen, was in mir vorgeht sonst werde ich noch wahnsinnig. Mit Doris kann ich nicht über diese Geschichte sprechen, sie würde mir den Kopf abreissen, nie wieder ein Wort mit mir reden und das alles wahrscheinlich sogar zu recht.
Das Schlimme ist nur, ich bin immer noch ganz weg und dieses Gefühl ist viel stärker als mein schlechtes Gewissen.
Robert kam angeschlurft und wir taperten ins Montepulciano. Ich war wirklich dankbar, daß er extra aus Stuttgart hergekommen war. Ich sagte ihm, daß ich nicht mehr weiter wüßte, und dann erzählte ich ihm die ganze Story. Es ist total seltsam. Da saß ich mit einem eigentlich absolut Fremden und ich erzähle ihm, wie ich meinen Freund betrogen habe, daß ich mich in einen anderen Typen verknallt habe und daß ich absolut nicht mehr weiter weiß. Roberts Blick verdüsterte sich, je mehr ich ihm erzählte.
"Wie soll denn das jetzt weitergehen?" wollte er wissen.
"Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung."
"Wie lange bleibt dieser Typ noch hier?"
"Ich glaube, nur noch bis Mittwoch."
"Und was bedeutest du ihm?"
"Wie soll ich denn das wissen? Wir haben seitdem nicht mehr miteinander gesprochen."
"Du bist entweder total bekloppt oder wirklich hoffnungslos verknallt."
"Toll, auf die Idee bin ich auch schon gekommen."
"Wobei es bei beiden Optionen auf's Gleiche herauskommt. Vergiß ihn. Vergiß ihn und zwar ganz schnell. Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du einen Freund. Ein sehr lieben Freund, der vielleicht mit seinem eigenen schwulen Bild noch nicht ganz so weit ist, daß er wie dieser Heiko in eine schwule Jugendgruppe rennt, aber doch auf jeden Fall jemand, der dich ganz heftig liebt. Und den du wahrscheinlich bis vor Kurzem auch geliebt hast."
"Ich liebe ihn noch immer."
"Umso klarer muß doch deine Entscheidung sein. Meine Güte, komme doch mal runter von deiner Wolke 7. WAS, um alles in der Welt willst du eigentlich mehr? Du lebst in diesem piefigen schwäbischen Dorf, das noch spießiger und langweiliger ist als Stuttgart und du hast einen Freund. Einen Freund!" Fast schrie er es heraus. "Das willst du auf's Spiel setzen für einen Typen, der ein paar hundert Kilometer weit weg lebt, der dich nicht mal geküßt hat beim Sex und der danach gleich wieder zur Tagesordnung übergegangen ist? Man müßte dich nehmen und schütteln!"
Er hatte sich richtig in Wut geredet, sein Gesicht war knallrot geworden. Er hat ja so recht. Das Dumme ist nur, daß meine Gefühle für Heiko dadurch nicht weniger werden. Wenigstens kommt so allmählich wieder etwas Ordnung in meinen Kopf.
"Soll ich es Nils sagen?"
Robert zuckte mit den Schultern: "Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn ja nicht. Aber von dem, was du erzählst würde ich fast vorschlagen, daß du ihm nichts von der Sache erzählst."
Das überraschte mich. Robert, der Wahrhaftige riet mir, Nils nichts zu sagen.
"Wenn er schon so einen Terz gemacht hat, nur weil wir zusammen in Stuttgart im Café gequatscht haben, dann kann man sich ja ausmalen, was passiert, wenn du ihm die Sache mit Heiko erzählst. Und dann hast du nichts mehr: dein Nils ist weg und dein großer, toller Heiko sitzt irgendwo in Köln-Worringen und greift sich den nächsten Typen. Ich weiß, das klingt jetzt total verlogen, aber ich denke, das wird die beste Lösung sein."
Wir saßen uns schweigend gegenüber. Meine Gedanken kreisten um alle möglichen und unmöglichen Optionen. Ja ich dachte sogar für eine Sekunde daran, wie es wäre, nach Köln zu ziehen. Absoluter Schwachsinn, aber für einen Moment schoß es mir eben durch den Kopf.
Zum Abschied nahm er mir noch das Versprechen ab, daß ich ihn spätestens in einer Woche anrufen soll und ihm erzählen soll, wie es weitergegangen ist.
Ich brachte ihn noch bis zum Bahnhof. Von dort rief ich dann Nils an, doch der war nicht zu Hause. Ich wollte ihn eigentlich fragen, ob er mit zu Doris kommt. Seine Mutter meinte, sie würde es ihm ausrichten und vielleicht kommt er ja nach.
Doris saß mit ihrem Baby im Arm auf der Bank vor dem Haus. In der Abendsonne sah die Szene richtig ein wenig kitschig aus. Das Baby sieht von Tag zu Tag mehr nach echtem Baby aus. Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt. Doris meint, sie wird erst frühestens in zwei Wochen wieder zur Schule können. Sie weiß noch nicht, wie das mit dem Schuljahr dann wird. Ob sie das alles nochmal machen muß oder wie. Ich finde den Gedanken, daß wir gar keine gemeinsamen Kurse haben werden nicht so toll. Aber vielleicht packt sie es ja doch noch.
"Und was ist mit nun diesem Typen aus Köln?"
Am liebsten hätte ich geantwortet: 'Was soll denn mit dem sein', aber das brachte ich nicht fertig, sie so anzulügen.
"Ich versuche, ihn zu vergessen", sagte ich. Und das war noch nicht einmal gelogen. Doris blickte mich lange an. Mir wurde richtig unwohl dabei, vielleicht kann sie ja Gedanken lesen. "Ich hoffe, du tust Nils nicht weh", sagte sie. "Ich hoffe es für ihn und ich hoffe es für dich. Und für uns letztlich auch. Denn wenn du irgendwelchen Mist baust, dann kannst du sicher sein, kenne ICH dich nicht mehr."
Zum ersten Male seit langer Zeit sah ich wieder so etwas wie ein zorniges Funkeln in Doris' Augen.
Ich umarmte sie. "Ich finde es lieb, daß du so auf uns aufpaßt", murmelte ich.
"Wer weiß, vielleicht können Schwule ja irgendwann mal heiraten. Dann möchte ICH auf jeden Fall Trauzeugin sein."
"Das wirst du, hundertprozentig!"

Auf dem Heimweg hoffte ich, daß mir vielleicht ja Nils doch noch entgegenkommt. Aber nichts war. Zu Hause rief ich noch mal bei ihm an. Aber diesmal ging auch nicht seine Mutter ans Telefon. Seltsam, es ist jetzt schon fast zehn und er ist nicht da. Wo ist er denn?

