Sonntag, 31. August 1997

31. August

"Mir tut alles weh."
"Rate mal, wem noch."
Wir haben getanzt, getanzt, getanzt. Und wir hatten eine Superstimmung und das obwohl dieser Typ aus dem Dorian auch da war. Oder vielleicht weil er wieder da war. Er hüpfte zwar ein paar Mal um uns herum, aber dann hielt er Abstand. Die Musik war richtig gut und es stimmte eigentlich alles. Völlig taub schlurften wir schließlich zum Bahnhof. Dabei waren wir gar nicht müde, nur einfach total körperlich fertig, die Beine, die Arme, alles tat weh vom vielen Tanzen. Ja, sogar Nils war fertig, Nils, der große Sportler. Der Weg zurück vom Bahnhof nach Hause. Es ist ein komisches Gefühl. Die ganze Nacht Party gemacht, jetzt am frühen Morgen immer noch wach durch Bergbach radeln, wo so langsam die ersten Leute munter werden, die Rolläden hochziehen, mit ihrem Hund gehen und uns mißtrauisch anschauen. Ja, wir haben Party gemacht, gefeiert und unseren Spaß gehabt. Hey, wißt ihr eigentlich, was ihr alles versäumt in eurem Leben? Man kann so viel Spaß haben, es geht so einfach. Und ihr in eurem spießigen kleinen Nest kriecht aus euren spießigen kleinen Betten und regt euch auf? Ihr würdet euch aufregen über zwei Jungs, die Hand in Hand über euren Markplatz laufen, ihr würdet die Polizei rufen, wenn sich zwei Jungs in eurer heiligen Fußgängerzone küssen würden. Was für eine bescheuerte Welt.
Ich glaube, ich muß schlafen, obwohl ich eigentlich gar nicht müde bin, aber ich werde es einfach mal versuchen.

Drei Stunden geschlafen, wieder quietschmunter und gut drauf. Meine Ohren sind immer noch taub, aber es geht. Ich liege im Garten und blinzele in die Sonne. Es WIRD Herbst. Die Sonne sieht tatsächlich komisch aus. Es ist, als wenn alles den Atmen anhält. Es ist nicht wirklich kalt, aber es ist auch nicht mehr die Wärme wie im Sommer. Die Wolken, die Bäume, selbst der Wind: Alles scheint stillzustehen. Bald bin ich tatsächlich ein Jahr mit Nils zusammen, mit meinem Nils. Ich schließe die Augen. Lisa sitzt irgendwo neben mir, ich höre, wie sie singt.
Phil muß morgen zum Röntgen zur Kontrolle. Zum Glück meint er, daß er keine Schmerzen hat. Ich hoffe, daß alles gut verheilt ist. Er weiß aber noch nicht so genau, wann der Gips ab kann. Er überlegt, was er studieren will und vor allem wo. Er hat mir ganz im Vertrauen erzählt, daß er überlegt, in Hamburg Jura zu studieren. Was glaube ich bei Mom und Dad nicht so gut ankommen wird. Nicht das mit Jura, aber daß er in Hamburg studieren will. Shit, und wenn ich dann auch noch irgendwann nach dem Abi komme und sage, daß ich zurück nach Hamburg will, na toll, dann sind sie mit Lisa ganz alleine hier. Ich meine, Lisa ist ja hier total glücklich, Dad ist eh fast nur im Büro und Mom vermißt Hamburg glaube ich auch nicht. Aber wenn Phil und ich irgendwann weg sind. Ich weiß ja auch nicht, wie lange das mit der Sanierung dieser Firma dauert und was danach kommt. Dad meint, daß er ein Angebot von Daimler bekommen hat, danach da zu arbeiten. Na toll, dann fahren wir Mercedes, wie peinlich.

Nils hat angerufen und gesagt, daß wir uns heute am Nachmittag und am Abend nicht sehen können, weil er seine Cousine in Esslingen besuchen muß. Na gut, ich bin auch noch so fertig, daß ich kaum auf Aktion aus bin. Aber so ein bißchen ein romantischer Sonnenuntergang wäre schon schön gewesen.

Samstag, 30. August 1997

30. August

"Wollen wir heute abend ins X1 gehen?"
"Meine Güte, was ist denn mit dir los? Gestern schon ins Dorian, heute ins X1. Du wirst ja richtig abgedreht."
"Ich habe einfach nur mal wieder Lust zu tanzen."
"Aha, aha, aha! Und warum nicht in der Tofa?", fragte ich provozierend.
"Na du sagst doch immer, da läuft dir zu viel Bauernvolk rum."
"Aha, aha, aha!"
"Du bist blöd! Was ist denn nun?"
"Ja na klar. Mich brauchst du nicht zweimal fragen. Ich hole dich nachher ab. Ok?" "Yo, man, let's paaardy."
Auch gut. Eigentlich eine coole Idee. Gehen wir heute ins X1. Das heißt zwar wieder Ewigkeiten durch die Pampa zu fahren, aber es wird bestimmt cool.

Ansonsten war heute echt Telefontag. Doris rief ziemlich beleidigt an und wollte wissen, ob ich noch lebe, weil ich mich in den letzten Tagen nicht bei ihr gemeldet habe. Ok, sie hat ja auch recht. Sie war einfach raus aus meinem Kopf, aber ich habe ihr versprochen, daß wir uns am Montag oder Dienstag treffen. Dann hat tatsächlich Tobias angerufen und erzählt, daß er wieder zurück ist. Er meint, es geht ihm wieder fast richtig gut. Auf jeden Fall kommt er zum Schulanfang wieder zurück. Schulanfang, Shit, das ist ja auch bald wieder. Ich will gar nicht daran denken. Die Ferientage fliegen einfach so vorbei. Korsika, die zwei Wochen mit Nils, sie sind immer noch in meinem Kopf, aber es scheint so lange her.
Und dann wieder Schule, Kurse. Irgendwie ja vielleicht ganz witzig, neue Leute, neue Mischung. Nils und ich in anderen Kursen. Ich konnte ihn nicht zum Französisch-LK überreden.
Fahrschule kommt ja noch. Na gut, noch nicht gleich, aber vielleicht so im Oktober oder November, damit ich zu meinem Achtzehnten meinen Führerschein habe. Endlich nicht mehr dieses bekloppte Bahn- oder Busgefahre, wenn man mal raus aus diesem Kaff will. Vielleicht kann ich ja in den Herbstferien oder den Weihnachtsferien jobben, um mir dann auch irgendwas Gebrauchtes zu holen. Pff, was mache ich denn hier? Jetzt mache ich schon Pläne in die weite Zukunft hinaus. Jetzt ist erst mal Party angesagt. Mal gucken, was ich anziehe.

Freitag, 29. August 1997

29. August

"Ich überlege es mir. Ist schon irgendwie eine komische Situation."
"Na, du brauchst keine Angst zu haben. Ist doch mein Bruder."
"Vielleicht sehe ich das ja auch alles mal so locker wie du."
"Nils, ich sehe das gar nicht so locker, wie du immer glaubst."
Wir waren in Stuttgart, es hatte zu regnen angefangen und wir waren in die U-Bahn geflüchtet. Jetzt saßen wir an diesem total unromantischen Ort, starrten auf die Gleise und redeten über das Thema.
"Ich habe bestimmt genauso viel Angst, daß das die falschen Leute mitbekommen, wie du. Ich will es doch auch nicht allen Leuten erzählen."
Ein Zug fuhr ein. Warum nennt man eine Straßenbahn U-Bahn? Nur weil sie unter der Erde fährt?
Nils schwieg. Ich ahnte, was in seinem Kopf vorging. Nein, ich weiß es. Weil es mir doch ganz genau so geht. Ich werde ihm einfach die Zeit lassen, die er braucht. Denn eigentlich haben wir uns, und das ist doch alles, was wir brauchen. Wir schauten, ob es aufgehört hatte zu regnen und gingen zu McDo.
"Wollen wir noch was trinken gehen, im Dorian?"
Ich guckte Nils verwundert an. Er schlug vor, daß wir ins schwule Café gehen sollen. Ich fand die Idee ganz witzig. Es war richtig voll, aber wir hatten Glück und haben noch einen Platz bekommen. Ich guckte mich um. Ich weiß nicht woran es lag, aber mir ist aufgefallen, daß die meisten Leute, die in dem Laden waren, total uninteressant und häßlich aussahen. Mein Blick blieb kurz an einem jungen Typen hängen, der wahrscheinlich so alt war wie ich oder noch jünger. Er erinnerte mich gleich an Maik, obwohl er noch viel tuntiger und dürrer war. Na toll, er hatte mitgekriegt, daß ich ihn angesehen hatte und stürmte auf unseren Tisch zu: "Na ihr zwei? Ihr seid doch bestimmt ein Paar, oder?" Und das in einer Lautstärke, daß es der halbe Laden hören mußte. Ich hasse Situationen, in denen ich am liebsten wie ein Maulwurf in der Erde verschwinden möchte. Ich bin ein Maulwurf, wo ist mein Erdloch?
"Was geht dich das an?", motzte Nils ihn an.
"Oh, ganz prollig", der Typ guckte zu mir, "da hast du dir wohl einen Hetero angelacht, was?"
"Laß uns einfach in Ruhe, ok?"
"Schon gut, schon gut."
Er zottelte wieder zurück zu seinem Platz. Nils und ich guckten uns an und mußten lachen. Wir konnten gar nicht mehr aufhören.
"Wenn ich jemals so tuntig werde, dann sage mir bitte rechtzeitig vorher Bescheid."
"Das werde ich schon schön verhindern, daß du je so wirst."
Wir kicherten immer noch, als wir das Café verließen. Nils taperte noch zurück, weil er noch mal auf's Klo gehen wollte, bevor wir zurückfuhren. Als er wiederkam, grinste er mich noch breiter an: "Stell dir vor, der Typ ist mir sogar auf's Klo hinterhergekommen."
"Und?"
"Er hat mir seine Telefonnummer gegeben und gemeint, ich soll ihn mal anrufen."
"Na dann los, da vorne ist eine Telefonzelle."
Die ganze Zugfahrt über brauchten wir uns nur anzugucken und schon fingen wir wieder an zu kichern.

Donnerstag, 28. August 1997

28. August

"Ich komme nicht, das klappt nicht mit Stuttgart."
"Aha, schade."
Ich weiß nicht, ob ich log oder wirklich enttäuscht war.
"Ja, finde ich auch, aber irgendwann komme ich bestimmt vorbei. Wie geht's dir denn inzwischen?"
"Ganz gut. Nils und ich waren auf Korsika, es war ein toller Urlaub. Und ansonsten geht es mit auch ganz gut."
Ich habe Nils extra erwähnt, vielleicht auch, um ihm irgendwas zu beweisen...nur was?
"Trainierst du schon fleißig?"
"Ich trainiere immer fleißig."
"Na, ich meine für Leipzig."
"Ich weiß nicht, ob ich dafür besonders trainieren muß."
"Ein bißchen mehr Einsatz! Was soll denn das werden?"
"Jetzt fang' du nicht auch noch damit an. Es reicht ja schon, daß ich hier einen Supercoach habe."
"Nils? Vielleicht will er ja einfach, daß du gewinnst."
"Natürlich will er das. Und weißt du was? Ich glaube, das ist auch ein Stück sein Ding." Das war mir einfach so herausgerutscht. Aber wenn ich das jetzt so schreibe, dann scheint es mir doch irgendwie ganz logisch. Hat er nicht irgendwann auch direkt mal gesagt: "Ich bringe dich soweit, daß du gewinnst"? Es wird nicht nur mein Sieg sein, wenn ich denn überhaupt gewinne. Nein, Nils will auch seinen Erfolg haben.
"Ja und? Was ist daran so schlimm?"
"Ja, ist ja gut", ich hatte keine Lust, mit irgend jemandem darüber zu diskutieren, egal, ob es Nils oder Heiko, Dimitri oder Werner waren.
"Und was machen die Jungs?"
"Welche Jungs?"
"'Welche Jungs', was für eine bekloppte Frage. Natürlich DEINE Jungs."
"Ich habe keine Jungs. Ich habe einen Freund, wenn dir das abhanden gekommen ist."
"Und das heißt, von jetzt bis in alle Ewigkeit verheiratet?"
"Du bist echt ein Penner. Ich will auch jetzt nicht darüber reden. Ich habe einen Freund und da gibt es keine anderen Jungs und Schluß, Ende, aus!"
"Nun reg' dich doch nicht so auf. Ist ja schon gut."
Ich war kurz davor, total sauer zu werden. Was sollte denn das? Wenigstens schafften wir es, uns halbwegs vernünftig zu verabschieden.
Heiko. Ich will sauer auf ihn sein, doch es geht nicht. Ich sehe sein Lachen vor mir und kann ihm nicht böse sein. Er kommt nicht. Natürlich bin ich traurig darüber, daß er nicht kommt. Aber es hat mir auch eine Entscheidung abgenommen. Die Entscheidung, Heiko abzusagen. Oder auch nicht abzusagen. Ich weiß immer noch nicht ganz genau, was ich gesagt hätte. Doch das war jetzt unwichtig geworden.

Nils glaubte mir erst nicht, daß Heiko von sich aus abgesagt hat. Er meinte wohl, ich hätte das erfunden. Aber irgendwann habe ich ihn dann überzeugt.
"Und wie findest du das?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß echt nicht, ob ich das gut oder schlecht finde."
Nils grinste: "Also dann im Oktober."
Bis Oktober ist es zum Glück noch eine Weile hin. Vielleicht kriege ich Heiko bis dahin wieder ein bißchen aus meinem Kopf raus.

Gerade eben war Phil da und wir haben noch ein bißchen gequatscht. Einfach so. Ich glaube, er möchte mir irgendwie zeigen, daß er für mich da ist. Fast so, als wenn er mir helfen will. Ich weiß nicht, wie ich ihm sagen soll, daß er das gar nicht braucht. Aber lieb ist es trotzdem. Er will unbedingt Nils richtig kennenlernen, aber ich weiß nicht, ob Nils das so gefällt. Vielleicht rede ich morgen mit ihm darüber.

Mittwoch, 27. August 1997

27. August

"Du schreibst immer noch Tagebuch?"
"Ja, aber das sind eigentlich mehr Notizen."
"Meinst du nicht, daß es langsam Zeit ist, mir was zu sagen?"
"Was zu sagen? Was meinst du?"
"Tim."
"Ja doch. Was ist denn los?"
Phil guckte mich lange an. Er guckte mir einfach nur in die Augen und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und schaute zu Boden.
"Ich kenne dich nun schon seit 17 Jahren. Ich weiß, daß mit dir etwas nicht stimmt. Wir waren nie viel zusammen, jeder hatte immer seine eigenen Freunde, seine Kumpels, aber ich kenne dich. Tim, und ich weiß, daß da was ist. Und ich will, daß du es mir endlich sagst. Ich will es von DIR hören. Von niemanden anders. Kannst du das nicht verstehen?"
Ich konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr lügen, nicht mehr eine Rolle spielen. Ich WOLLTE es nicht mehr.
"Ich bin schwul."
Mir wurde heiß. Ich merkte, wie sich in mir alles drehte. Was hatte ich getan? Ich hatte gerade meinem Bruder gesagt, daß ich schwul bin.
Phil nickte. Ich sah, wie er schluckte und tief Luft holte. Wir schwiegen. Ich weiß nicht wie lange. Es schien mir eine halbe Ewigkeit zu sein.
"Wie lange weißt du das schon?"
"Keine Ahnung, es ist nicht plötzlich gekommen. Ich habe es einfach immer mehr gemerkt, daß ich Jungs viel interessanter finde als Mädchen. Und du? Woher wußtest du es?"
"Du bist anders. Du triffst dich nicht mit Mädchen und das, obwohl du keiner von diesen verklemmten Strebern bist, die nie eine abkriegen. Nein, du gehst auf Parties, machst Action, kennst jede Menge Leute und trotzdem gehst du nicht mit Mädchen, hast keine Freundin. Tim, das MUSSTE mir auffallen."
"Seit wann hast du es gewußt?"
"Ich habe es schon länger geahnt. Vielleicht länger als du. Aber letztes Jahr zu Ostern, da war ich mir sicher. Als du länger in Hamburg geblieben bist. Kein Mensch bleibt länger in Hamburg, wenn er nicht muß, oder will."
"Wie jetzt?"
"Hast du einen Freund in Hamburg?"
Ich mußte lachen: "Nein, nein, wirklich nicht. Ich bin länger geblieben, weil ich nicht hierher zurück wollte. Jedenfalls wollte ich so lange wie möglich in Hamburg bleiben. Aber ich habe keinen Freund in Hamburg. Ich habe einen Freund hier."
Phil zuckte: "Also bist du dir wirklich sicher, daß du schwul bist?"
"Ja, verdammt noch mal ja."
"Und du meinst nicht, das geht mal vorbei?"
Mein großer Bruder. Auf einmal kam er mir so unwissend und naiv vor.
"Das geht nicht vorbei. Das geht NIE vorbei."
Phil seufzte. "Warum?"
"Wie? Warum?"
"Warum bist du schwul?"
"Was weiß ich denn? Die Gene, die Chromosomen, die Luft, die irgendwas. Keine Ahnung."
Phil stand auf und ging zum Fenster. "Ich habe es geahnt. Nein, ich habe es gewußt. Und trotzdem habe ich gehofft, daß es nicht so ist. Es ist so seltsam, so fremd für mich."
"Willkommen im Club. Denkst du, für mich ist es easy?"
"Wenn ich mir vorstelle, daß du mit einem Typen...das finde ich einfach nur ekelhaft. Bitte, nein, verstehe mich nicht falsch: Ich kann es mir nur einfach nicht vorstellen."
Jedem anderen wäre ich an den Hals gesprungen (nicht wirklich), aber Phil schaute ich einfach nur an.
"Mir geht es so, wenn ich an nackte Mädels denke."
"Du hast einen Freund? Kenne ich ihn?"
"Nicht wirklich. Du kennst doch hier eh niemanden."
"Laufen hier die Schwulen mit Schildern rum, oder wie hast du ihn gefunden?"
"Sei nicht so deppert. Wir haben uns eben gefunden. Das muß reichen."
Ich wollte ihm nicht die ganze Geschichte mit Nils erzählen. Und zum Glück bohrte er nicht nach.
"Was ist mit Mom und Dad?"
"Was soll mit ihnen sein? Sie wissen es natürlich nicht."
"Ich glaube, es ist auch besser so. Mom würde ausrasten."
"Ich denke auch."
Phil schaute wieder aus dem Fenster. "Wie ist es, wenn man schwul ist?"
"Was meinst du?"
"Wie fühlst du dich? Wie geht es dir damit?"
"Einsam, am Anfang habe ich mich unheimlich einsam gefühlt. Alle um mich herum machten mit irgendwelchen Mädels herum. Nur ich, ich konnte damit nichts anfangen. Ich war alleine, so verdammt allein. Inzwischen geht es besser. Ich habe meinen Freund. Aber wir müssen uns eben doch immer irgendwie verstecken. Während ihr, ihr Heteros händchenhaltend durch die Gegend marschieren könnt, müssen wir immer aufpassen, daß niemand was mitkriegt."
"Oh, Entschuldigung, daß wir normal sind."
"Super, ja, ihr seid normal und ich, ich bin dann also unnormal."
"Tim, sorry, so war das nicht gemeint." Phil kam auf mich zu und umarmte mich, so gut es mit seinem Gipsarm ging: "Du bist mein Bruder. Mein kleiner Bruder und du bleibst auch für immer mein kleiner Bruder. Egal, ob du nun Mädels magst oder eben Jungs. Es ist nur so ungewohnt für mich."
Ich schaute ihn an. Meinen großen Bruder. Und obwohl wir uns in diesem Moment so nahe waren wie wahrscheinlich lange nicht, obwohl er nun alles von mir wußte, so kam er mir plötzlich total fremd vor, als würde er nicht dazugehören. Er gehörte in die Welt der Heteros und ich in die schwule Welt. Schwule Welt, was war das überhaupt? Woraus besteht meine kleine schwule Welt? Aus Nils und mehr nicht. Aus einem schwulen Café und einem schwulen Sexshop in Stuttgart. Aus einem schwulen, gutmeinenden, scheißeaussehenden Robert, aus einem verklemmten Boris. Das war meine kleine schwule Welt. Irgendwie ganz schön armselig. Oder doch nicht. Denn da war Nils. Meine eigene, kleine große Welt. Mehr brauche ich doch eigentlich gar nicht.
"Wie ist denn das, wenn man schwul ist, werdet ihr, also du und dein Freund, zusammenziehen, wenn du ausziehst?"
"Ich weiß es nicht. Das ist ja auch das erste Mal für mich." Ich war selber überrascht, wie ich über die ganze Angelegenheit blödeln konnte.
"Paß auf dich auf, auch mit AIDS und so. Versprochen?"
"Na klar, was denkst du denn? Ich will doch noch eine Weile leben."
Er grinste, knuffte mich in die Seite und ging raus.

Phil weiß jetzt, daß ich schwul bin. Ein seltsames Gefühl.


"Du bist ganz schön leichtsinnig."
"Wieso bin ich leichtsinnig? Soll ich meinen Bruder etwa anlügen?"
"Machen wir jetzt hier ein privates Kaffeekränzchen oder würden uns die Herren Berger und Salig vielleicht auch bei diesem Training mit ihrer ungeteilten Anwesenheit beehren?" Ich schaute an die Decke. Manchmal ist auch Werner unausstehlich.
Wir hatten erst wieder nach dem Training Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden. Wir standen vor der Halle und ich taperte zum Kocher, warf Steine in dieser bräunliche Rinnsal. "Und du meinst, er hält dicht?"
"Ach komm, wem soll er das denn erzählen?"
"Deinen Eltern, oder was weiß ich denn."
"Mensch Nils! Hast DU mir nicht gestern was über Angst erzählt? Was ist denn los mit dir?"
"Angst ist etwas anderes als sozialer Selbstmord."
"Sozialer Selbstmord, was ist denn das für ein Wort? Irgendwann, früher oder später, werden es alle wissen, werden es alle wissen MÜSSEN."
Nils zuckte. "Aber doch nicht jetzt, jetzt doch nicht." Ich sah, daß er tatsächlich Angst hatte. Nils, mein Nils hatte Angst.
"Es ist halt passiert. Ich lüge meinen Bruder nicht an. Und er erzählt es nicht weiter, da bin ich ganz sicher."
"Ok, ich glaube dir. Wir müssen nur aufpassen, daß wir nicht langsam die Übersicht verlieren."
"Die Übersicht?"
"Doris, Heiko, Robert und jetzt Phil."
Ich schüttelte nur den Kopf. Was für eine verrückte Welt.

Dienstag, 26. August 1997

26. August

"Wo bist du denn?"
"Was?"
"Du bist so weit weg? Woran denkst du?"
Wir lagen irgendwo auf dem Boden in Nils' Zimmer. Die Party war ein voller Erfolg gewesen. Alle möglichen und unmöglichen Leute waren da und ich war zwischendurch auch richtig gut drauf. Hatte Heikos Anruf vergessen, jede Menge Flens getrunken (weiß der Teufel, WO Nils DAS hier herbekommen hat), wie blöde getanzt. Irgendwann verzogen sich die Leute und es bleiben nur noch wir beide zurück.
"Du warst den ganzen Abend so gut drauf und auf einmal bist du so nachdenklich."
Ich schwieg.
"Tiiim! Was ist los? Hab ich dich mit irgendwas verärgert?"
"Nein, hast du nicht, ach Mensch. Du hast heute Geburtstag. Ich will jetzt nicht darüber reden."
"Komm schon, was ist los."
"Nils, bitte."
"Nichts da, da ist doch was, los jetzt, sage es mir."
"Heiko hat angerufen."
Nils zog die Stirn kraus: "Ja und?"
"Er kommt nach Stuttgart, weiß der Teufel wieso und will bei mir pennen."
"Und was hast du ihm gesagt?"
"Nichts, ich habe gesagt, daß ich das erst klären muß."
"Und WAS willst du klären? WAS WIRST du ihm sagen?"
"Ich werde sagen, daß er nicht bei mir pennen kann."
"Wieso nicht?"
"Wieso nicht? Mensch, das fragst DU?"
"Ich denke, du bist darüber hinweg. Also, dann kann er auch bei dir schlafen."
Ich blickte Nils völlig entgeistert an. Er meinte es anscheinend ernst.
"Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?"
"Muß ich dir die Entscheidung jetzt abnehmen, oder was?"
"Ich habe meine Entscheidung schon getroffen."
"Ja, indem du wieder mal wegläufst."
"Das ist doch wohl alles nicht wahr. Haben wir nicht schon genug Streß gehabt wegen Heiko? Und jetzt sagst du so ganz einfach: 'Na klar, soll er doch bei dir pennen.'"
"Früher oder später wirst du ihn doch sowieso treffen. Spätestens in Leipzig. Also, wo ist das Problem?"
"Das Problem ist, daß ich dich nicht verstehe. Du weißt ganz genau, was Heiko für eine Rolle gespielt hat, und ich bin mir nicht sicher, welche Rolle er immer noch spielt in meinem Leben."
"Das ist es. Du hast Angst. Mein kleiner Freund Tim hat mal wieder Angst."
"Ja, verdammt noch mal, ich habe Angst. Ich habe Angst, daß ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle habe. Ich habe Angst, daß ich wieder völlig abdrifte. Ich habe Angst, daß wir irgend etwas machen, was ich nicht will."
"Was du nicht willst? Du machst doch sowieso immer nur das, was du willst. Aber du hast Angst. Ja, das glaube ich dir sogar. Wie lange willst du weglaufen? Wie lange willst du vor Heiko weglaufen?"
Ich verfluchte das viele Bier, was ich getrunken hatte: Ich konnte nicht mehr vernünftig denken und antworten. Aber Nils war glasklar im Kopf. Er rutschte zu mir und nahm mich in den Arm: "Du bist mein Freund. Und ich vertraue dir. Wirklich, ich vertraue dir. Das klingt vielleicht total komisch. Aber es ist so."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Warum vertraut mir Nils, wenn ich mir selber nicht einmal vertraue? Ich weiß nicht, was ich machen werde, wenn Heiko neben mir liegt. Wenn ich ihn überhaupt nur wiedersehe. Ja, davor habe ich Angst. Und Nils vertraut mir, daß ich das Richtige in diesen Augenblicken mache. Laufe ich wirklich weg, wenn ich Heiko absage? Ist es nicht in Wirklichkeit so, daß ich weiß, wo ich hingehöre, nämlich zu Nils?
"Und?" Nils blickte mich fragend an.
"Was und?"
"Wie entscheidest du dich?"
"Ich entscheide mich für dich."
"Das ist keine Antwort."
"Das ist eine Antwort. Die einzig richtige Antwort. Und jetzt laß uns dieses bescheuerte Thema endlich vergessen. Bitte! Du hast Geburtstag und ich will einfach nur bei dir sein und dich fühlen."
Nils nahm meinen Kopf in seine Arme und küßte sanft meine Stirn. "Du bist schon ein Chaot. Mein kleiner Tim-Chaot."