Samstag, 19. April 1997

19. April

"Ich bin in einer schwulen Jugendgruppe in Köln."
Ich muß wohl wie ein Fisch mit offenem Mund dagestanden haben, denn Heiko fragte, ob ich ihn verstanden hätte. Ich nickte nur noch. Das war nicht fair. Das war absolut nicht fair. Da stand dieser Typ, dieser absolut süße und niedliche Typ und erzählte mir, daß er in einer schwulen Jugendgruppe wäre. Einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Ich konnte das nicht glauben! Mein Hals wurde trocken, ich konnte nichts sagen.
"Hast du etwa was gegen Schwule?" fragte er.
"Nein", brachte ich gerade noch hervor. Mehr schaffte ich nicht. Kein "Ich bin auch schwul", kein "Und das hier ist mein Freund."
"Na, ich geh mal ein paar Frikadellen holen", sagte er und zottelte von dannen. In meinem Kopf drehte sich alles und das lag nun wirklich nicht am Bier. Wettkampffrei. Eine kleine Party im Vereinsheim. Fleischer Schipple hatte Frikadellen und Würstchen spendiert. Das Bier tauchte wie immer auf wundersame Weise auf. Schließlich kam Heiko zurück. Wir redeten, wir redeten und redeten. Ich bekomme gar nicht mehr zusammen, worüber wir alles geredet haben. Ab und zu warf ich einen Blick zu Nils. Der zwinkerte mir zu und unterhielt sich weiter mit allen möglichen Leuten. Jedenfalls war er nicht eifersüchtig. Und ich quatschte mit Heiko. Zwischendurch trafen sich unsere Blicke und wir schauten uns direkt in die Augen.
"Ziemlich warm und verraucht hier", sagte er nach einer Weile, "ich verstehe gar nicht, wie Sportler zu viel qualmen können. Laß uns doch ein bißchen raus gehen."
Ich nickte. Draußen war es angenehm. Ich sog die frische Luft in meine Lungen. Ich versuchte einen Moment lang, das, was passieren würde aus meinem Kopf zu verscheuchen. Nein, in dem Augenblick, als wir uns in die Augen gesehen hatten und rausgingen war alles eigentlich schon klar. Es war wie ein Film, von dem man schon vorher genau weiß, wie er weitergeht. Und ich konnte nichts dagegen machen, es passierte einfach. Ich spürte seinen Arm um meiner Hüfte, mekrte, wie er mich zu sich zog, spürte seinen Körper, wie er sich an meinen drückte. "Na, ist es das, was du willst?"
Verdammt, normalerweise wäre ich bei einem solchen Satz im Viereck gesprungen, aber beim ihm, bei Heiko, schmolz ich nur dahin. Ich spürte seinen Schwanz und ich merkte, wie seine Hand in meiner Hose verschwand. Es ging schnell, so schnell, daß ich gar nicht mehr zusammenbekomme, was eigentlich im Einzelnen passiert ist. Ich weiß nur noch, daß er jedesmal, wenn ich ihn küssen wollte er den Kopf weggedreht hat. Und dann explodierte ich. Es war einfach geil. Total außer Atem hing ich in seinen Armen. Heiko lächelte mich an: "Alles ok?"
Ich brachte nur ein Nicken hervor.
"Na dann", sagte er grinsend und ging wieder in Richtung Vereinsheim.
Es dauerte eine Weile bis ich mich berappelt hatte. Was war passiert? Was hatten wir gemacht? Was hatte ICH gemacht? Verdammt noch mal, was ist los mit mir? Mein Kopf ist total in Unordnung. Ich bin immer noch total aufgedreht, könnte wahrscheinlich stundenlang durch die Gegend rennen und wäre immer noch munter. Ich schwebe. Das ist es. Ich schwebe auf einer seltsamen Wolke. Als ich wieder reinkam saß Heiko mit den anderen Jungs aus Köln zusammen. Er zwinkerte mir zu. Ich hatte Mühe, mich zusammenzureissen. Ich guckte mich um, entdeckte Nils und setzte mich zu ihm.
"Was ist denn mit dir los?" fragte er.
"Wieso?"
"Du strahlst ja so."
"Echt? Das liegt bestimmt am Bier." Ich kam mir so schäbig vor. Aber was um alles in der Welt sollte ich denn machen?
"Wollen wir ein bißchen ruasgehen? Hier drinnen krieg ich echt noch zu viel. Fehlt eigentlich nur noch Max, der rumkifft."
Ich nickte und plötzlich stand ich schon wieder draußen.
"Laß uns ein bißchen laufen, ok?" Ich wollte um alles in der Welt, daß wir jetzt nicht auch noch anfingen hier rumzumachen. Wir gingen in Richtung Römerpark. Irgendwann, ganz automatisch griff ich nach seiner Hand. Ich drückte sie, drückte sie. Warm und weich. Ich drückte sie ganz fest. Er ließ los, drehte sich zu mir und legte seine Arme um meine Hüften: "Hey, was ist los mit dir?"
Ich schaute ihn an, blickte in seine Augen. Diese Augen, die immer noch dieses Feuer versprühten, in die ich früher so oft eingetaucht war. Es waren die gleichen Augen, der gleiche Blick. Nur ich, ich konnte nicht mehr eintauchen. Plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Ich weiß nicht mehr wieso. War es, weil ich mich schämte? War es, weil ich wirklich so total woanders war? Ich drückte ihn ganz fest an mich. Ich wollte es ihm sagen, in dieser Sekunde wollte ich es ihm sagen. Ich wollte ihn nicht noch einmal belügen oder was verschwiegen, wie damals das mit Maik. Er strich mir über den Kopf. Wie einem kleinen Kind und auf einmal konnte ich nichts mehr sagen. Ich war wie ein kleines Kind. Ich ließ mich von ihm festhalten während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Was ist das, was ist das um alles in der Welt nur für eine Sache, die hier im Moment abgeht?
"Ich bin bei dir", flüsterte er ganz sanft in mein Ohr. "Ich bin immer bei dir, hörst du?"
Ich nickte. Was sollte ich tun. Ich konnte ihn nicht so vor den Kopf stoßen und es ihm sagen. Ich konnte es nicht. Verdammt, ich bin so feige!

Wir gingen in Richtung nach Hause. Arm in Arm. Plötzlich war uns alles egal. Ob uns jemand sah. Es sah uns niemand. Zum Abschied sah mir Nils lange in die Augen. "Ich weiß nicht, was mit dir ist", sagte er und seine Stimme klang total sanft, "aber ich möchte daß du weißt, daß ich da bin."
Statt einer Antwort drückte ich ihn ganz fest.

Jetzt sitze ich hier und in meinem Kopf ist eine riesige Unordnung. Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit nur noch um Heiko. Was ist denn das, was mich an ihm so fesselt? Wenn ich ganz ehrlich bin, war der Sex geil aber ich habe mit Nils schon viel geileren Sex gehabt. Ok, er sieht niedlich aus, wirklich total süß. Aber das tut Nils doch auch. Wir haben uns lange unterhalten, zusammen gelacht, uns total gut verstanden. Aber verdammt, das ist doch alles das, was ich auch mit Nils habe. Was ist es denn dann? Ich weiß es nicht.  

Freitag, 18. April 1997

18. April

"Bist du denn völlig narrisch geworden?" kreischte Doris. Ich bin nach der Schule zu ihr gefahren und habe ihr die Sache mit Heiko erzählt. Wobei...welche Sache überhaupt? Doris jedenfalls hat mir gehörig die Hölle heiß gemacht, so von wegen, daß ich ihn mir aus dem Kopf schlagen soll und das alles: "Weißt du noch, wie du vor einem Jahr gejammert hast, du willst einen Freund und bla und blub? Jetzt hast du einen, also, setze das doch nicht auf's Spiel."
"Ich setze gar nichts aufs Spiel. Ich glaube nur, daß ich verknallt bin."
"Verknallt, verknallt in einen Typen aus Köln. Von dem du nichts weißt. Von dem du nicht mal weiß ob er schwul ist. Ich glaube ich krieg nen Föhn." Zum ersten mal habe ich erlebt, daß Doris laut wurde. Ihre Stimme überschlug sich fast: "In K-Ö-L-N!"
Ich saß echt da wie ein Häufchen Elend. Wie soll sie es denn verstehen? Ich kapiere es selber ja nicht.
Ich bin völlig wirr im Kopf. Und ich kriege Heiko da nicht raus. So sehr ich es ach versuche. Immer wieder sehen ich sein Lächeln, höre ich seine Stimme.

Der Abend mit Benji war ganz nett. Er hat mich wenigstens ein bißchen abgelenkt. Ich weiß aber gar nicht mehr, was er alles erzählt hat, von irgendwelchen Internetseiten über's Ringen und so weiter. Und über ein Mädel, was er kennengelernt hat. Das alles rauschte an mir vorbei, aber es war trotzdem nett. Ich meine, der Typ ist echt total lieb, mehr aber auch nicht.

Zu Hause angekommen wollte ich eigentlich noch Nils anrufen, aber ich ließ es dann doch. Was hätte ich ihm erzählen sollen? Nein statt dessen sitze ich hier und versuche, mein Gehirn neu zu mischen. Es klappt nicht!

Donnerstag, 17. April 1997

17. April

"Tim? Tim!" Nils rüttelte mich: "Verdammt noch, wo bist du denn mit deinen Gedanken?"
"Das wüßte ich auch gerne. Ich weiß nicht, ich glaube, ich bin urlaubsreif."
Ich starrte in Richtung Umkleide. Irgendwann würde Heiko in der Tür erscheinen. Und ich wußte nicht, was ich tun oder denken soll. Ich fühlte mich auf der einen Seite total aufgeregt und auf der anderen Seite total fies Nils gegenüber. Daß ich überhaupt so was für jemanden anders empfinden kann, ich erschrecke wirklich vor mir selber. Das kann doch nicht wahr sein. Dann kamen tatsächlich Heiko und die anderen Kölner rein.
"Er ist total niedlich", rutschte es mir heraus. Nils guckte mich mit großen Augen an: "Wer?" Shit, ich biß mir auf die Zunge. Was hatte ich denn da wieder von mir gegeben. Bin ich denn völlig durchgedreht?
"Wen meinst du denn?"
Aus dieser Nummer kam ich nicht mehr raus, also trat ich die Flucht nach vorn an: "Na der Heiko."
"Ach so. Na geht so. Findest du den echt niedlich?"
"Na geht so", echote ich scherzhaft.
"Wenn ich da was mitkriege", drohte er lachend und warf sich auf mich. "Du weißt, du hast keine Chance gegen mich."
Nils schien auf einmal seltsam fremd zu sein. Weit weg. Ich riß mich zusammen und kitzelte ihn: "Da ist nichts mitzukriegen."
Ich hatte gelogen. Heiko und ich wurden gemeinsam zum Training eingeteilt. Es ging erstaunlich gut. Ich wirbelte herum, schaffte ein paar richtig gute Griffe, die ihn verblüfften. Am Ende des Trainings saßen wir uns keuchend gegenüber und blickten uns in die Augen.
"Nicht schlecht", meinte er anerkennend.
"Danke. Ich bin ja noch nicht so lange dabei. Erst so etwa ein Jahr."
"Oh, dann bist du ja wirklich richtig gut."
Ich merkte, wie dieser Satz wieder mein Blut in den Kopf schießen ließ. Wenn Dimitri oder selbst Nils das gesagt hätten, hätte es für mich nicht so eine Bedeutung gehabt, wie eben. Wir quatschten eine Weile, bis Nils plötzlich in vollen Klamotten vor uns stand und meinte, er würde jetzt gehen. SHIT! Ich bekam von einer Sekunde auf die andere ein total schlechtes Gewissen und meinte, ich würde gleich kommen. Rasch verabschiedete ich mich von Heiko und raste in die Umkleide. Ich drehte mich noch mal um: Heiko schaute mich an.

Nils wartete draußen und musterte mich: "Sag bloß, du findest den wirklich niedlich?" fragte er. Ich merkte, wie er versuchte, ganz neutral zu klingen, doch es waren ein Hauch Vorwurf und auch ein bißchen Angst in seiner Stimme. Ich merkte, wie ich gleich wieder lospoltern wollte, doch ich riß mich zusammen. statt dessen zog ich Nils in einer Ecke und gab ihm einen dicken Kuß. 'Das ist dein Freund. Hier gehörst du hin.' Ich versuchte mich selbst zu überzeugen. Es klappte nicht. Dafür klappte es bei Nils. Ich hoffe es jedenfalls.

Mittwoch, 16. April 1997

16. April

"Da sind die Kölner", meinte Nils.
Ich konnte nicht so richtig gucken, weil ich gerade mitten in einem Hüftschwung steckte und unsanft auf dem Boden landete. Als ich mich wieder etwas berappelt hatte, schaute ich auf und sah zwei Leute am anderen Ende der Halle. Aber da mir die ganze Angelegenheit ziemlich egal war, übte ich weiter den Hüftschwung. Bis sie schließlich näher kamen. Dimitri begrüßte sie und auch Flo schien sie zu kennen. Und dann guckte ich richtig hin und von einer Sekunde auf die andere traf mich ein Blitz. Es gibt Leute, die können in einen Raum kommen und fallen nicht weiter auf. Und dann gibt es Leute, die kommen irgendwo rein und sind irgendwie so wie ein strahlender Diamant in einem Haufen Dreck. Herrje, das klingt jetzt aber total schrill. Auf jeden Fall, dieser eine Typ ist total süß. Ich weiß gar nicht, was ich an ihm so toll finde. Sind es seine Augen? Sein Gesicht? Ich weiß es. Ich weiß es seit dem Moment als sich unsere Blicke zum allerersten Male trafen: es ist sein Lächeln. Es ist so ein total liebes und offenes Lächeln aber gleichzeitig doch etwas unsicher, so sieht es jedenfalls aus. Seine Augen strahlen dabei. Ich weiß nicht wie, ich stand auf und ging auf ihn zu. Irgendwas stotterte ich, ich weiß nicht mehr was. Und er, er guckte mir in die Augen und lächelte. Mir wurde heiß und ich merkte, wie ich einen knallroten Kopf bekam.
"Ich bin Heiko", sagte er.
"Aha." Ich brachte tatsächlich nicht mehr als 'aha' heraus. Red mit ihm, verdammt noch mal, sag was, irgendetwas, dachte ich. Mir fiel nichts ein. Zum Glück dauerte diese peinliche Situation nicht lange, denn wir mußten alle wieder auf die Matte.
Ich konnte nicht anders. Ich mußte immer wieder zu ihm rübergucken und genau in den Momenten guckte er auch. Das ist doch nicht normal so was. Ich meine, was passiert denn hier? Zum Glück hat er mit Flo trainiert. Ich glaube, ich hätte keinen vernünftigen Griff zustande gebracht.
Als er dann nach dem Training den anderen Kölnern in Richtung Jugendherberge taperte, guckte er mich vorher noch mal an und seitdem bin ich noch viel verwirrter als vorher.
"Du bist so still", meinte Nils auf dem Heimweg.
"Ach ich weiß auch nicht. Vielleicht bin ich einfach nur ein bißchen fertig von dem ganzen Training und so."
Er blickte mich besorgt an: "Hast du dir was getan?"
"Nein, nichts passiert, noch alles dran."
"Da hoffentlich, ich will schließlich einen kompletten Tim im Urlaub haben."
Unser langer Kuß zum Abschied. Verdammt, was ist mit mir los. Es war schön, aber es fehlte etwas, wo war das Kribbeln? Wo war das Drehen im Kopf?
Ich verstehe das nicht! Was passiert mit mir? Mir geht auf einmal dieser Heiko nicht mehr aus dem Kopf. Das geht doch nicht.

Dienstag, 15. April 1997

15. April

"Ach nein, doch nicht mit diesem Kasper. Mit dem kannst du dich alleine treffen."
"Kasper? Ich finde ihn ganz nett. Und er ist NICHT schwul und ich will auch NICHTS von ihm."
Nils schaute mich reichlich verwirrt an. Aber irgendwann schien er zu begreifen, worauf ich hinaus wollte und lächelte. Ich glaube, wenn wir nicht auf dem Schulhof gestanden hätten, hätte er mich umarmt.
"Es tut mir leid", sagte er, "natürlich kannst du dich mit ihm treffen. Ich weiß, daß du treu bist."
Oha, das klang ja richtig bewegend. Aber irgendwie hatte er das alles immer noch nicht verstanden, daß das gar nichts mit treu oder nicht treu zu tun hat. Ich meine mit Doris treffe ich mich doch auch, warum soll ich mich nicht auch mit anderen Jungs treffen, egal ob schwul oder nicht, wenn ich auf jeden Fall nichts von ihnen will? Ich bin ja nur wirklich froh, daß ich ihm nichts von der Sache mit Maik erzählt habe. Ich glaube, Nils wäre noch schlimmer ausgerastet.

Naja, auf jeden Fall kommt er jetzt nicht mit, was mir eigentlich auch ganz recht ist. Das hätte ja eh nichts gebracht, wenn die beiden sich nicht leiden können. Wobei Benji wahrscheinlich gar kein Problem mit Nils hat, eher umgekehrt Nils mit Benji. Ach Shit, was mache ich mir eigentlich für verrückte Gedanken?

Montag, 14. April 1997

14. April

"Wollen wir uns nicht mal wieder irgendwann treffen?"
Das war Benji. Im denkbar schlechtesten Moment, denn ich war gerade auf dem Weg zum Training. Er ist wieder total auf dem Austausch-Ringer-Trip mit den USA. Und dann hat er noch irgendwas von einer Internetseite übers Ringen erzählt, die er macht, oder machen will. Ich bin nicht so ganz schlau geworden. Ich habe mich jedenfalls für Freitag mit ihm verabredet und habe ihm gleich gesagt, daß Nils mitkommt. Ich will nicht schon wieder irgendeinen Streß haben mit Nils, weil er meint, ich betrüge ihn. Also muß er eben mitkommen. Dummerweise habe ich es vergessen, ihm gleich beim Training zu sagen. Ja, wirklich vergessen. Ich habe mir jetzt extra einen Zettel geschrieben, damit ich's nicht vergesse.