Wieder ein unbequemes, schmerzhaftes Aufwachen auf dem Fußboden. Übersät mit Chips, Konfetti und sonstwelchen undefinierbaren Dingen. Nils neben mir. In einem Jahr werden wir beide achtzehn sein. Volljährig. Komisches Wort. Und eigentlich kann uns dann keiner mehr. Eigentlich. Aber ich weiß, daß das natürlich so nicht stimmt.

Wir haben beide beschlossen, Krafttraining ausfallen zu lassen. Statt dessen sind wir ins Freibad getapert, sind ein bißchen geschwommen und haben ansonsten nichts gemacht.
Wird es Herbst? Ein komischer kalter Wind kam auf, als wir uns wieder anzogen. Sieht die Sonne anders aus? War sie nicht strahlender, gelber, weißer? Und jetzt sieht sie irgendwie goldener aus. Manchmal glaube ich, ich habe Halluzinationen. Das Thema Heiko haben wir nicht mehr angeschnitten. Und ich habe es den ganzen Tag aus meinem Kopf verdrängt. Ich werde ihm absagen. Was soll dieses Spiel. Heißt es nicht irgendwo "Und führe uns nicht in Versuchung?". Vielleicht ist es feige von mir. Aber Heiko kommt noch früh genug zurück in mein Leben. Im Oktober. Und das wird schon weh tun. Verdammt, und erst jetzt fällt mir ein, daß die beiden sich ja dann auch wieder gegenüber stehen werden: Heiko und Nils. Und beide wissen voneinander und von mir. Oh Shit, ist das eine bekloppte Situation. Und mich wundert noch was: Warum trete ich eigentlich in Leipzig an und Nils nicht? 'Ich verheize mich doch nicht in so einem zweitklassigen Wettkampf', das sieht Nils ähnlich. Ich, ich lasse mich verheizen. Das heißt, ich verheize mich selber. Mit Heiko, für Heiko, gegen Heiko. Und ich weiß, daß ich mit aller Kraft gegen ihn gewinnen will. Ja, es ist dieses verdammte Gefühl der Hilflosigkeit, was ich loswerden will. Diese Überlegenheit von Heiko will ich besiegen, die einfach nur deshalb da ist, weil ich in ihn verliebt war oder vielleicht auch noch bin.
Bin ich eigentlich noch ganz normal?
Es klopft. Phil!

Montag, 25. August 1997

25. August

"Bist du in zwei Wochen in Bergbach, oder bist du noch in den Ferien weg?"
"Ich bin da, wieso?"
"Ich werde nach Stuttgart fahren und vielleicht kann ich ja eine Nacht bei dir pennen?"
"Bei mir?"
"Ja!
Ich schwieg.
"Was ist denn los? Warum sagst du nichts?"
"Ich weiß nicht, ja, nein, ich meine ja, ja sicher kannst du bei mir pennen, ich meine, wenn meine Mutter nichts dagegen hat. Nein, ich meine sie hat bestimmt nichts dagegen, wahrscheinlich. Obwohl, mein Bruder ist gerade da." Ich stammelte wirres Zeug. Ich sagte, daß er in ein paar Tagen noch mal anrufen soll, daß ich versuche das zu klären. Als ich aufgelegt hatte, versuchte ich Ordnung in meine Gedanken zu bringen, aber ich schaffte es nicht. Er kommt hierher! Nach Bergbach. Wieso er? Wieso jetzt? In einer halben Stunde will ich lostapern zu Nils' Geburtstagsparty. Zu meinem Nils! Und da muß ausgerechnet ER anrufen: Heiko!!
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
"Dann sag' einfach nichts."
Nils legte seinen Kopf gegen meinen und fing an zu weinen. Nils weinte tatsächlich. Es war kurz nach Mitternacht. Ich hatte alles für das Picknick vorbereitet, dann hatte ich ihm die Augen verbunden, die Kerzen angezündet (was bei dem Wind gar nicht so leicht war) und den Champagner aufgemacht. Um Punkt Mitternacht habe ich ihm die Binde abgenommen und er konnte das gar nicht fassen. Er fing wirklich an zu weinen.
"Happy Birthday."
Statt einer Antwort drückte er mich an sich. Es muß schon eine völlig seltsame Szene gewesen sein. Da sitzen zwei Jungen mit Champagnergläsern mitten im Wald in einem Kerzenmeer und liegen sich in den Armen. Aber da war niemand außer uns beiden. Und wir beide waren uns genug. Ein Geburtstagspicknick um Mitternacht. Ein wenig Angst hatte ich, daß Nils das albern finden würde. Aber er war hin und weg. Wir schlugen uns den Bauch voll, tranken zwei Flaschen Champagner aus und duselten vor uns hin. Das Wetter meinte es gut mit uns und wir schliefen tatsächlich ein.
"Verrückt", murmelte Nils beim Einschlafen, "verrückt, aber sooo schön."

Um sechs Uhr wurde ich wach. Kalt und hart war der Boden. Nils lag in meinem Arm. Unten in Bergbach läutete die Heilige Angela von Irgendwas zur Morgenmesse. Romantisch, verrückt, aber auch ganz schön unbequem.
"Jeder eine Flasche...das macht schon ganz schön müde, was?"
"Allerdings. Aber es war der schönste Geburtstag, den ich hatte."
Ich grinste. Wir sammelten unseren Picknickkram ein und taperten langsam in Richtung Ort.
"Heute abend um sieben?"
"Heute abend um sieben. Doris kommt übrigens auch."
"Sehr schön, es wird bestimmt nett."
"Ich denke auch."
"Wenn auch nicht so nett, wie die letzten beiden Nächte mit dir." Er küßte mich heftig zum Abschied.

Sonntag, 24. August 1997

24. August

"Das hätte mich ja auch gewundert, wenn du mal einen Abend zu Hause bist."
Ich kann das echt nicht mehr ab. Dieses ewige Genörgele von Mom. Was soll denn das überhaupt heißen? Schließlich war ich gestern abend zu Hause. Und noch dazu an einem Samstag. Also, was soll das? Aber ich habe beschlossen, mir die Laune nicht verderben zu lassen. In ein paar Stunden hat Nils Geburtstag und ich habe mir etwas wirklich schönes überlegt. Wir werden ein Mitternachtspicknick machen. Am Kochertalweg, so richtig mit Champagner, Kerzen und allem drum und dran. Wir werden in seinen Geburtstag hineinfeiern. Nur wir beide ganz alleine.

Phil scheint es trotz Gipsarm ganz gut zu gehen. Ich glaube, er genießt es, wieder zu Hause zu sein und nicht in einer Kaserne. Wir haben den ganzen Tag im Garten verbracht und es war richtig nett. Lisa hat Phils Gips mit allerlei Malereien verziert, was gar nicht so einfach war, weil das so ein komischer Kunststoffgips ist. Aber immerhin hat er jetzt jede Menge lachender Sonnen drauf.

So, jetzt werde ich so langsam zu Nils fahren und dann geht es los. Ich hoffe, er freut sich. Nein, ich bin ziemlich sicher, das es ihm gefallen wird.

Samstag, 23. August 1997

23. August

Es ist schon seltsam. Wir haben den ganzen Samstag nichts besonderes gemacht. Irgendwann sind wir beide gleichzeitig aufgewacht, sind zusammen in die Badewanne gesprungen und haben mal wieder das halbe Bad unter Wasser gesetzt. Dann haben wir mit allen Schikanen gefrühstückt und den Vormittag über in der Sonne verbracht. Immer, wenn uns nach Kuscheln war, sind wir reingegangen. Gegen eins hat Dad angerufen und Bescheid gesagt, daß sie jetzt in Berlin losfahren. Wie lange brauchen sie? Sechs, sieben Stunden? Gnadenfrist für Nils und mich. Gegen fünf zottelt er dann los. Vorher haben wir das Chaos im Haus beseitigt. Ich möchte ihn nicht loslassen, umarme ihn fest, so fest, daß er fast keine Luft mehr bekommt. Dann düst er los, ich sehe, wie er die Straße hinunter fährt und hinter der Kurve verschwindet. Und plötzlich ist mir, als wenn es kühler wird, als wenn die Sonne nicht mehr so hell scheint. Ich gehe ins Haus, in mein Zimmer, mache mein Bett. Nils' Geruch auf dem Kopfkissen. Ich vergrabe mein Gesicht darin. Sammele die Handtücher ein, sein altes T-Shirt. Es ist ein seltsames Gefühl, wie Abschied nehmen. Plötzlich komme ich mir so einsam vor. Ein Tag mit Nils und schon fühle ich mich nach einer Stunde ohne ihn total allein. Ich sage mir, daß das doch alles Unsinn ist, daß ich ihn morgen wiedersehen werde. Aber das hilft mir nicht wirklich. Ich vermisse ihn, und das nach einer Stunde.

Phil ist wieder da. Mit Gipsarm, dünn ist er geworden, aber sonst ist er ganz der alte Phil. Mein Brüderchen ist wieder da! Lisa ist todmüde von der Mammuttour und Mom und Dad scheinen total genervt zu sein. Jedenfalls haben Phil und ich noch total lange gequatscht, obwohl er auch total müde gewesen war. Er hat mir die ganze Story noch mal erzählt, wie das alles passiert ist. Daß die ganzen Wehrpflichtigen bis zum Umfallen geschuftet haben, während die Berufssoldaten dumme Sprüche gemacht und rumgesoffen haben. Mir lag zwar immer wieder "Selber schuld" auf der Zunge, aber irgendwie wäre es dann doch unpassend gewesen, in dem Moment.
"Brauchst du eine Krankenschwester, die dich ins Bett bringt?" wollte ich wissen.
"Hättest du denn eine für mich?"
"Für mein Brüderchen organisiere ich alles."
Es ist schön, daß er wieder da ist. Daß unsere Familie wieder zusammen ist.
Ich werde noch mal Nils vor dem Einschlafen anrufen.
"Ich hab dich lieb."
Nils letzte, leise gemurmelte Worte vor dem Einschlafen. Ruhig und gleichmäßig atmet er neben mir und ich bin glücklich. Wieder eine dieser Nächte, die ich für immer festhalten möchte. Eine perfekte Nacht als Abschluß eines perfekten Tages. Nils kam irgendwann mit der Pizza. Ich hatte inzwischen einen Rotwein aus Dads Weinkeller hervorgeholt und wir machten ein Pizza-Picknick im Garten. Und dann machten wir: GAR NICHTS. Wir lagen einfach nur da, in der Sonne und schwiegen. Wir brauchten nichts zu sagen. Meine Schmerzen waren weg und mir ging es so gut wie lange nicht mehr. Irgendwann gingen wir rein, in mein Zimmer. Nils in meinen Armen, seine Küsse auf meiner Haut. Nils überall, aufbäumen, das Lächeln auf seinem Gesicht. Dieses Lächeln, dieses zufriedene, selige Lächeln. Winzige Schweißtropfen auf seiner Stirn.
Und ich habe schon wieder Lust, wenn ich ihn so da liegen sehe. Doch ich lasse ihn schlafen. Diese Ferien sind die perfekte Fortsetzung von Korsika. Ich mache das Fenster weit auf. Irgendwelche Grillen oder Viecher, die sich für etwas ähnliches halten, zirpen um die Wette.

Ich bin 17, ich bin schwul, ich habe einen Freund und ich bin...ich bin glücklich. Ja, wirklich, ich bin glücklich. Ich merke zum ersten Mal, daß ich alles habe, was ich brauche. Ich werde mich zu Nils legen, meinen Kopf auf seine Brust legen und einschlafen, ganz ruhig und glücklich.