Dimitri hat angekündigt, daß ab Mittwoch zwei Leute aus Köln mit uns trainieren werden, sozusagen als Austauschprogramm. Nun ja, es gab die üblichen Macho-Sprüche von wegen "Die machen wir schon fertig" und so.

Sonntag, 13. April 1997

13. April

"Na nett, daß sich der Herr auch mal die Ehre gibt."
Ich kann Moms Ton manchmal echt nicht ab. Sie tut gerade so, als wäre ich nie zu Hause. Naja, jedenfalls war heute Grillen angesagt und es war schon echt lustig. Es waren zwei von Moms Kolleginnen gekommen und es war ein wirklich angenehmer Nachmittag. Vor allem, weil das Wetter nach dem Regen gestern endlich wieder besser zu werden scheint.
Am Abend habe ich mich dann noch etwas mit Nils getroffen. Wir sind einfach so durch die Gegend gezogen. Es war schön.

Samstag, 12. April 1997

12. April

"Du kannst halt nicht immer gewinnen."
Das sagte Nils und es hätte mich trösten sollen oder können. Aber das tat es nicht. Vor allem weil ich der Meinung war, daß es nur deswegen war, weil der Idiot von Mattenrichter eine Aktion von mir nicht gesehen hat und darum habe ich auch keine Punkte bekommen und so habe ich mit einem Punkt Rückstand verloren. Jedenfalls war ich den ganzen Rest vom Tag total schlecht gelaunt und habe alle nur angemault. Sogar Nils, was mir echt leid tut. Aber ich glaube, er hat es auch verstanden. Auf der Rückfahrt saßen wir schweigend nebeneinander, ich starrte in den Nieselregen hinaus und fühlte sein Knie an meinem. Ich möchte einfach nur bei ihm sein. Kuscheln, Küssen und Sex haben. Ich bin so froh, daß es ihn gibt.

Nachdem wir angekommen sind, haben wir beschlossen noch in die Tofa zu gehen. Es war ganz ok, weil wir noch ein paar Leute aus der Schule getroffen haben und ich mich mit Bier zuschütten konnte. Und jetzt bin ich so müde, daß mir fast schon die Augen zufallen.

Freitag, 11. April 1997

11. April

"Die Reiseunterlagen können sie so etwa vier Wochen vor Reisebeginn abholen."
Wow, wir haben gebucht! Nils und ich fahren zusammen in die Ferien, nach Korsika, nach Moriani Plage! Ich bin so aufgeregt und ich freue mich so sehr. Wir werden den ganezn Tag lang am Strand liegen, im Meer baden oder einfach nur ihm Bett verbringen. Ohne Angst zu haben, daß irgendjemand herein kommt. Ohne, daß wir auf die Uhr gucken müssen, wann man aufstehen muß. Am liebsten würde ich schon jetzt gleich losfahren.
Wir sind nach dem Reisebüro noch ein bißchen durch die Gegend geradelt. Und hatten Sex auf unserer Lichtung. Ich war so geil, ich konnte nicht mehr anders. Die ganzen Tage, wo nichts passiert war, die ganzen Tage, wo wir nur gekuschelt oder geküßt haben. Nein, das klingt jetzt total ungerecht. Aber ich meine, ich wollte ihn einfach ganz und gar haben, ich wolte kommen und wollte auch daß er kommt. Es war toll, einfach nur geil. Wir lagen da, nebeneinander in der Sonne und guckten in den Himmel.
"Du bist verrückt", sagte Nils. Seine Wangen glühten.
"WIR sind verrückt", korrigierte ich ihn lachend.
Ich gebe es ja zu. Es ist schon verrückt. Aber es war toll. Also, warum eigentlich nicht?
Ohjeh, da fällt mir ein, daß wir morgen einen Auswärtskampf haben. Das heißt früh raus. Ich suche verzweifelt nach dem Zettel, gegen wen wir eigentlich antreten, aber ich kann ihn nicht finden. Eigentlich habe ich auch gar keine Lust auf Wettkampf und die ganzen Sachen. Ich möchte viel lieber mit Nils zusammensein. Irgendwo ganz allein, kuscheln und träumen.

Donnerstag, 10. April 1997

10. April

"Toll, nicht wahr? Habe ich selbst gemacht!" Doris präsentierte uns Lena, ihr Baby.
"Nun ja, wohl nicht ganz selber, Clemens hat ja wohl geholfen, oder?"
Doris warf ein Kissen nach mir: "Du bist unmöglich", lachte sie, "eine Wöchnerin so zu verarschen. Das gehört sich nicht."
Wow, ich habe den Begriff Wöchnerin gelernt. Was es nicht alles für seltsame Dinge gibt. Auf jeden Fall sieht Lena total klein und verschrumpelt aus, aber auch total niedlich. Ich kann mich gerade noch erinnern, wie es war, als Lisa geboren wurde. Sie hatte schon voll viel Haare auf dem Kopf und alle Leute meinten, daß sie mal der totale Lockenkopf werden wird, was ja auch stimmte. Naja, jedenfalls hat Lena noch keine oder nur ganz wenig Haare auf dem Kopf. Doris hat sie mir sogar mal zum Halten gegeben, was mir gar nicht so recht war, weil ich total Angst hatte, daß ich sie fallenlasse oder irgendwie nicht richtig halte. Das mit Lisa ist dann doch schon eine ganze Weile her. Auf jeden Fall funktioniert das Baby und Doris sieht richtig glücklich aus. Als sie Lena an ihre Brust anlegte, wurde ich etwas verlegen.
"Damit die Milch richtig einschießt", meinte Doris. So, so. Irgendwie hat die Natur bestimmte Sachen schon seltsam geregelt. Nils stand die meiste Zeit nur unsicher grinsend in der Ecke.
"Und ihr zwei, wann bekommt ihr ein Kind?"
Nils und ich guckten uns an und prusteten los. Doris Zimmernachbarin guckte verwirrt zu uns herüber. Dummerweise war ich so angegackert, daß ich auch noch meinte: "Naja, schwanger bin ich ja schon."
Das brachte nun wiederum Doris zum Lachen.
Es war ein total schöner Nachmittag. Als wir die Station verließen, war es schon halb fünf. Wir beschlossen, das Training ausfallen zu lassen und statt dessen Eis essen zu gehen. Ein Weltwunder: Nils ließ das Training ausfallen. Das wird mir jetzt eigentlich erst so richtig klar. Aber die Sonne schien tatsächlich so schön, der Frühling scheint ganz langsam zu kommen und ich fand es einfach toll, mit meinem Nils im Piccola Venezia zu sitzen und einen Rieseneisbecher zu löffeln.
"Eigentlich ist so ein Baby ja doch was niedliches", meinte Nils.
"Ja, aber eigentlich auch ziemlich unpraktisch."
"Unpraktisch?"
"Na ja, schau mal, so ein Baby kann noch keinen Staublappen halten, kann nicht aufräumen oder abwaschen. Also nützlich ist es doch in dem Alter noch gar nicht."
Nils guckte mich völlig verstört an: "Also ich glaube ich möchte mal Kinder haben."
Rumms, das verblüffte mich nun total.
"Wo sollen die denn herkommen?" wollte ich wissen.
"Ich weiß es nicht. Aber irgendwie, Kinder gehören doch zu einer Familie."
Mich überkam wieder dieser komische Gefühl. Was redete denn Nils von Familie? Was für eine Familie? Am liebsten hätte ich ihm gesagt, daß wir nie Kinder haben werden. Nicht nur aus biologischen Gründen, sondern weil wir erstens garantiert keines adoptiert bekämen und ich zweitens auch niemals eines würde adoptieren wollen. Was soll denn das? Zwei Schwule und ein Kind? So ein Quark. Von was einer Familie träumte denn Nils? Ich hätte ihn ja gerne gefragt, aber ich weiß, daß das wieder eine totale Problemdiskussion geworden wäre.

Mittwoch, 9. April 1997

9. April

"Du kannst mir gratulieren", das war Doris. Doris ist Mutti geworden.
 COOL!! Sie hat heute Nachmittag angerufen, kurz bevor ich zum Training loswollte. Am Morgen hat sie ihr Baby gekriegt, ein Mädchen. ´Sie hat mir irgendwas vom Gewicht und von der Größe erzählt, was ich schon längst wieder vergessen habe. Jedenfalls ist alles ok mit dem Baby und alles ist dran, was an so einem Teil dran sein muß. Ich finde ja diesen Gedanken, daß Doris jetzt ein richtiges eigenes Baby hat total komisch. Das paßt so gar nicht richtig zu ihr. Auf jeden Fall konnte ich die ganze Zeit beim Training an fast nichts anderes mehr denken. Ich habe mit Nils verabredet, daß wir sie morgen besuchen gehen, vor dem Training.