Freitag, 22. August 1997

22. August

"Nicht, daß ich meinen einen Sohn aus dem Krankenhaus hole und der andere eingeliefert wird."
"Nein, mach dir keine Sorgen. Das ist nur der Muskelkater von gestern."
Wenn das Muskelkater ist, dann ist der reif für das Guinness-Buch der Rekorde. Meine Arme, meine Brust, alles ist übersät mit blauen Flecken. Ich habe versucht, so tapfer wie möglich zu sein. Jedenfalls bis Dad und Lisa abgefahren sind. Danach bin ich in die Küche gekrochen und habe ein paar Paracetamol-Tabletten in mich reingestopft. Ich habe wirklich Angst, daß etwas gebrochen ist. Aber was? Mir tut wirklich ALLES weh. So schlimm war es ja nicht mal nach meinem allerersten Training. Ich ließ mich auf einen Liegestuhl im Garten fallen und schloß die Augen. 'Ich höre auf', hörte ich mich murmeln, 'ich höre einfach auf mit diesem bekloppten Sport.' Bin ich denn wirklich schon so gehirngewaschen? Mir tut alles weh, ich habe jede Menge blauer Flecken, ich weiß nicht, ob ich mir irgendwas gebrochen habe - also WAS SOLL DAS? Ich könnte die Nachmittage mit so viel anderen Sachen verbringen, als in dieser stinkigen Halle. Die Samstage anders als auf diesen bekloppten Turnieren mit spießiger Bratwurst, selbstgebackenem Kuchen und plörrigem Apfelsaft aus Pappbechern. Ich könnte mit Nils...mit Nils? Ich sitze in der Falle. Ich sitze echt in der Falle! Nils würde das nie mitmachen. Niemals! Er würde es ja nicht mal verstehen, wenn ich aufhöre. Er selber würde nie aufhören. Verdammt. Was wäre, wenn er sich entscheiden müßte? Zwischen mir und dem Ringen? Was soll diese Frage? Ich kenne die Antwort und diese Antwort macht mir Angst und macht mich traurig. Nils würde alles, aber wirklich ALLES für sein Ringen opfern. Ich sitze in der Falle. In einer Falle, in die ich selber getapert bin. Und trotzdem. Ich werde aufhören. Ich muß aufhören. Ich will aufhören.
Mein Telefon klingelt oben in meinem Zimmer. Ich lasse es klingeln. Ehe ich nach oben gekrochen bin, hat es sowieso aufgehört. Ich schließe die Augen. Versuche mir vorzustellen, wie Nils darauf reagiert, wenn ich ihm sage, daß ich aufhöre zu ringen. Das Telefon klingelt wieder. Irgendwann muß ich eingeschlafen sein. Ich wache auf, weil mich jemand an der Nase kitzelt.
"Nils!"
"Wie geht's dir?"
"Was machst du denn hier?"
"Du bist nicht ans Telefon gegangen, da habe ich mir Sorgen gemacht. Außerdem wollte ich dir dein Fahrrad vorbeibringen."
Da stand er, mein Nils, ich sah ihn nur im Gegenlicht, aber er sah so niedlich aus. Normalerweise finde ich kurze Hosen albern. Aber Nils sah einfach nur geil da drin aus.
"Wie geht's dir?" fragte er noch mal.
"Beschissen."
"Tut dir immer noch was weh?"
"Mir tut nicht nur 'was' weh, mir tut ALLES weh!"
Er griff meine Hand: "Es tut mir leid."
Ich nickte. Sollte er ruhig leiden, das geschieht ihm ganz recht. Soll er ruhig ein schlechtes Gewissen haben. Er ging ins Haus, um was zu trinken zu holen. Ich versuchte aufzustehen und es ging erstaunlich gut. Ich weiß nicht, ob die Schmerzen durch die Tabletten weg waren oder weil Nils da war.
Nils kam zurück: "Hey, du kannst ja wenigstens wieder stehen."
Ich mußte lachen. Ich sah seine strahlenden Augen. Ich sah Nils, der doch so stolz war, daß er es geschafft hatte, daß ich in seiner Mannschaft bin. Der alles daran setzte, daß ich den nächsten Wettkampf gewinne. Ich schaffte es einfach nicht, ihm zu sagen, daß ich aufhören will.
"Heute abend Tofa?"
"Tofa oder Sex?"
"Tofa UND Sex?"
"Sex in der Tofa?"
"Oder mit dem Mofa in die Tofa?"
Richtig doll lachen konnte ich noch nicht, dafür tat mir mein Brustkorb noch zu weh, aber es wurde wirklich immer besser. Ich konnte schon wieder aufrecht stehen.
"Wie hast du das eigentlich ausgehalten, bevor wir uns kennengelernt haben?"
"Erinnere mich nicht daran. Es war schrecklich. Ich bin immer fast geplatzt."
"Oller Spinner."
"Nein echt. Ach, das verstehst du nicht."
"Hast du nie gelernt, dich zu beherrschen?"
"Bin ich katholisch, oder was?"
"Was habe ich mir da nur angelacht?"
"Angelacht? Angelacht?", ich ging scherzhaft drohend auf ihn zu, "Darf ich dich nur mal vorsichtig daran erinnern, daß DU mich auf Sylt durch das halbe Zimmer gewirbelt hast?"
"Nachdem DU mir eine filmreife Szene hingelegt hast."
"Der eine ist eben beim Ringen Spitze, der andere eben beim Sex."
"Heißt das etwa...?" Nils' Gesicht wurde düster.
Shit, mir wurde klar, was ich da gesagt hatte. Ich griff nach seiner Hand: "Hey, so habe ich das nicht gemeint. Echt nicht."
"Du bist manchmal unmöglich." Er drückte meine Hand.
"Ich weiß. Sorry."
"Aber vielleicht liebe ich dich ja gerade deshalb. Weil du so verrückt bist."
Ich grinste, ließ mich auf die Liege fallen und schloß die Augen. "Gib doch zu, ich bin unwiderstehlich."
"Manchmal eher unausstehlich."
Irgendwas tropfte auf meine Brust. Nils kippte die Wasserflasche über mir aus: "Damit du nicht vor lauter Eingebildetsein einen Hitzschlag bekommst."
"Gib zu, daß du mich nur mit nassem T-Shirt sehen willst."
Nils seufzte: "Typisch Tim. Naja, vielleicht lerne ich ja auch von dir irgendwann."
Ich blinzelte und grinste.
"Ich habe Hunger."
"Dann müssen wir was kochen."
"Ich kann mich nicht bewegen", protestierte ich.
"Dann mußt du eben hungern."
"Ich dachte, du fährst zum Donald und holst was, damit dein Freund nicht verhungert."
"Zum Donald? Bist narrisch? Viel zu viel Fett."
"Waaas? Jetzt auf einmal?"
"Du sollst doch nicht zunehmen."
"Jetzt ist aber Schluß!" Ich war selber übergerascht von meinem Ton. "Ich trainiere hier echt so, daß ich schon kotzen muß, mir tut jeder Knochen weh, ich habe überall blaue Flecken, man kann jede von meinen Rippen sehen und DU willst mir auch noch vorschreiben, was ich essen darf? Ich hätte nicht übel Lust, das alles einfach hinzuschmeißen."
"Psst." Nils hielt seine Hand vor meinen Mund. "Beruhige dich doch. Das war ein Scherz. Verstehst du, ein Scheherz!"
Ich kam mir albern vor. Auf der anderen Seite bin ich aber auch der Meinung, daß ich Recht habe.
"Ok, wie ist es mit Pizza? Ich habe auf Burger einfach keine Lust."
"Pizza ist auch fein."
Nils düste los. Was für eine verrückte Geschichte das ist mit ihm. So eine wahnsinnig tolle, verrückte Geschichte.

Donnerstag, 21. August 1997

21. August

"Max und Flori kommen auch und wenn du magst auch Doris."
"Aha."
Ich biß mir auf die Zunge. Irgendwie bin ich ein bißchen enttäuscht, daß Nils alle möglichen Leute zu seinem Geburtstag eingeladen hat. Eigentlich wollte ich mit ihm alleine feiern. Nun wird ja wohl nichts draus. Aber was soll ich sagen. Es ist ja schließlich sein Geburtstag.
Wenigstens habe ich jetzt eine Idee, was ich ihm schenken kann. Heute sind Bilder per Post gekommen, die Jackie und Tina gemacht haben. Und wenn ich die zusammen mit den paar Bildern mache, die ich geknipst habe, dann kann ich ein nettes kleines Urlaubsalbum zusammenbeppen. Das wirklich Spannende ist, daß auf den Bildern tatsächlich eine Aufnahme von der Strandparty drauf ist, wo wir uns in den Armen liegen. Was ich nicht ganz verstehe. Weil wenn Tina oder Jackie dieses Foto gemacht hat, dann müssen sie doch gewußt haben, was los ist. Wieso waren sie dann bei dem Grillabend so überrascht? Seltsam.

Eigentlich wollten wir ja heute abend in die Tofa gehen, aber ich streike. Ich streike, weil ich mich fast überhaupt nicht mehr bewegen kann. Es gibt immer wieder Tage, wo ich glaube, daß die Leute bei uns im Verein einen Schuß weg haben. Heute war wieder so ein Tag. Das Training lief eigentlich ganz normal. Irgendwann kam dann Nils auf die Idee, ich sollte einen Trainingskampf gegen Florian machen und zwar richtig mit Punktwertung. Na toll. Ich habe verloren, wenn auch nur um einen Punkt, aber eben verloren. Aber dann kam die Härte: "So, und jetzt gegen Kevin", sagte Nils.

Ich hatte erst gar nicht richtig verstanden, was er meinte. Er meinte tatsächlich ICH sollte gegen Kevin antreten. Nicht, daß ich nicht eben gerade zwei mal drei Minuten hinter mich gebracht hätte. Nein, ich sollte sofort wieder auf die Matte und dann auch noch gegen Kevin, der viel schwerer ist als ich. "Los jetzt. Spiel hier nicht den Schwächling", Nils wurde ungeduldig.
"Kevin ist viel zu schwer für mich", protestierte ich, "das ist nicht meine Gewichtsklasse."
"Möchtest du lieber gegen Silvio ringen?", fragte Nils mit gespielter Gleichgültigkeit.
"Bist du jetzt hier der Trainer, oder was?", murmelte ich, ohne daß er das hören konnte. Der Kampf war natürlich das absolute Desaster. Kevin war zwar wesentlich langsamer als ich und ich schaffte sogar meinen Beinangriff. Dummerweise brachte ich ihn damit so aus dem Gleichgewicht, daß er voll auf mich rauffiel. Ich dachte, ich würde nie wieder lebendig unter ihm hervorkommen, ich bekam keine Luft mehr. Dann war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis er mich geschultert hatte. Toll, ganz toll. So etwas motiviert unheimlich.
Kaum hatte ich mich hochgerappelt, ging das Spiel weiter: "Jetzt gegen Janos."
"Ich denke ja nicht daran, noch mal auf die Matte zu gehen."
"Du gehst auf die Matte." Er hatte es so gesagt, dieser Satz duldete einfach keinen Widerspruch.
Ich war fertig, ich war kaputt, mein Brustkorb tat mir höllisch weh und ich stand da einem frischen und fröhlichen Janos gegenüber. Irgendwann in der Mitte des Kampfes nahm ich noch mal alle meine Kraft zusammen und machte ein paar Punkte. Aber es reichte nicht. Am Ende stand es 10:6 und ich konnte nicht mehr aufstehen. Es ging wirklich nicht mehr. Ich wollte, aber mein Körper tat nicht, was er sollte. Ich rollte und kroch nur noch jämmerlich von der Matte runter. Ich konnte gar nicht so schnell und so tief Luft holen, wie ich wollte, weil mir alles wehtat. Um mich herum drehte sich alles und mir wurde total übel. Ich kam irgendwie zum Klo und mußte kotzen. Ich kotze mir wirklich die Seele aus dem Leib und merkte, wie ich immer noch am ganzen Körper zitterte und kaum Luft bekam. Flo kam hinter mir her: "Ist alles in Ordnung?"
"Nichts ist in Ordnung, mir geht es total dreckig."
"Ich hole mal Nils."
Jetzt erst, wenn ich das hier schreibe, fällt es mir auf, wie selbstverständlich das für ihn schien 'ich hole mal Nils'.
"Hey, was ist denn los mit dir?"
"Was los ist? Mir geht's total dreckig. Das ist los." Ich konnte nicht mal mehr richtig motzen.
"Alles raus?"
"Ich glaube schon."
Er schleppte mich zu einer Bank, bugsierte mich drauf und legte meine Beine hoch.
"So was kommt schon mal vor."
"Mach das nie wieder mit mir. Nie wieder, hörst du? Wenn du mich noch ein einziges Mal so behandelst, dann haben wir echt ein Problem miteinander. Klar?"
"Ist ja gut, vielleicht war es ja wirklich ein bißchen zu heftig für dich."
Warum war er nur manchmal so ein Arsch? Warum gibt es immer wieder Momente, wo ich ihn überhaupt nicht wiedererkenne? Plötzlich scheint Nils ein anderer zu sein.
"Ist irgendwas gebrochen?" Er tastete meinen Brustkorb ab. Eigentlich tat alles weh.
"Ich glaube nicht."