Ich bin ja total gespannt, Doris mit Baby.

Dienstag, 8. April 1997

8. April

"Was hältst du davon?" fragte Nils und kringelte im Reisekatalog herum.
Wir waren beim Krafttraining gewesen und lagen nun beim ihm auf dem Boden und wälzten die Reiseprospekte. Es ist ganz schön schwierig, irgendwas zu finden, was paßt. Entweder ist alles total teuer oder die Sachen sehen schon im Katalog völlig zerranzt aus. Oder es sind so Angebote für Familien mit kreischenden nervigen Kindern. Aber das, was Nils herausgesucht hatte, klingt ganz nett: Moriani Plage. Es ist so etwa 60 km vom Hauptort Bastia entfernt und so eine Siedlung von kleinen Bungalows am Meer. So wie es aussieht, sind die Dinger ziemlich einfach, so etwa wie in der Feriensiedlung in Rosapineta, aber eigentlich reicht das ja, weil wir ja eh den ganzen Tag am Strand verbringen werden. Ein bißchen doof ist es natürlich, daß die Anlage so weit weg von der nächsten großen Stadt ist, aber bestimmt ganz man sich da Mofas mieten. Jedenfalls haben wir beschlossen, daß wir am Freitag buchen gehen werden. Ich habe noch mal das Geld, was ich zusammengespart habe und das von Brico zusammengerechnet, es reicht, ich meine auch ohne die sogenannte "stille Reserve" von Oma anzugreifen. Die ist ja sowieso tabu bis nach dem Abi. Nils wird noch mal mit seinen Eltern quatschen, wieviel sie ihm dazu geben und dann kann es losgehen. Ich freue mich schon total darauf. Das erste Mal mit Nils ganz allein, zwei Wochen lang. Wenn ich so daran denke, erscheint es mir wie das Paradies.

Wir haben es sogar gewagt ein bißchen zu kuscheln, nachdem er die Tür abgeschlossen hat. Es ist so schön, ihn zu küssen, seine Nähe, seine Haut zu spüren. Ich habe festgestellt, daß er total wild wird, wenn ich seinen Nacken und seinen Hinterkopf streichele. Ich möchte am liebsten Tag und Nacht mit ihm zusammen sein.

Montag, 7. April 1997

7. März

"Was machen wir denn mit Korsika?"
"Ich weiß nicht, ich habe ja ein bißchen was bei Brico verdient in der letzten Woche. Aber du ja wohl nicht."
Nils nickte: "Aber ich werde meine Mutter mal fragen, vielleicht schießt sie ja ein bißchen mehr dazu. Denn ich will auf jeden Fall die zwei Wochen mit dir zusammen sein."
Mein Herz machte einen Sprung. Wenn er so etwas sagt, dann schwebe ich gleich drei Wolken höher und ich möchte ihn dann am liebsten in den Arm nehmen. Das ging natürlich nicht, weil wir mitten auf dem Schulhof standen.
Wir verabredeten, daß wir uns noch in dieser Woche etwas aussuchen, was wir dann auch buchen, damit wir überhaupt noch etwas bekommen. Ich freue mich schon total darauf: Sommer, Sonne, Strand, Meer und Nils.
Training war gut heute. Ich spüre, wie ich völlig neue Energie in mir habe (das klingt komisch, so wie eine Batterie-Reklame).
"Da muß man ja aufpassen", sagte Nils scherzhaft, "wenn du so weitermachst, bist du ja besser als ich. So in 10, 20 Jahren."
Ich stürzte mich auf ihn. Ich wußte natürlich, daß ich keine ernsthafte Chance gegen ihn hatte. Er spielte mit mir. Mal war er in der Oberlage, mal ich. Bis ich ihn irgendwann begann abzukitzeln und seine Brücke in einem Kicheranfall zusammenbrach. Ich setzte mich auf seine Brust: "Ich glaube, ich brauch nicht 10 Jahre zu warten, nicht mal 10 Minuten", sagte ich grinsend.
"Das werden wir ja sehen", sagte er und es gelang ihm tatsächlich, mich abzuwerfen, hinter mich zu kommen und festzuhalten. Ich gab auf. Ich war einfach zu fertig, um weiter zu machen. Lachend und außer Atem saßen wir uns gegenüber, bis Dimitri uns einsammelte und meinte, wir sollen mal wieder anfangen, ernsthaft zu trainieren. Was hat der schon für eine Ahnung, was ernsthaft ist.

Sonntag, 6. April 1997

6. April

"Herzlichen Glückwunsch" sagte Dad. Wir saßen beim Frühstück und ich erzählte von meinem gestrigen Kampf. "Warum hast du nicht Bescheid gesagt, daß du so einen wichtigen Wettkampf hast? Wir wären hingekommen und hätten dich angefeuert."
Ich blickte zu Mom, die vorsichtshalber nichts sagte. Ich erklärte, daß ich vorher ja auch nicht wußte, daß das sooo wichtig ist oder sein könnte.
Am Nachmittag habe ich mich mit Nils getroffen. Es war komisch, am Anfang wußten wir gar nicht, worüber wir reden sollten. Es war wie eine Blockade. Eine halbe Ewigkeit saßen wir nur da, gckten ins Tal. "Du hast mir gefehlt", flüsterte Nils nach einer ganzen Weile.
"Du mir auch", sagte ich und nahm ihn in den Arm. "Nils, ich möchte, daß du weißt daß da nichts war mit dem Typen, wirklich..." Er brachte mich mit einem Kuß zum Schweigen. "Ich weiß", flüsterte er in mein Ohr. "Ich brauche dich, ich weiß jetzt, daß ich dich brauche."
Das war überhaupt das Schönste, was er sagen konnte. Ich drückte ihn ganz fest. Mein Nils, mein liebster Nils. Ich fühle mich wieder sicher. Es ist, als wenn ich jetzt wieder weiß, wo ich hingehöre. Es ist alles so, wie es sein muß. Es war wirklich ein richtig schöner Abend. Wenn es ein Film gewesen wäre, würde ich sagen total kitschig, aber so paßte einfach alles zusammen: Nils hatte seinen Kopf auf meine Brust gelegt, die Sonne verschwand hinter den Hügeln und bis auf ein paar Vögel die zum Abend trällerten war es absolut still. Eine perfekte, friedliche Stimmung. Irgendwann wurde es dann doch zu kalt und wir radelten wieder Richtung Bergbach. Zum Abschied wollten wir uns gar nicht mehr loslassen.
Ich sitze und denke. Denke an Nils, an uns, wie es weitergeht. Ich liebe ihn, ich liebe ihn wirklich über alles. eigentlich scheint doch alles perfekt zu sein: wir verstehen uns, ohne daß wir viel reden müssen, wir brauchen uns nur anzugucken und wissen schon, was der Andere denkt. Es paßt doch alles. Und trotzdem ist in mir irgendwas, was mich mißtrauisch macht. Nein mißtrauisch ist das falsche Wort. Ich meine eher, dieses Teufelchen, was mir immer wieder sagt, daß ich mich nicht so sehr in ihn verlieben darf. Habe ich jetzt durch dieses ewige Hin und Her schon einen Knacks weggekriegt? Das kann doch nicht sein? Oder ist es jetzt einfach nur mein Verstand, der mir immer wieder sagt, daß es auch irgendwann zu Ende gehen kann? Verdammt noch mal, was mache ich mir denn eigentlich für Gedanken? Ich bin gerade wieder mit meinem Liebsten zusammengekommen und dann schießt mir so etwas durch den Kopf...das kann doch nicht wahr sein! Mein Blick fällt auf den kleinen Eisbären. Ich nehme ihn und drücke ihn ganz fest: Wish you were here.

Samstag, 5. April 1997

5. April

"Das sieht aber gar nicht gut aus für uns."
Dimitri guckte besorgt auf seinen Zettel und zählte Punkte. Aus irgendwelchen Gründen war die halbe Mannschaft heute mies drauf. Silvio hatte haushoch verloren, Florian wurde geschultert. Ich ging zu Doris auf die Tribüne. Sie schüttelte grinsend den Kopf: "Das ist schon ein ziemlich merkwürdiger Sport."
"Wieso merkwürdig? Das ist der ursprünglichste Sport überhaupt."
"Na, ich weiß nicht. Tut das nicht weh, wenn man so auf die Matte geschleudert wird und so durchgewurschtelt wird?"
"Nö, nicht wirklich, man gewöhnt sich dran und außerdem geht das schnell vorbei. Es ist echt so, daß man seinen Körper fühlt, daß man merkt, wie man was damit machen kann."
"Na, daß Schwule darauf abfahren kann ich mir vorstellen."
"Psst, bist du wohl still!"
Zum Glück saß niemand neben uns.
"Nils ist dran", Doris stubste mich an.
"Ach ja?" Ich versuchte so weit wie es ging, nicht zu uninterssiert zu klingen. Also mußte ich zugucken. Nils kämpfte schrecklich schlecht. So schlecht hatte ich ihn noch nie gesehen. Mit Mühe und Not schafte er es mit einem Punkt zu gewinnen. Mit gesenktem Kopf ging er in seine Ecke zurück. Ich erwischte mich bei dem Gedanken "Geschieht ihm recht" und erschrak vor meiner Boshaftigkeit. Dann war ich dran, Doris drückte mich und wünschte mir viel Glück. Auf dem Weg nach unten kam es mir in den Kopf, daß sie es vielleicht ja schon etwas merkwürdig gefunden hat, daß ich die Zeit bei ihr verbracht habe und nicht mit Nils und den anderen Jungs unten.
"Wir brauchen ein Unentschieden, Tim. Wenigstens ein Unentschieden", flüsterte mir Flo zu. Ich blickte zu den anderen und fing einen Blick von Nils auf. Nur für eine Sekunde, doch dieser Blick sagte nichts, überhaupt nichts. Es war, als würde er durch mich hindurchschauen, einen Fremden angucken. Das machte mich wütend. Ich weiß nicht wieso, auf einmal war ich mir sicher, daß ich auf einen Schultersieg schaffen würde. Mein Gegner war kleiner als ich und bestimmt auch leichter. Ich wunderte mich, daß er überhaupt in meiner Gewichtsklasse antrat. Aber genau das war mein Fehler. Ich hatte ihn unterschätzt. Ich dachte, ich würde ihn mit einem Hüftwurf kriegen. Ich war so voll mit Wut und Energie, daß der auch ohne Probleme klappte. Yeah, ich hatte ihn, dachte ich. Doch dadurch war ich für eine Zehntelsekunde unaufmerksam. Blitzschnell wandt er sich aus meinem Griff raus, konterte und war in der Oberlage. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was passiert war. Fieberhaft arbeitete es in meinem Kopf. Ich entschloß mich, es einfach mit Aufstehen zu versuchen und es klappte. Punkt. Ich schaffte es, hinter ihn zu kommen und machte noch zwei Punkte. Ich guckte zum Kampfrichtertisch. Einen Punkt war ich noch im Rückstand. Dann Pfiff und Pause.
"Einen Punkt noch und dann halten", raunte mir Dimitri zu. Es klang richtig flehend. Dieser Riesenmann flehte mich darum an, einen Punkt zu machen. Ich ging wieder auf die Matte. "Unterschätze nie deinen Gegner", hämmerte es in meinem Kopf. Shit, und das ging mir nicht raus aus dem Gehirn. Ich handelte mir eine Verwarnung wegen Passivität ein und mußte in die Bank. Pfiff! Mein Gegner machte eine Rolle mit mir und hielt mich eisern auf dem Boden fest. Shit, ich war wieder im Rückstand. "Die Arme nach vorne, die Arme", hörte ich Dimitri. "Aufstehen, aufstehen!" Das war Florian. Ich versuchte, mich freizukämpfen aber es war sinnlos. Ich wunderte mich, wie so ein kleiner Typ es tatsächlich schaffte, einen Hammerlock anzusetzen und mich langsam herumzudrehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Es rauschte in meinen Ohren, ich hörte nur noch ein diffuses Rauschen aus der Halle. Ich landete fast auf dem Rücken, ging in die Brücke. "Halten, halten!" schrie Dimitri. Mein Gegner versuchte meinen Kopf hochzuheben, die Brücke einzudrücken. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf meinen Brustkorb. Es war merkwürdig, ich spürte keinen Schmerz. Ich wollte nur nicht, daß er mich pinnte, ich wollte durchhalten. Ich zählte jede Sekunde, wie lange würde es noch dauern, bis der Kampf vorbüer war? Eine Ewigkeit, es schienen mir Stunden, ich wartete auf den erlösenden Gong. Und wieder dieses Licht der Deckenstrahler, daß mich blendete, mir in den Augen brannte.
"Gib schon auf", zischte mir mein Gegner zu.
Ich biß die Zähne zusammen, doch ich merkte, wie meine Brücke immer schwächer wurde. Warum das Ganze, warum eigentlich?
Dann hörte ich plötzlich diese Stimme, glasklar und deutlich, kein anderes Geräusch, nur diese Stimme, SEINE Stimme: "Hüfte! Und dann drehen!"
Es war Nils. Zum ersten Mal an diesem Tag drang etwas von Nils tatsächlich zu mir vor. "Tiiiim!"
Ich brauchte nicht mehr nachzudenken. Alles ging ganz automatisch. Und es ging ganz wie von selbst. Ich griff um seine Hüfte und zog den Griff enger. Ich hörte wie er keuchte. Mit meiner ganzen Kraft bäumte ich mich nochmals auf und dreht mich zur Seite, wirbelte ihn herum. Die Bewegung war ein Fluß, meine Hand in seinem Nacken, drehen, zu Boden drücken, es war alles eins. Ich hatte ihn geschultert. Der Kampfrichter pfiff. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, was passiert war, daß ich tatsächlich gewonnen hatte. "Du kannst ihn jetzt loslassen", meinte der Schiedsrichter. Ich stand auf. Die Halle tobte, ja tatsächlich, sie grölten und jubelten. Dimitri zeigte mit seinem Daumen nach oben, die andere klatschten mir zu. Es war einfach ein tolles Gefühl. Der Kampfrichter ergriff meinen Arm und hob ihn hoch: "Sieger durch Schultersieg, Tim Berger!" Ich sah Doris auf der Tribüne stehen. Sie stand tatsächlich auf der Bank und jubelte mir zu. Die Gute, die keine Ahnung vom Ringen hat, die damit gar nichts anfagen kann, sie stand da und applaudierte und freute sich. Und dann sah ich etwas, das mir die Tränen in die Augen trieb: Ganz alleine stand er da, an der Stirnseite der Halle, während alle um mich herumwuselten und mir auf die Schulter klopften. Da stand er und in dem ganzen Gewühl, in dem Durcheinander von Stimmen und Armen, stand er einfach nur da. Wie ein Engel, der über allem schwebte. Alles um mich herum versank in weiter Ferne. Ich sah nur noch ihn und er schaute mich an, blickte mir in die Augen. Ich sah seine Augen leuchten und gleichzeitig waren sie voller Tränen. Und ich versank in diesen Augen, wie ich schon schon so unzählige Male zuvor in ihnen versunken war.
Alles um mich herum verschwand, wurde unscharf. Die Stimmen und Geräusche schienen nur noch aus weiter Ferne zu kommen. Ich sah nur noch Nils. Mir war als würde ich schweben. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur so da stand. Ich wurde aus meinem Traum zurück in die Wirklichkeit gerissen, als ich an Armen und Beinen gepackt wurde und in die Luft geworfen wurde. Soviel Jubel um einen einzigen Schultersieg. Ich freue mich ja auch, vor allem, weil wir dadurch in der Mannschaftswertung gewonnen haben, aber etwas übertrieben war das alles schon, finde ich. Als die Jungs mich genug in die Luft geworfen hatten und wieder runter ließen, war Nils verschwunden. Ich taperte in die Umkleide, um mich einen Moment auszuruhen, denn ich merkte, wie mich der Kampf ganz schön geschlaucht hatte. Ich bin stolz. Ja, ich bin wirklich zufrieden mit mir, daß ich das durchgehalten und geschafft habe. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Die Geräusche aus der Halle klangen dumpf. Die Tür ging auf, für einen kurzen Augenblick war der Lärm wieder deutlicher zu hören. Die Tür schloß sich wieder. Als ich meine Augen öffnete, stand Nils vor mir. Er blickte zu Boden, so daß ich seine Augen nicht sehen konnte. Es war eine seltsame Stimmung. Auf der einen Seite kam er mir so fremd vor, so ganz weit weg. Auf der anderen Seite mußte er nichts sagen, mußten wir beide gar nicht sprechen und doch wußte jeder von uns, was in dem anderen vorging.
"Du warst gut", murmelte er und stubste dabei mit seinem Fuß gegen meinen, "richtig gut, obwohl ich ein paar Mal wirklich Angst um dich hatte."
"Angst um mich oder Angst um den Kampf?" rutschte mir heraus und dafür hätte ich mich ohrfeigen können. Warum reagiere ich so aggressiv?
"Angst um dich!" Er blickte auf und ich sah, daß er Tränen in den Augen hatte. "Ich liebe dich."
Ich weiß nicht mehr, was dann genau passierte. Ich weiß nur noch, daß wir uns in den Armen lagen und küßten. Seine Tränen schmeckten salzig. Ich hielt in so fest wie noch nie. Es war uns egal, wo wir uns befanden. Dann sahen wir uns in die Augen und es war wie früher, dieses Feuer im Bauch, dieses endlose Versinken. Alles für diesen Augenblick. Kein Wort. Ihr nur spüren, seine Nähe, seinen Atem. Wir ließen uns los. Und wahrscheinlich gerade rechtzeitig, denn einen Moment später ging die Tür auf. Florian rief uns zur Siegerehrung.
Davon bekam ich nicht besonders viel mit. Meine Gedanken kreisten um Nils, um meine Gefühle für ihn. Eigentlich war ich glücklich, war ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich weiß nicht, wieso ich mich nicht einfach fallenlassen konnte, in dieses Glück. Irgendwo in meinem Kopf sitzt ein kleiner Teufel, der sagt "Paß auf, verliebe dich nicht zu viel." Ich versuche ihn zu verscheuchen, aber er verhindert eben, daß ich mich völlig fallenlasse.
Doris kam auf mich zu und drückte mich: "Du bist ja ein richtiger Derwisch auf der Matte."
Ich glaube, ich wurde rot. Was sollte ich darauf sagen? Zur Feier des Tages gab es dann noch ein riesiges Pizzabuffet im Vereinshaus. Ich habe mir total den Bauch vollgeschlagen. Irgendwann zwinkerten Nils und ich uns an: unser Zeichen zum Gehen. Wir liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Bis er irgendwann ganz zögernd meine Hand nahm. Es gab eigentlich so viel, was wir uns hätten sagen können, so viel zum Erklären. Aber wir schwiegen. Vielleicht wußten wir auch, was der Andere sagen wollte. Vielleichten mußten wir gar nicht reden. Vielleicht reichte der lange und unendlich schöne Kuß zum Abschied, der doch eigentlich alles sagte. Ich freue mich auf morgen, wenn wir uns wiedersehen.
"Lebst du noch?"
Das war Doris. Shit, ich habe mich eine halbe Ewigkeit nicht mehr bei ihr gemeldet. Sie sagt, daß es ihr gut geht und daß sie wahrscheinlich, wenn alles glatt geht, nächste Woche in die Klinik zur Geburt geht. Sie hat mich natürlich auch gefragt, wie es mir geht. Ich habe drum rumgeeiert und meinte "so lala". Ich habe gebetet, daß sie nicht weiter nachfragt. Ich will ihr im Moment nichts davon erzählen. Ich glaube, sie hat selber mit dem Baby genug Probleme, da ist es bestimmt unfair, wenn ich sie auch noch volljammere. Und außerdem, wie könnte sie mir schon groß helfen? Sie kann mir Nils, meinen Nils, sowieso nicht zurückbringen. Zum Glück fragte sie auch nicht weiter nach. Ich erzählte ihr, daß ich heute einen Wettkampf habe und sie meint, daß sie vielleicht hinkommt, wenn ihr Dad sie fährt. Ich habe ihr gesagt, daß ich das nicht so eine tolle Idee ist, weil wenn ihr da irgendwas passiert.
"Du bist ein richtig kleines Dummerchen", lachte sie, "ich bin doch nicht total invalide, nur weil ich vielleicht nächtse Woche entbinde."
Sie wirkt auf einmal so erwachsen. Es ist so eine komische Erwachsenheit, nicht cool sondern eher so warm, ach ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll. Jedenfalls gehe ich jetzt gleich los zum Wettkampf.
"Tim, ich liebe dich."
Ich schreckte auf und war knallwach. Shit, wieso kann ich in solchen Situationen nicht weiter träumen? Warum wache ich gerade in DIESEN Momenten auf? Es wäre so schön gewesen. Ich stehe auf und gehe zum Fenster, schaue in die Nacht, atmete tief den Duft der Wiesen ein. Gucke nach unten und erinnere mich daran, wie es war, als Nils da stand. Es sind diese Momentaufnahmen die mir so wehtun, weil sie mir immer wieder durch den Kopf jagen. Diese kurzen Bilder aus der Zeit, in der alles so selbstverständlich war. Mit Nils zusammen zu sein war wie nach Hause zu kommen. Ich fühlte mich immer so sicher und ich wußte, wo ich hingehöre. Plötzlich weiß ich nicht mehr, wo ich hingehöre. Alles, was ich gedacht habe, was WIR zusammen machen...da gibt es auf einmal kein WIR mehr. Shit, ich fange wieder an zu heulen, ich gehe ins Bett.