Ich schaffte es mit seiner Hilfe, mich anzuziehen. Aber richtig auf den Beinen konnte ich mich noch immer nicht halten. Shit, wie sollte ich nach Hause kommen? Nils fand das alles total unkompliziert. Er fragte einfach Werner, der grinste zwar und meinte, ich solle mich nicht so anstellen, als er aber sah, wie ich mich ins Auto quälte, grinste er nicht mehr.
Dad machte auf und bekam erst mal einen Schreck: "Was ist denn passiert?"
"Nichts wirklich schlimmes."
"Er hat nur ein bißchen heftig trainiert", schob Nils nach. Toll. ICH habe ein bißchen zu heftig trainiert!
"Hast du Glück, daß deine Mutter nicht da ist. Ich glaube, sie würde eine mittelmäßige Krise bekommen."
Ich schaffte es irgendwie die Treppen hoch in mein Zimmer zu kommen. Lisa guckte mich mit großen Augen an. "Wird schon wieder alles heil", tröstete ich sie.

Mein Bett. Selten habe ich mich so gefreut, in mein Bett zu kommen, wie in diesen Minuten. Nils schloß die Tür hinter uns. Jetzt sah ich, daß er ziemlich besorgt guckte. So ein Wahnsinn, jetzt war ICH kurz davor IHN zu trösten. Er hielt einfach nur meine Hand.
"Sorry, das wollte ich nicht."
Ich nickte und zog ihn zu mir runter, gab ihm einen langen Kuß zum Abschied.
"Morgen", flüsterte ich ihm zu, "morgen bleibst du hier. Da sind wir hier ganz alleine."
Ich sah, wie er strahlte. Ja morgen, wenn ich mich bis dahin wieder bewegen kann.

Mittwoch, 20. August 1997

20. August

"Und jetzt ist Schluß mit der Rumschlamperei."
Na klar, es hätte mich ja auch gewundert, wenn es anders gekommen wäre. Wieder Voll-Power-Training und das bei dieser Hitze. Das einzig Positive ist, daß ich merke, wie meine Beinangriffe tatsächlich besser werden. Das ist aber auch alles. Als das Training zu Ende war, blieb ich noch eine ganze Weile auf der Matte sitzen. Am anderen Ende der Halle tobten sich ein paar Leute von der ersten Mannschaft aus. Aber da ich mich nie darum gekümmert habe, wer nun genau wer ist, erkannte ich sie natürlich nicht. Nils blickte durch die Tür, um nach mir zu schauen: "Wo bleibst du denn? Willst du da sitzen bleiben?"
"Nee, ich wollte nur nicht gleich loswuseln."
Er kam zu mir und setzte sich neben mich. "Ist was mit dir?"
"Nein. Nicht wirklich."
Die letzten Leute verließen die Halle. Es war eine merkwürdige Stimmung. Auf einmal war alles ganz ruhig, nur wir zwei waren noch da.
"Warum ringst du? Warum ausgerechnet Ringen?", fragte ich Nils.
Der schaute mich an, als würde er die Frage nicht richtig verstehen. "Ich weiß nicht, es hat nie was anderes für mich gegeben. Mein Vater hat mich irgendwann im Verein angemeldet und ich bin zum Training gegangen. Und es hat mir gefallen."
"Aber WARUM gefällt es dir?"
"Ich weiß nicht, vielleicht weil es so ist, daß wenn du gewinnst, es DEIN Erfolg ist. Du bist nicht auf irgendwelche Deppen angewiesen, die dir einen bekloppten Ball zuspielen. Nein, nur du ganz alleine, du und dein Gegner auf der Matte."
"Ich glaube, ich verstehe."
"Und du? Warum ringst du?"
"Wir haben doch schon so oft darüber geredet."
"Ja und? Jedesmal hast du mir ein Stück mehr erzählt. Vielleicht kommst du ja jetzt mit der ganzen Wahrheit raus."
"Ganze Wahrheit, was heißt denn das? Meine Güte, du weißt doch, daß ich eigentlich damit angefangen habe, um Tobias eins auszuwischen. Und dann, naja und dann wollte ich dich halt beeindrucken. Ich gebe es ja zu."
"Sind denn wirklich immer nur andere Leute der Grund, warum du das machst?"
Ich mußte einen Moment überlegen. "Nein, nicht nur. Es macht mir ja auch Spaß zu kämpfen und zu gewinnen. Und vielleicht ist es ja tatsächlich auch der gleiche Grund wie bei dir, daß man alles was man macht, selber macht. Wenn ich gewinne, ist es mein Sieg. Und...", ich stockte.
"Ja?"
"Und da ist noch etwas. Vielleicht kannst du es nicht verstehen, weil du es ja schon so ewig machst. Aber für mich ist Ringen etwas, was mir eben nicht leicht fällt. Tennis zu spielen, das ist kein Problem, das habe ich schon eine Ewigkeit gemacht, total easy. Aber beim Ringen muß ich zum ersten Mal etwas vollkommen neu lernen. Und alles, was ich lerne, was ich kann, jeder kleine Fortschritt, das alles habe ICH MIR ERARBEITET."
Nils schaute mich verwundert an: "Das hätte ich ja gar nicht von dir gedacht, daß du das so siehst."
Ich war selbst überrascht. Erst als ich es ausgesprochen hatte, wurde mir das richtig klar. Nils strich langsam mit seinem Finger meinen Rücken runter. Es kitzelte und ich zitterte. "Mach weiter", flüsterte ich, "mach weiter und ich kann für nichts garantieren."
Er lachte: "Das fehlte gerade noch, wir beide hier auf der Matte erwischt."
"Der erste schwule Ringer bei einer Olympiade. Das wäre doch was."
"Hör bloß auf."
"2000, Sydney?"
"Ganz bestimmt nicht, nicht mal 2004, vielleicht danach."
"Jeez, so weit möchte ich gar nicht denken. 2000 sind wir 20 und 2004 dann 24 und 2014 34."
"Willst du noch weiterzählen?"
"Im Moment nicht."
"Na los, oder wolltest du hier liegenbleiben und dich über Nacht einschließen lassen?"
"Nein, da kann ich mir nettere Orte vorstellen."

Das letzte Eis des Tages, wir bummeln durch unsere tolle Fußgängerzone. Manchmal ist sogar Bergbach schön.

Dienstag, 19. August 1997

19. August

"Am Samstag komme ich nach Hause."
Cool, Phil wird endlich entlassen und kann direkt zu uns kommen. Er meint auch, daß es praktischer ist, daß er in der Zeit wo er den Gips hat, bei uns wohnt und nicht bei Oma. Er hat erzählt, daß die Ärzte wohl ganz zufrieden sind, wie die Knochen zusammenwachsen. Hoffentlich kommt das alles wieder so hin, daß er keine Probleme hat. Jedenfalls fährt Dad am Freitag hin und holt ihn und Mom ab. Mal gucken, ob er damit überhaupt noch mal zum Bund muß oder nicht. Vielleicht kriegt er ja auch so was wie eine Entschädigung, oder Schmerzensgeld. Muß ich ihn ja echt mal fragen.

Ich habe heute auf meinen Kalender geguckt und total erschreckt gemerkt, daß Nils nächsten Montag Geburtstag hat. Shit, das hätte ich fast vergessen. Und ich habe echt keine Idee, was ich ihm schenken kann. Aber irgendwas muß mir unbedingt einfallen.

Wenn Nils da ist, sind Ferien hier gar nicht so schlecht. Es ist nicht so wie auf Korsika, aber wir haben heute eigentlich den ganzen Tag zusammen verbracht. Erst waren wir im Schwimmbad und hinterher dann zum Krafttraining. Wobei es schon erstaunlich ist, daß ich tatsächlich merke, daß ich zwei Wochen damit ausgesetzt habe. Und daß, wo wir doch auf Korsika auch trainiert haben. Aber wahrscheinlich ist es wirklich ein Unterschied, ob man so am Strand rumläuft oder eben tatsächlich Gewichte stemmt.

Montag, 18. August 1997

18. August

"Es ist freies Training."
"Und was heißt das?"
"Ihr könnt machen, was ihr wollt."
"Auch nach Hause gehen?"
"Tim!" Ich spürte Nils Ellenbogen schmerzhaft in meinen Rippen.
Dimitri war nicht da und der Aushilfstrainer (weiß der Himmel, WO der herkam) hatte offensichtlich keine richtige Lust, zumal er noch ein halbes Dutzend wuselnder Kids der C-, D- und E-Jugend zu bändigen hatte.
"Immerhin hat er gesagt, wir können machen was wir wollen. Also, ich will jetzt mit dir schlafen."
"Na klar, am liebsten wohl hier und jetzt."
"Warum denn nicht?", grinste ich.
"Das kann ich mir vorstellen, das könnte dir so passen."
"Wir könnten jetzt am Strand liegen, im Meer schwimmen. Aber nein, statt dessen hocken wir in dieser stinkigen Halle."
"Immerhin. Stelle dir mal vor, du hättest nicht angefangen zu ringen."
"Ja und?"
"Meinst du, daß wir da wären, wo wir heute sind?"
"Was meinst du denn?"
"Na glaubst du, das alles wäre so gekommen, wenn du nicht mit dem Ringen angefangen hättest?"
Ich überlegte. Eine seltsame Vorstellung. Wenn ich mir das jetzt so überlege ist das schon eine spannende Geschichte. Eigentlich ist das ganze Leben nur eine Kette von Zufällen, die aufeinander aufbauen. Wenn ich damals wirklich nicht mit dem Ringen angefangen hätte. Was wäre passiert? Ich wäre wahrscheinlich weiter total gefrustet durch die Gegend gelaufen. Was wäre, wenn ich zu Nils so ein unspannendes Verhältnis hätte wie zu Silvio, zu Max oder zu Mehmet? Wäre diese Sache auf Sylt so passiert, wie sie passiert ist?
"Komm, laß uns abhauen. Ich habe echt keine Lust mehr, heute noch irgendwie zu trainieren."
Seltsamerweise war Nils einverstanden und so haben wir vor der Halle rasch Doris angerufen und haben uns mit ihr im Venezia zum Eisessen verabredet. Natürlich durften wir ihr alles von unsere Reise erzählen, aber das war ja auch ok. Sie hatte Lena dabei, die inzwischen schon richtig in die Gegend gucken kann. So sieht es jedenfalls aus.
"Hast du was von Tobias gehört?" wollte ich wissen.
"So weit ich weiß, ist er mit seiner Mutter in den Schwarzwald gefahren."
"Totschick, dann hätte er ja auch gleich hier bleiben können."
"Wo soll er denn hin, mit seiner Chemo? Vielleicht nach Indien, oder eine Weltreise?"
"Ja, ist ja schon gut."
"Und ihr zwei? Wann zieht ihr zusammen?"
Ich guckte zu Nils. "Also wenn ich es mir aussuchen könnte..."
"Laß mich raten: Ihr beide zieht nach Hamburg und du hast dich schon nach einer Wohnung umgeguckt."
Ich mußte lachen: "Fast, beinahe richtig."
"Werde ich auch mal gefragt bei der ganzen Sache?", protestierte Nils.
"Nö, wozu denn auch."
"Vielleicht will ich nicht nach Hamburg."
"Ach ja, ich erinnere mich. Wir haben uns ja auf Stuttgart geeinigt."
"Ich glaube im Moment", sagte Nils, "wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich sofort, gleich und jetzt mit dir in eine Wohnung zusammenziehen."
Mein Herz machte einen Sprung. Ich war so glücklich, das von Nils zu hören. Von meinem Nils!

Sonntag, 17. August 1997

17. August

"Was machst du denn für ein Gesicht?"
"Du fehlst mir."
"Ich bin doch hier."
"Du verstehst nicht, was ich meine."
"Meinst du etwa, daß du heute morgen aufgewacht bist und dir was gefehlt hat? Du hast dich umgedreht da war niemand?"
"Genau."
Nils lächelte: "Was meinst du, wie es mir heute früh gegangen ist?"
Es war ein typischer "Spaziergeh-Sonntag" mit jeder Menge Leute unterwegs und deshalb sind wir vom Kochertalweg gleich weitergezogen und sind den Rötenberg weiter hoch gefahren. Ich hasse Berge und ich hasse diese piefigen deutschen Wälder, diese öde Aussicht, diese totlangweilige Landschaft. Ich will zurück nach Korsika. In diesen kleinen Bungalow, den ich erst so schrecklich gefunden habe. Der aber in den zwei Wochen so zu meinem Zuhause geworden ist, zu unserem Zuhause. Ich will zurück an den Strand, zurück ans Meer, zurück nach Bastia auf die Felsen, wo prollige Franzosen halsbrecherisch ins Meer springen. Ich will zurück zu Vollmondnächten und albern gackernden Mädels, so Grillparties und Trainingssessions am Rande der Belastbarkeit. Das alles will ich zurück haben. Doch das alles ist so weit weg. Aber da ist was, was da ist. Ganz nahe, und was das alles in sich trägt: Nils, mein Nils. Der ist da. Für immer ist er da!
"Na Hauptsache, du hast dich gut erholt."
Gut erholt. Das klingt so nach Kur.
Zurück in Bergbach und seit der Landung in Stuttgart ist mir wieder so als wenn ich in einer Art Gefängnis bin. So muß es sein, wenn man ein Korsett trägt. Auf Korsika war alles frei, ich konnte durchatmen, ICH fühlte mich frei. Hier ist alles wieder so eingeengt.

Der letzte Tag war schön, aber er ging viel zu schnell vorbei. Irgendwann am Morgen wachten wir auf. Genau rechtzeitig zum Sonnenaufgang. Wir haben kein Wort geredet. Saßen einfach nur da, hielten uns fest und schauten zu, wie der rote Ball der Sonne langsam aus dem Meer aufstieg. Dann sammelten wir unsere Sachen und die Reste zusammen und taperten zurück zum Haus. Es war eine seltsame Stimmung. Wir waren beide glücklich, aber wir merkten gleichzeitig, daß unser gemeinsamer Urlaub jetzt vorbei war. Auf einmal schien Nebel aufzuziehen, alles sah seltsam traurig aus. Ein letztes Mal zum Frühstück getapert. Ein letztes Mal im Meer gebadet. Es war schön wie immer, aber trotzdem anders. Wir redeten kaum und wußten doch, was der andere dachte. Es war, als wenn diese Welt, unsere kleine Welt, in der wir zwei Wochen so glücklich waren, stirbt. Sie stirbt, jede Sekunde, jede Minute ein klein wenig mehr.
Der Bustransfer zum Flughafen, Check-In. Alles ganz automatisch. Nils zittert wieder neben mir im Flieger. Ich halte seine Hand. Dann Landung in Stuttgart. Wir liegen uns ein letztes Mal in den Armen, ein langer Kuß. Scheiß drauf, was die anderen Passagiere denken. Ich habe einen Kloß im Hals. In der Halle warten Dad und Lisa. Mom ist in Berlin. Die Fahrt zurück ist voll mit Erzählen. Es geht ganz automatisch. Nils und ich spielen uns die Bälle zu. Endlos die B29, die Kreisel-Baustelle, alles so vertraut und trotzdem so weit weg. Halt vor Nils' Haus. "Wir sehen uns." Nicken. Der Kloß im Hals läßt mich fast nicht atmen. Ich sehe, wie er in der Tür verschwindet, sich noch mal kurz umdreht. Eine Zehntelsekunde zwinkern seine Augen.

Zu Hause mit Mom und Phil telefoniert. Wenn er Glück hat, kann er nächste Woche nach Stuttgart verlegt werden. Ich öffne das Fenster in meinem Zimmer. Es ist so seltsam. Zwei Wochen war ich fast jede Minute mit Nils zusammen. Auf einmal kommt mir mein Zimmer so groß und einsam vor. Zwei Wochen war seine Stimme, sein Atmen, seine Geräusche um mich herum. Und auf einmal bin ich allein und es ist alles plötzlich so still. Ich drehe mich um, doch da ist kein Nils. Keine Veranda, auf der er sitzt. Wir haben natürlich telefoniert. Die halbe Nacht haben wir telefoniert. Doch das ist nicht dasselbe, als wenn er hier ist. Hier bei mir.
Eben bin ich aufgewacht. Ganz automatisch habe ich nach seiner Hand getastet. Aber da war er nicht. Kein Nils. Das "Rappel"-Schild auf meinem Schreibtisch. 'Dann nimm es doch mit als Erinnerung' hatte er gesagt. Ja, als Erinnerung an die schönste Zeit in meinem Leben!!!

Samstag, 16. August 1997

16. August

"Ich hab dich lieb." Das waren die letzten Sätze, die Nils murmelte, ehe er in meinen Armen einschlief. Es war ein schöner Abend, eine schöne Nacht gestern. Wir hatten erst tierische Schwierigkeiten, das Lagerfeuer anzukriegen, weil es gegen Abend ziemlich windig wurde. Aber als es dann endlich knisterte, wurde es richtig gemütlich. Alle Leute, die vorbeikamen, haben richtig ein bißchen neidisch geguckt. Tina und Jackie kamen auch, haben kurz "Guten Abend" gesagt, aber haben ganz schnell verstanden, daß wir allein sein wollten. Wir haben uns tierisch den Bauch vollgeschlagen. Natürlich haben wir viel zu viel eingekauft und picknicken, so ohne Tisch, ist richtig schwierig. Diesmal haben wir nicht diesen scheußlichen Lambrusco gekauft, sondern richtig schönen französischen Landwein. Der ging natürlich total schnell in den Kopf. Da saßen wir also am Strand, der Mond sah fast wieder nach Vollmond aus und silberte das Meer und den Strand ein. Die letzten Reste vom Lagerfeuer knisterten und Nils lag in meinen Armen. Einfach nur so. Er war da und das reichte. Was wäre wohl, wenn wir so in Bergbach auf dem Marktplatz sitzen würden? Auf dem Stufen vor unserer Schule? Was würde passieren? Ich will nicht mehr Versteck spielen müssen. Ich will nicht immer aufpassen müssen.

Nils schläft. Zum Glück haben wir eine Decke mitgebracht. Ich decke ihn zu und gehe die paar Schritte zum Wasser hinunter. Niemand ist mehr da. Der Strand, das Meer ganz für uns allein. Wir sind allein auf dieser Welt. Wir brauchen niemanden anderes. Ich habe eine komische Phantasie. Mir kommt dieser Film in den Sinn, wo ein Typ plötzlich aufwacht und ganz allein auf der Welt ist. Was wäre, wenn Nils und ich aufwachen und feststellen, daß wir ganz allein auf der Welt sind? Nur wir beide. Irgendwie finde ich diese Vorstellung spannend. Was würde passieren?
Ich gehe zurück zu Nils, kuschele mich an ihn, schreibe diese Zeilen.
"Wo warst du?" murmelt er kaum verständlich.
"Am Wasser", flüstere ich.
"Der kleine Tim und das Meer", brummt Nils.
Ich lege das Tagebuch jetzt weg.

Freitag, 15. August 1997

15. August

"Ach, meldest du dich auch mal wieder?"
"Ja, äh, wieso?"
"Du hättest dich ja ruhig in der Zwischenzeit mal melden können."
"Ist doch nichts passiert."
"Vielleicht bei dir nicht. Aber Philipp ist immer noch in Berlin in der Klinik. Sie mußten ihn noch mal operieren."
"Ach du Scheiße! Und jetzt? Ich meine, wie geht es ihm?"
"Inzwischen wieder ganz gut."
"Was ist denn passiert?"
"Eine Infektion. Ich habe ja gleich gesagt, daß wir ihn zum UKE bringen, aber diese Deppen da in Berlin..."
Na toll. So richtig passend zum Urlaubsabschluß. Phil liegt immer noch in der Klinik und Mom ist eingeschnappt, daß ich mich nicht jeden zweiten Tag gemeldet habe. Ganz toll.

"Ist dir eigentlich klar", fragte ich Nils, "daß wir morgen Abend wieder zurück müssen?"
"Och Shit, stimmt ja. Ich will so gerne noch hier bleiben. Hier mit dir."
"Mir geht es genauso. Ich weiß gar nicht, wo die ganzen Tage hin sind. Warum haben wir nicht drei Wochen genommen?"

Wir haben beschlossen, heute Abend ein Lagerfeuer und ein Picknick am Strand zu machen. Wir haben richtig groß in diesem kleinen Supermarché eingekauft. Den Rest des Tages haben wir mit Gammeln und Schwimmen und Training verbracht. Wir haben Tina und Jackie am Strand getroffen und uns kurz mit ihnen unterhalten. Ich glaube, es war ihnen total peinlich, wie sie sich gestern benommen haben. Sie haben jedenfalls so was gesagt wie 'das alles nicht so ernst nehmen' und so.

Es ist schon seltsam. Hier, ganz weit weg von zu Hause, hier macht mir das überhaupt nichts aus, daß ich schwul bin, mit Nils Hand in Hand rumzulaufen, ihn richtig zu umarmen. Hier kennt mich niemand, hier ist es mir total egal, was die anderen Leute denken. Und ich glaube, daß es Nils genauso geht. Nils, mein Nils, ich liebe ihn und ich liebe ihn sogar, wenn er wieder diesen verbissenen Trainingsblick in seinen Augen hat. Gescheucht hat er mich, den Strand rauf und runter, Single Leg, Double Leg, ich konnte wieder am Ende nicht mehr klar denken. Irgendwann bin ich einfach liegengeblieben.
"Los, weiter!"
"Nein."
"Eine Runde noch, nur noch eine!"
"Das hast du vor fünf Runden auch schon gesagt. Ich bewege mich keine Stück mehr von hier, es sei denn zurück zum Haus."
"Schwache Leistung."
"Ich habe Urlaub, Ferien, noch ganze zwei Tage! Ich bin doch nicht in einem Straflager."
Er setzte sich neben mich und ließ Sand auf meine Brust rieseln.
"Tim, mein kleiner großer Ringer. Du bist wirklich gut geworden in dem Jahr."
"Danke."
"Nein, ich meine das ehrlich. Du bist richtig gut geworden. Nicht so gut wie ich", er grinste, "aber so insgesamt. Deine Beinangriffe sind richtig gut und auch sonst. Was dir nun noch fehlt, ist dieser Kampfgeist."
"Das hatten wir doch schon mal."
"Ja ich weiß. Aber das kriegen wir schon noch hin bis Leipzig."
Ich schloß die Augen. Leipzig, Köln, Heiko. Das alles war so weit weg. Die Welt war hier, hier und jetzt. Die Welt war Nils, der Strand, das Meer. Etwas anderes brauche ich nicht.

Wir sind zurück zum Hause getapert, Nils ist unter der Dusche und gleich gehen wir zurück zum Strand und machen unser Picknick. Ich freue mich und trotz der Sache mit Phil geht es mir gut.

Donnerstag, 14. August 1997

14. August

"Und was machen eure Freundinnen in der Zwischenzeit?"
Noch so eine bekloppte Frage. Die Leute sind so engstirnig in ihren Gedanken. Wir saßen bei Tina und Jakki auf deren Terrasse und hatten diverses Grillzeugs in uns hineingefuttert. Was ziemlich ungerecht war, weil sie in ihrem Bungalow einen Grill haben und wir nicht. Aber egal. Nach drei Flaschen Lambrusco und diversen Kilos Nackensteak waren wir richtig in Gammel- und Chill-Laune. "Wir haben keine Freundin."
Ich blickte zu Nils. Der grinste und zwinkerte mir zu.
"Wieso das denn nicht? Das glaube ich nicht. Gebt es doch zu, ihr zwei seid die totalen Casanovas an eurer Schule, so wie ihr ausseht. Euch rennen die Mädchen doch reihenweise hinterher."
"Vielleicht rennen sie uns ja hinter her, aber", ich guckte zu Nils und der nickte mir zu, "vielleicht wollen wir ja auch gar nichts von ihnen."
Tina kniff ein Auge zu, legte den Kopf schief und guckte mich an. Ich glaube, das machte sie nur, weil sie ziemlich breit war. Es sah jedenfalls reichlich bekloppt aus. "Jetzt erzählt mir nicht auch noch, daß ihr zwei schwul seid."
Zum dritten Mal der fragende Blick zu Nils. Ein Nicken.
"Doch."
"Nein!"
"Doch! Habt ihr das nicht schon auf der Strandparty mitgekriegt?"
"Nein. Also ich meine, ich habe das nicht mitgekriegt. Du etwa?" Tina guckte zu Jakki, die wie blöde vor sich hin gackerte. "Und dafür machen wir uns die Mühe!"
"Welche Mühe?"
"Ach vergiß es."
"Ihr habt doch nicht echt geglaubt..."
"Vergiß es ganz einfach. Ok, ihr zwei seid schwul, ja auch gut. Alles klar. Wieso auch nicht."
Ich wurde den Eindruck nicht los, daß die beiden Mädels etwas enttäuscht waren.
"Wieso seid ihr denn jetzt schon schwul?"
"Was heißt denn 'jetzt schon' ?"
Jakki saß immer noch blöde kichernd in ihrer Ecke. Tina schrie sie an: "Hörst du jetzt endlich auf!"
"Göttlich, das ist einfach nur göttlich", gackerte sie, "da versuchen wir die beiden einzigen niedlichen Typen hier anzugraben und dann sind die schwul. Ich werf' mich weg."
Nils und ich guckten uns an und fingen nun auch an loszuprusten. Das war ja alles so total daneben.
"IHR findet das natürlich total witzig, was?"
"Ja! Doch, schon."
Mir ging es richtig gut. Tina hatte ganz offensichtlich zu viel Wein getrunken: "Ich will jetzt einen Typen haben, einen richtigen Mann." Sie schrie laut, so daß es wahrscheinlich das ganze Feriendorf hörte: "Ist hier irgendwo ein Mann, der mich endlich mal fickt!?"
Nils und ich guckten uns an. Wir wußten nicht so richtig, ob uns die ganze Szene peinlich sein sollte, oder ob wir es einfach nur lustig fanden. Wir entschlossen uns für's lustig finden und fingen an zu lachen. Von nebenan kam ein "Ruhe" angeschrien.
"Ich glaube, es ist Zeit, daß ihr beide geht", meinte Jakki und schob uns von der Veranda, "wir sehen uns morgen am Strand."
Den Weg über zu unserem Bungalow waren wir nur am Kichern. Als wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, sahen wir uns an und lagen uns in den Armen.
"Was ist der Unterschied zwischen Heteros und Schwulen?"
"Die Heteros sind noch bekloppter als wir."
Nils lachte: "Und wenn ich noch tausend Mal mehr bekloppt sein müßte: Ich liebe dich!"