Freitag, 4. April 1997

4. April

"Bist du verrückt geworden? Nimm dir dafür noch jemanden dazu."
Ich war beim Stapeln von Zementsäcken. Einfach so hatte ich angefangen, sie von der alten Palette auf die neue umzuladen. Es ging, bis irgendwann der Lagerarbeiter meinte, ich würde mir den Rücken damit kaputt machen. Aber ich wurschtelte weiter. Es machte mir nichts aus. Ich dachte, ich kann dabei wenigstens vergessen. Aber auch das funktionierte nicht. In Minutenabständen schoß mir immer wieder Nils in den Kopf. Ständig kommen mir die ganzen Sachen wieder in den Kopf, die wir zusammen erlebt haben. Auf einmal ist die ganze Welt so leer und nutzlos. Ich glaube, ich bin ganz allein auf der Welt.
Ich habe den Brief nicht abgeschickt. Ich weiß nicht wieso. Doch ich weiß wieso: ich will nicht jammern und winseln. Nein, er soll nicht mitkriegen, wie er mir wehgetan hat. Wie sehr er mir fehlt.

Heute war Nachholtraining. Ich habe wirklich ernsthaft daran gedacht, gar nicht hinzugehen, einfach alles hinzuschmeissen, das Ringen und alles was damit zu tun hat zu vergessen, einschließlich Nils. Aber so leicht will ich es ihm nicht machen. Es ist wirklich schwierig, ihm beim Training aus dem Weg zu gehen. Sobald er sich auf die Bank setzt, stehe ich auf und setze mich in eine andere Ecke der Halle. Irgendwann machte mich dich ganze Hin und Her richtig aggressiv. Was soll der Scheiß eigentlich. Genau in dem Augenblick sollte ich wieder auf die Matte. Ich hatte so viel Frust und so viel Aggressionen in mir, daß ich meinen Trainingsgegner innerhalb von ein paar Sekunden schulterte. Dimitri schaute mich ganz entgeistert an: "Mir scheint, du entwickelst deinen Kampfgeist weiter."
Eigentlich ist es mir egal, was Dimitri sagt. Aber ich merkte plötzlich, wieviel Energie ich in mir habe. Ich wäre sogar mit Silvio auf die Matte gestiegen und hätte ihn wahrscheinlich auch besiegt. Ich habe es vermieden, Nils anzugucken. Nicht mal einen Seitenblick wollte ich ihm gönnen. Ich muß ihn vergessen! Jedenfalls soll ich am morgen beim Wettkampf antreten. Und ich werde es packen.

Donnerstag, 3. April 1997

3. April

"Du bist da? Bist du gar nicht beim Training?"
Ich schüttelte den Kopf und ging auf mein Zimmer. Ich kann nicht, mir tut alles weh, innen wie außen. Ich bin gestern Nacht rausgegangen, in das kleine Waldstück am Ende der Straße. Ich habe die ganze Flasche Wodka ausgetrunken, oder die halbe, ich weiß eigentlich nur noch, daß ich sie irgendwann fallengelassen hatte und als ich mich nach ihr gebückt habe, bin ich gefallen. Ich roch die feuchte Erde, spürte Zweige unter mir. Ich wollte nur noch sterben in dem Moment. Alles drehte sich um mich und dann war nichts mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen hatte, ich wachte jedenfals auf, weil mir kotzübel war, weil ich fror und weil mir alle Knochen wehtaten. Ich rapelte mich auf und mußte erstmal kotzen. Ich versuchte, mich zu erinnern, doch da war ein Loch, ab dem Augenblick, wo ich mich nach der Flasche bückte. So gut es ging, schleppte ich mich nach Hause. Meine Klamotten waren mistig und ich warf alles unter mein Bett. Noch immer drehte sich alles um mich herum. Ich ließ mich auf's Bett fallen. Draußen begannen die Vögel zu singen. Wie denn das? Warum? Kurze Zeit später schreckte ich auf und war wach. Mein Kopf dröhnte, mir war kotzübel, aber ich war knallwach. Ich überlegte, ob ich den Job schwänzen sollte, aber ich entschied, doch hinzugegehen. Plötzlich erwachte etwas in mir: Trotz oder irgendsowas. Jetzt sitze ich hier wieder und mein Kopf ist völlig leer. Ich glaube, ich schreibe ihm einen Brief. Ich weiß nicht, ob ich ihn abschicken werde.

Lieber Nils!
Was ist passiert? Ich verstehe nichts mehr. Was ist los mit dir? Was ist los mit uns? Bitte, ich möchte, daß du weißt, daß ich dich immer geliebt habe, daß ich dich immer noch liebe!
Bitte glaube mir, daß ich mir nichts dabei gedacht habe, als ich nach Stuttgart gefahren bin. Ich habe nicht vorgehabt irgendwas mit einem Typen da anzufangen. Und es ist wirklich nichts passiert!!! Bitte glaube mir!!!
Nils, ich liebe dich wirklich, ich habe noch nie so sehr jemanden geliebt. Ich fühle mich sicher bei dir. Bei dir bin ich einfach so wie ich bin. Es ist, wie Zuhausesein, wenn ich mit dir zusammen bin, wie eine warme Decke in die ich mich einfach nur einkuscheln kann. Ich brauche dich!!!
Ich bin nicht weiter als du, wirklich nicht, ich brauche dich, ohne dich geht es einfach nicht, ich weiß nicht, was ich machen soll. Du gehst mir jede Sekunde im Kopf herum. Jede Straße, jedes Haus, jede Situation erinnert mich an Sachen, die wir zusammen erlebt haben. Willst du das alles jetzt einfach wegschmeißen? Ich kann nicht mehr klar denken, warum nur? Bitte, laß es uns noch einmal versuchen. Ich verspreche dir, daß ich immer für dich da bin. Es reicht, wenn wir nur für uns sind, niemand muß es wissen.
Bitte, verlaß mich nicht!!!

Ich kann nichts mehr sehen, ich kann nichts mehr schreiben. Nur noch Tränen. Warum nur?

Mittwoch, 2. April 1997

2. April

"Wie geht's dir?" fragte mich Nils. Er guckte mir nicht in die Augen.
"Was?" Das war das einzige, was ich hervorbringen konnte. Mehr fiel mir in diesem Moment absolut nicht ein. ER fragte MICH, wie es mir geht? Das war aber auch das einzige Mal, wo wir heute beim Training in die Nähe gekommen sind. Die übrige Zeit hielt er sich von mir fern. Ich versuchte alles das, was in mir tobt, nach draußen zu lassen, aber ich machte eine ziemlich schwache Figur beim Training. Ich hatte die ganze Zeit damit zu tun, darauf zu achten, Nils nicht anzugucken. Nein, ich will ihn nicht ansehen.
Ich habe mir nach dem Training eine Flasche Wodka vom Jet geholt. Zwei große Gläser habe ich schon, und ich merke langsam, wie mir schwindelig wird. Ich heule, ich heule und ich verstehe nichts. Was läuft hier für eine bekloppte Sache ab? Warum? Es hat doch alles so perfekt gepaßt! Nils und ich, wir haben uns doch so gut verstanden, wir konnten stundenlang zusammen quatschen, lachen, Spaß haben und uns lieben. Und jetzt auf einmal das. Ob da jemand anderes ist? Ich glaube es nicht. Shit, mir kommen jede Sekunde Gedanken an Sachen, die wir zusammen gemacht haben in den Kopf. Ich halte es nicht aus, ICH MUSS RAUS!
"Wo ist denn dein Kumpel", fragte mich der Lagerfritze.
"Ich weiß es nicht."
Da stand ich nun bei Brico ganz alleine und schleppte Blumenkübel auf die Freifläche. Nils war nicht erschienen. Ich hatte mir überlegt, wie es wäre, wenn ich ihn sehe. Aber ich habe den Gedanken gleich wieder beiseite geschoben. Verdammt noch mal, dieses ewige "ich packe das nicht" von ihm. Das haben wir doch schon ein paar Mal durchgemacht. Was ist denn nur los mit ihm, warum? Ich versuchte mich abzulenken, in dem ich Blumenkübel zählte, Tüten mit Erde stapelte. Aber bei jedem Schritt, bei jedem Handgriff kam mir Nils in den Kopf. Ich glaube ich werde wahnsinnig!!!

Dienstag, 1. April 1997

1. April

Ich kann nicht schlafen. Ich habe versucht, mir einen runterzuholen, einfach nur, um für ein paar Sekunden an etwas anderes zu denken, es klappt nicht. Jetzt ziehe ich mich an und laufe.
"Ich packe es einfach nicht. Ich bin nicht so wie du, ich bin nicht so weit, ich weiß nicht, ich bin vielleicht gar nicht schwul."
Ich blickte ihn an. Ich wollte ihm in die Augen sehen, aber er hatte den Kopf weggedreht und sprach ins Leere. Er war schon da als ich ankam und ich hörte ihn weinen. Ich ging zu ihm, wollte ihn in den Arm nehmen, doch er schüttelte mich ab und dreht mir den Rücken zu. Ich verstehe nichts mehr.
"Verdammt noch mal Nils, was ist denn los? Was ist denn passiert?"
"Nichts. Es ist nur alles immer noch so fremd für mich. Für dich scheint das ja wirklich die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein. Du fährst einfach in ein schwules Café, triffst irgendwelche Typen, alles kein Problem."
"Da war nichts, Nils, echt nicht." Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen, doch er wich zurück.
"Tim, ich packe es einfach nicht mehr. Und ich weiß nicht, ob ich das alles noch so will."
Ich merkte wie mir das Blut in den Kopf und gleich darauf wieder raus schoß. Meine Ohren summten. Es war, als wäre ich plötzlich kilometerweit weg. Als würde ich nicht mehr in die Szene gehören, als wäre alles nur ein Theaterstück, hörte ich Nils sagen: "Vielleicht sollten wir einfach abwarten, uns nicht mehr so oft sehen, und vor allem", er stockte, "nicht mehr zusammen schlafen."
Es war alles so unwirklich und doch so selbstverständlich. Nein, selbstverständlich ist das falsche Wort. In dem Moment, wo er es ausgesprochen hatte, war es mir, als wenn ich es schon immer gewußt hätte, was er sagen würde. Nils, ich verliere dich und ich stehe einfach nur da und fühle mich so hilflos, so hilflos, daß ich nicht mal mehr weinen kann. Er schwang sich auf sein Rad, ich sah, wie er seine Tränen wegwischte und davon radelte. Ich weiß nicht wie lange ich einfach nur so dagestanden habe. Ohne Reaktion, ich war leer, einfach nichts war in mir. Dann merkte ich irgendwann, wie die Tränen in mir aufstiegen und ich begann zu jammern, erst ganz leise, dann immer lauter, bis ich nur noch schrie: "Nils!" Meine Stimme verhallte, aber kein Nils kam. Mein Schatz ist weg!
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, nach Hause zu kommen, ich weiß es nicht, jetzt sitze ich hier und kann wieder nicht mal mehr heulen. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe die ganze Sache nicht. Ist das ein Film, der hier abläuft? Ist das nur eine dumme Story? Träume ich? Es muß doch irgendetwas passieren. Ich will Nils anrufen, doch ich vergesse die Idee ganz schnell wieder. Ich kann nicht mehr schreiben, ich kann gar nichts mehr.