Mittwoch, 13. August 1997

13. August

"T'as une amie?"
"Non."
"Toi?" Jean drehte sich zu Nils.
"Non."
"Non? Pourquoi pas?"
Nils und ich guckten uns an. Was sollten wir einem 16jährigen korsischen Typen sagen? Daß wir schwul sind, daß wir keine Freundinnen brauchen? Wie sollte ich das mit meinem Französisch erklären?
Ich zuckte einfach mit den Schultern.
"Ici, 'y a b'coup d'filles, chicas, tu comprends?"
Jean sprach ein entsetzliches Französisch, ich glaube, bei uns würde man prollig dazu sagen. Wir hatten echt Probleme, mehr als ein, zwei Worte pro Satz zu verstehen. Aber das war wahrscheinlich auch kein Verlust, vermutlich sagte er auch nicht mehr.
Wir waren wieder nach Bastia getrampt und lagen auf den Felsen unterhalb der Zitadelle. Ein paar Einheimische waren auch da und es war eigentlich ganz witzig, jedenfalls, so weit wir sie verstanden haben. Nils und ich grinsten uns an und fragten uns, ob wir Jean niedlich finden, und was wir mit ihm anstellen würden, wenn er mit uns mitkommen würde. Zum Glück verstand er nicht, worüber wir redeten. 
"T'as dit quoi?"
"Pas de chose importante. Just kidding."
Unsere Mischung aus Englisch und Französisch war berüchtigt, weil die Franzosen kein Englisch konnten. Jedenfalls nicht das Englisch, was wir redeten. Was schon sehr seltsam war.
Es ist wirklich eine spannende Location. Es sind nur Einheimische da und man kann super gut ins Meer springen. Aber nicht so wie die Einheimischen. Die trauen sich wirklich, vom oberen Rand der Felsen, oder noch irrer, vom Wall, runter ins Meer zu springen. Nils wollte es auch versuchen, aber er hat es dann doch zum Glück gelassen, als er gesehen hat, wie hoch das ist. Ich weiß nicht, ob ich Jean und die anderen Jungs darum beneiden soll, daß sie so cool sind und sich das trauen. Aber wahrscheinlich haben sie ihr ganzes Leben bisher auch nichts anderes gemacht, als nur da runter zu springen.

"Kannst du dir vorstellen, daß wir beide es mal zusammen mit einem anderen Typen machen?"
"Du meinst einen Dreier?"
Wir waren auf dem Rückweg. Und als Nils mit dem Thema anfing, betete ich, daß der LKW-Fahrer, der uns zur Kreuzung der Nationalstraße mitnahm, kein Deutsch verstand.
"Ich weiß nicht, wie kommst du denn da drauf?"
"Findest du Jean niedlich?"
"Ja niedlich schon, aber mehr auch nicht."
"Nein, sei doch mal ehrlich. Was wäre wenn er jetzt mitgekommen wäre und er Lust hätte, was mit uns anzustellen?"
"Was soll denn diese Frage?" Ich schaute ihn verwundert an. Was war denn plötzlich mit ihm los?
"Also?"
Der LKW bremste: "Nous voilà!"
"Also?" Nils war wieder mal unerbittlich.
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht. Vielleicht würde ich gucken, was du dazu sagst."
"Oh?" Nils schaute mich verwundert an.
"Was WÜRDEST DU denn dazu sagen?" Ich nutzte Nils' Verwirrung für meine Gegenfrage.
"In dem konkreten Fall Jean?"
"Ja."
"Ich würde sagen, laß es uns einfach mal ausprobieren."
Ich blieb stehen. Ich war baff. Nils, mein Nils sagte so etwas. Ich war nicht verärgert, nicht enttäuscht. Nur einfach verwundert. Ich habe noch nie über so eine Sache nachgedacht. Immer wenn ich daran gedacht habe, Sex mit jemandem zu haben, dann allein mit dieser Person. Und jetzt sagt Nils so etwas. Nils!!!
"Habe ich dich jetzt verwirrt?" fragte er.
"Verwirrt ist gar nichts. Ich bin total überrascht."
Nils grinste. Mir kamen die Jungs in den Kopf, die, mit denen ich bisher was gehabt habe. Vor allem Heiko und Maik. Die, mit denen ich Nils betrogen habe. Ich glaube, wenn ich mit einem anderen Jungen rummachen würde, während Nils dabei ist, würde ich immer das Gefühl haben, ihn zu betrügen.
"Test bestanden!"
"Wie?"
"Ich wollte mal sehen, wie du reagierst."
"Wie? Wie ich reagiere?"
"Ob du dir das vorstellen kannst."
"Willst du etwa sagen, daß du mich verarscht hast?" Ich ging scherzhaft drohend auf ihn zu.
"Naja, sagen wir mal so, ich hab es nicht ernst gemeint."
"Du Arsch!", rief ich und jagte ihn lachend die gesamte Strecke bis zum Feriendorf, bis zu unserem Bungalow. Er konnte nicht rein, weil ich den Schlüssel hatte.
An der Tür nagelte ich ihn fest und bedeckte ihn mit Küssen: "Du verrücktes kleines Miststück."
"Du glaubst doch nicht wirklich, daß ich dich mit jemandem teilen will?", japste er.

Dienstag, 12. August 1997

12. August

"Mein Gott, was ist denn daran so wild?"
"So wild? Ich bin beinahe irre vor Angst geworden. Ich habe dich gesucht. Die halbe Nacht."
Ich war aufgewacht, irgendwann mitten in der Nacht. Wie jedesmal in den letzten Tagen streckte ich meine Hand nach Nils aus, um mich an ihn zu kuscheln. Doch er war nicht da. Ich tastete weiter, doch da war kein Nils. Ich lag allein im Bett, Nils war nicht da. Erst dachte ich, er wäre im Bad, aber da war er auch nicht. Er war einfach verschwunden. Ich machte Licht an, guckte auf die Veranda: Nichts. Ich suchte nach einem Zettel: Nichts. Wo war er? Wo war Nils? Ich lief unruhig auf und ab. Er tauchte nicht auf. Rasch zog ich mir etwas an und taperte durch die Feriensiedlung. Alles schlief, war ruhig. Kein Nils. Ich ging zu den Restaurants. Zum Strand. Nirgendwo eine Spur von ihm. Ich wurde richtig panisch. Wo war er? Was ist passiert? Warum verschwindet er auf einmal? Ich hatte Angst. War er zur Badeinsel hinausgeschwommen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Jedenfalls nicht nach dem Ding von gestern. Ich ging zurück in's Haus. Vielleicht war er ja inzwischen zurückgekommen. Aber da war kein Nils. Niemand war da. Plötzlich war ich ganz alleine in diesem winzigen Bungalow, der mir auf einmal riesig groß erschien. Ich hielt es nicht lange aus und rannte wieder hinaus, zum Strand. Da saß Nils plötzlich, auf der Mole.
"Was machst du denn hier, mitten in der Nacht?"
"Nachdenken."
"Nachdenken? Worüber denn? Du kannst doch nicht einfach so abhauen." "Ich bin nicht abgehauen. Ich bin nur ein bißchen an die Luft gegangen. Mein Gott, was ist denn daran so wild?"
"So wild? Ich bin beinahe irre vor Angst geworden. Ich habe dich gesucht. Die halbe Nacht."
"Kann ich denn nicht einfach mal nachdenken. Ganz alleine, in Ruhe?"
Ich stand reichlich bedeppert da. Worüber mußte Nils nachdenken? Über uns? Über unsere Freundschaft?
"Mach doch nicht so ein Gesicht, Tim. Bitte, es ist nichts. Komm, setz' dich hin."
Er zog mich zu sich hinunter.
"Hast du das nicht auch manchmal, solche Momente, wo du einfach nur deine Ruhe haben willst, einfach nur anschaltest, nachdenkst? Über alles, alles, was dir so durch den Kopf geht."
"Ja schon, aber, daß du auch so was hast."
Nils grinste: "Weißt du, was egozentrisch bedeutet?"
"Na klar."
"Ich glaube, du bist der egozentrischste Mensch, den ich kenne. Alles, was du machst, ist richtig, alles, was du machst, ist ok. Aber wehe, jemand anderes macht das. Dann verstehst du nichts mehr."
Ich schwieg. Und ich habe Angst, daß er Recht hat. Er nahm mich in den Arm: "Es ist ok so, wie du bist, wirklich. Aber vielleicht habe ich ja auch meine Macken, genauso wie du."
"Ich will dich doch einfach nur nicht verlieren. Ich hab solche Angst gehabt, als du nicht da warst."
"Es tut mir leid, ich hätte dir was schreiben können. Aber ich habe nicht gedacht, daß du plötzlich aufwachst, mitten in der Nacht."
"Willst du, daß ich dich alleine lassen, zum Nachdenken?"
"Nein, bleib' hier. Wir bleiben hier sitzen und gucken uns den Sonnenaufgang an. Keinen kitschigen Sonnenuntergang. Sondern einen kitschigen Sonnenaufgang. Das hat bestimmt noch niemand gemacht."
Es war einfach nur schön. So eine Stimmung habe ich noch nie erlebt. Nils und ich saßen auf der Mole, Schulter an Schulter, das Meer schwappte an die Felsen. Langsam wurde es heller, von irgendwoher kam das Licht. Dann färbte sich alles um uns herum in ein rötliches Orange. Und dann, ganz plötzlich tauchte die Sonne aus dem Meer auf. Die Möwen begannen zu schreien und es war, als wenn die Welt auf einmal anfing zu laufen. Wie eine Maschine, die anfängt zu arbeiten. Es war nicht kitschig, es war einfach nur schön, toll, super, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Ich glaube, ich habe in dem letzten Jahr so viele schöne Augenblicke erlebt, aber dieser Sonnenaufgang war wirklich das Schönste. Kein Mensch auf der Welt ist glücklicher als ich.

Montag, 11. August 1997

11. August

"Das ist doch DAS Schild für dich."
"Wieso?"
"Na du sagst doch immer, so was wie 'Ich kriege einen Rappel!'"
"Ein Rappel ist etwas total anderes als 'Rappel'! Rappel heißt 'Erinnerung' auf Französisch."
"Na, dann nimm dieses Schild eben als Erinnerung mit."
Wir waren auf Landeserkundungstour mit dem Bus und auf einer ziemlich öden Landstraße, die aus einem kleinen Besichtigungs-Ort hinausführte, lag dieses Schild auf der Straße. "Rappel" stand da drauf. Ich hatte in meinem Frankreich-Führer mal gelesen, daß das bei so manchen wiederholten Straßenschildern steht. Aber irgendwie fand ich es auch cool...jetzt habe ich ein "Rappel-Schild."
Zwei andauernd kichernde, nichts ernstnehmende deutsche Jungs auf Besichtigungstour durch Korsika. Eigentlich total daneben. aber wir amüsieren uns total gut. Und nebenher sehen wir ein bißchen etwas von der Insel. Es ist nett hier. Das Wetter ist toll, die Landschaft ist toll. Bis auf den Berg. Auf den wollte Nils unbedingt raufklettern.
"Nicht mit mir", protestierte ich.
"Na komm schon, das ist doch gar nicht so wild."
"Was soll ich auf den Berg klettern, wenn ich hinterher wieder herunterklettern muß?"
"Du bist unmöglich."
"Ich bin nicht unmöglich. Ich hasse nur einfach Berge. Sie sind so, so, so unpraktisch."
"Unpraktisch?"
"Na, zu nichts nütze. Sie stehen einfach nur in der Gegend rum, versperren die Aussicht, und im schlimmsten Fall muß man auch noch raufklettern."
Ok, ich ließ mich dann doch noch breitschlagen und wir kraxelten auf den Berg. Die Aussicht war ja ok, aber ob die diese Anstrengung wirklich lohnte, ich weiß ja nicht.

Sonntag, 10. August 1997

10. August

"Und noch mal."
"Ach nein, Nils, bitte."
"Nix da...es geht weiter."
Nils ist UNERBITTLICH. Er ist der Meinung, zwei Techniken am Boden und zwei Techniken im Stand, das ist es, was ich bis zum bitteren Ende üben muß. Nachdem wir schon den Kopfzug hatten, geht es jetzt an die Beinangriffe. Ich hasse das. Ich hasse diese Situationen, wo Nils den großen Trainer rauskehrt und ich der kleine Doofie bin, der alles mitmachen muß. Ich bin ja selber schuld. Nein, ich hasse es nicht. Es ist ja auch irgendwie toll, daß er das alles für mich macht. Und ich merke, daß mir diese Beinangriffe wesentlich mehr liegen, als die ganzen Würfe und das Rumgerödel am Boden. Nach einer Stunde war ich so gut, daß er es nicht mehr schaffte, seine Beine wegzuziehen. Ich schaffte es ganz easy, ihn auf den Rücken zu drehen. Nein, er hatte nicht aufgegeben, es ging ganz leicht, wie von selbst. Es war schon eine komische Situation. Ich denke, daß uns die Leute am Strand für ziemlich bekloppt gehalten haben, aber eigentlich war uns das ziemlich egal. Nun hatte ich Nils geschultert und lag auf ihm drauf.
"Und jetzt?" fragte er.
"Und jetzt möchte ich dich gerne vernaschen."
Ich merke, wie sich bei ihm etwas regte: "Aber doch nicht hier am Strand."
"Stimmt, das würde wahrscheinlich ziemlich peinlich werden."
"Aber wenn ich so daran denke", er hielt mich fest, so daß ich nicht von ihm herunter konnte, "geil wäre das schon."
Irgendwie war es wirklich ein geiles Gefühl, ihn so unter mir zu liegen zu haben. Das ist mir bisher nur ganz selten passiert, daß ich es wirklich erregend gefunden habe, wenn jemand beim Ringen so unter mir liegt.
"Ich liebe dich", ich küßte ihn auf die Stirn.
Er ließ mich los und ich legte mich neben ihn.
"Was habe ich dir gesagt? In diesen Shorts sieht man ALLES!"
"Ja und? Sieht doch nett aus."
"Du kleines versautes Miststück!" Er warf sich auf mich und wir rollten weiter lachend durch den Sand.
Jetzt hält uns wahrscheinlich jeder auf Korsika für total durchgedreht.
Aber es ist gut, daß er nur beim Ringen besser ist als ich. Wenn wir Wettschwimmen zur Badeinsel machen, dann sind wir wirklich gleich schnell da. Ja und wenn wir Tennis spielen, dann sieht er ganz alt aus. Ja, wir haben heute wieder Tennis gespielt. Ich weiß es ja nicht, ob Nils das macht, um mir einen Gefallen zu tun. Aber er strengt sich wirklich an. Und es macht wirklich Spaß, es wieder mal zu spielen. Vielleicht fange ich ja wieder damit an, wenn ich in Bergbach bin.

Samstag, 9. August 1997

9. August

"I put my arms around him. Yes!"
Nils lag in meinen Armen und sang mit. Eine Super-Party. Es gab richtig nettes Zeugs zum Essen und wir haben getanzt, getanzt und getanzt. Und uns zum allerersten Mal in aller Öffentlichkeit richtig umarmt und geküßt. Es waren mindestens 200 Leute auf der Strandparty. Niemand, niemand hat blöde geguckt, niemand eine blöde Bemerkung gemacht. Zum allerersten Mal in meinem Leben habe ich mich gefühlt, als würde ich total dazugehören. Zu allem, was auf dieser Welt ist. Kein Versteckspiel, keine Lügen. Das Natürlichste auf der Welt. Zwei Jungen tanzen zusammen, umarmen sich, küssen sich. Na und? Warum nicht? Wer auf dieser Welt hat das Recht, sich darüber aufzuregen? Wer hat das Recht zu sagen, das ist verboten, das ist Sünde, das ist unanständig? Niemand! Verdammt noch mal NIEMAND! Ich liebe meinen Nils. Ich liebe ihn und alle können es sehen! Ich will mich nicht schämen!
Was ist schöner auf dieser Welt, als mit Nils zu schlafen? Ihn zu spüren, erst ganz sanft und dann immer heftiger? Seine Finger, die ganz langsam über meinen Körper fahren, sein Atem, seine Lippen. Am Morgen neben ihm aufwachen. Ganz sanft seinen Nacken küssen. Schlaf weiter mein Nils, ich passe auf dich auf. Ich möchte diese Momente wieder festhalten. Diese Morgen, die so ruhig sind, die so sanft sind wie Nils, diese perfekten Momente. Alles stimmt, alles paßt.
Noch schläft alles. Auch die Ruhrgebietsfamilie gegenüber, die immer ihre Kinder anmotzt. Der Wind ist frisch. Und wenn es immer so wäre. So einfach, so selbstverständlich wie auf der Party? Oui c'est mon ami, mon garçon, mon mec. Et je l'aime. Et alors? Vous êtes etonnés? Non? Très bien.
"I put my arms around him. Yes!"

Freitag, 8. August 1997

8. August

"Ich glaube, wenn du mal alt und grau bist, dann sitzt du in einem Schaukelstuhl und guckst den ganzen Tag auf's Meer raus."
"Gut möglich."
Wir haben eine Tagestour gebucht, unter anderem zum Cap Corse. Ich fand das total cool, vor allem weil richtig schöner Seegang war. Ich saß da auf den Klippen und wollte gar nicht weg. Aber eine Sache ist seltsam. Das Meer hier ist anders, anders als die Nordsee. Es ist Seegang, es sind Wellen. Eigentlich sieht alles so aus wie an der Nordsee. Aber dann doch nicht so richtig. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es fehlt ein Stück Wildheit, um mit Nils' neuem Wort zu reden: 'Killer-Instinkt'. Die Nordsee ist irgendwie einen Kick wilder, rauher, ach was weiß ich. Nachdem der Busfahrer zum dritten Mal hupte, mußte ich langsam zurückgehen.

Aber die Insel ist wirklich nett. Wir haben eine ganze Menge Landschaft gesehen und jede Menge schnuckeliger Dörfer. Es ist schon seltsam. Obwohl mich so viele Dinge an den letzten Urlaub in Italien erinnern, so finde ich sie jetzt total interessant. Vielleicht ist es ja, weil Nils dabei ist. Wir spuken durch irgendwelche Altstädte von fast namenlosen Orten, finden jeden Winkel, jeden ollen Stein interessant, spielen in verwinkelten Gassen Verstecken bis die Einheimischen glauben, wir sind vollends verblödet. Orte, die garantiert viel öder sind als Bergbach im Sommerschlußverkauf finde ich auf einmal interessant. Wir nehmen ausgiebig die Gelegenheit zur Weinprobe wahr und können uns gerade noch zurückhalten, den Jahresbedarf Rotwein einer mittleren Stuttgarter Pizzeria zu bestellen. Aber was soll auch eine Pizzeria in Stuttgart mit korsischem Rotwein? Lavendel. Hier riecht alles nach Lavendel, einem Kraut, was hier in Massen wächst. Mom wäre wahrscheinlich entzückt und würde sich die getrockneten Zweige bündelweise in ihre Tonkrüge stellen.

Jetzt sind wir wieder zurück und ziemlich kaputt. Heute Abend ist große Party am Strand angesagt. Es wird bestimmt total lustig, denn ich habe richtig Lust drauf.

Donnerstag, 7. August 1997

7. August

"Tim, aufwachen."
Nils küßte mich auf die Stirn: "Es gibt Frühstück."
"Frühstück?"
Ich weiß nicht wie. Aber Nils hatte es fertiggebracht, einen perfekten Frühstückstisch zu zaubern. Ich dachte echt, ich träume. Sogar ein paar Blümchen standen auf dem Tisch.
"Wie hast du denn das..."
Mit einem Kuß brachte er mich zum Schweigen: "Es tut mir Leid wegen gestern. Ich glaube, ich habe mich ziemlich scheiße benommen."
Ich sagte nichts, konnte nichts sagen. Konnte ihn einfach nur in den Arm nehmen und drücken. Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der glücklicher ist als ich. Und es gibt keinen lieberen Freund auf der Welt als Nils, meinen Nils.
"Was ist denn mit Tennis spielen? Hast du nicht gesagt, du nimmst Schläger mit?"
"Ja, aber ich denke du willst nicht."
"Wir können es ja mal probieren."
"Ach komm, du sollst mir keinen Gefallen tun. Wenn du nicht willst, dann spielen wir nicht."
"Wer weiß, vielleicht macht es mir ja sogar Spaß und ich schlage dich."
"Das glaube ich nun garantiert nicht."
Nils versuchte, sich wacker zu halten, aber es war nicht wirklich gut. Ok, was hatte ich denn erwartet. Er hat noch nie in seinem Leben Tennis gespielt, naja und so hat er dann auch auf dem Platz ausgesehen. Nach einer Stunde war er total außer Atem. ER! NILS war außer Atem!
"Ich denke, wir hören jetzt auf", meinte ich.
"Wie? Jetzt schon? Laß uns weiter spielen."
"Du bist doch schon jetzt total fertig."
"Ich bin nicht fertig. Ich werde gerade erst warm."
Ich mußte lachen, weil mir diese Szene aus 'Ritter der Kokosnuß' in den Kopf kam.
"Wir spielen morgen weiter. Jetzt machen wir etwas anderes."
"Und was?"
"Du wirst schon sehen."
Wir taperten zum Baywatch-Turm und liehen uns zwei Bodyboards aus.
"Jetzt, mein großer Ringer, werden wir raus auf's Meer schwimmen und werden uns auf diese Bodyboards stellen."
"Was? Bei den Wellen?"
"Wo sind hier Wellen? Das Meer ist ruhig wie die Alster um Mitternacht."
"Und was soll das?"
"Das fragst DU mich? Erzählst du mir nicht immer etwas von Gleichgewicht? Ich glaube DAS ist die ideale Gleichgewichtsübung."
"Ich glaube", murmelte Nils, "ich habe einen großen Fehler gemacht, als ich dich zum ersten Mal zum Ringen mitgenommen habe."
Ich grinste. Und ich grinste noch mehr, als wir unsere Session auf den Boards machten. Ich gebe zu, es war gemein, weil Nils ja keine Erfahrung mit Surfen, Bodyboard oder so was hat. Aber ich glaube, es ist wirklich eine gute Sache für das Gleichgewicht. Jedenfalls lag er mehr im Wasser, als daß er auf dem Board stand.

Aber Nils hat dann doch noch Gelegenheit gehabt, sich zu "rächen". Wir machten hinterher wieder Griff- und Techniktraining am Strand. Und natürlich sah ich total blaß aus dabei. Nach einer halben Stunde war ich total fertig. Nils saß auf mir drauf und grinste: "Und?"
"Was und?"
"Wer ist der bessere Ringer?"
"Na wer wohl, was glaubst du denn, beweisen zu müssen?"
Nils blieb sitzen: "Wo ist dein Kampfgeist?"
"Was meinst du?"
"Erinnerst du dich noch daran, als du mich so einfach geschultert hast. Wo ich überhaupt nichts mehr machen konnte."
"Ungern. Du weißt, wie das mir da ging."
"Aber genau das, was du damals in den Augen gehabt hast, das fehlt dir normalerweise immer noch im Kampf."
"Was meinst du denn?"
"Der absolute Wille zu gewinnen. Es gibt nichts anderes mehr in diesem Moment. Nur noch gewinnen. Du mußt diesen Killer-Instinkt kriegen."
"Ich will doch niemand umbringen."
"Darum geht es doch gar nicht. Wenn du ringst, dann ist das so, als wenn du mal eben so zum Spaß auf die Matte gehst. So trallala, gewinne ich, ist es ok, verliere ich, ist es auch ok."
"Na, ist es doch auch."
Er seufzte, ließ mich los und begann auf und abzugehen. "Willst du denn nicht wirklich gewinnen, wenn du ringst?"
"Doch, das will ich."
"Dann mache es. Das meine ich doch. Damals warst du echt so gut drauf, du hättest gegen jeden in unserer Mannschaft gewonnen."
"Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle, das war es."
"Ja, ich weiß. Aber ich glaube, du verstehst, was ich meine."
"Ich kann nicht jedesmal stinksauer auf meinen Gegner werden und ihn dann auch noch zusammenschlagen."
"Aber das ist eben auch Ringen. Nicht nur Griffe, Griffe und noch mal Griffe. Ringen heißt auch, im richtigen Moment die richtige Aggression rauszulassen."
Ich weiß genau, was er meint. Aber ich will es nicht akzeptieren. Ich weiß, wie es mir damals ging. Und ich weiß, daß ich in dem Moment wahrscheinlich sogar Silvio krankenhausreif geprügelt hätte. Ich habe Angst davor, noch mal so eine unkontrollierte Aggression rauszulassen.
"Vielleicht muß ich dich in Leipzig erst total wütend machen, damit du gewinnst. Oder vielleicht muß dich Heiko erst wütend machen?"
"Mußt du jetzt mit Heiko kommen? Jetzt, wo ich gerade darüber weg bin?"
"Bist du das wirklich?"
Ich schwieg. Warum mußte er jetzt damit anfangen? War nicht alles so perfekt hier? Was hatte Heiko hier zu suchen?
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich wirklich da drüber weg bin. Ich weiß nur, daß ich immer seltener an ihn denke."
"Meinst du, daß es total vorbei ist, wenn du gegen ihn gewinnst?"
"Keine Ahnung."
So ein Shit. Mußte er mit dem Thema Heiko anfangen? Jetzt geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Was soll denn das? Ich komme mir so albern vor. Trete ich gegen Heiko an? Warum, warum denn nur? Das habe ich mich doch schon so oft gefragt. Will ich ihn besiegen? Will ich mich besiegen? Will ich ihm etwas beweisen? Will ich mir was beweisen? Will ich Nils was beweisen? Und wenn bei irgendeiner dieser Fragen "ja" rauskommt: Ja, was denn beweisen? War es diese Zehntelsekunde unverschämtes Grinsen von Heiko, als ich in Bergbach gewonnen hatte, dieses Augenblicks-Grinsen, das sagte: "Du weißt genau, daß ich dich habe gewinnen lassen."? Oder ist es dieses Ohnmachtsgefühl, das ich besiegen will? Dieses Gefühl, daß ich in jemanden verliebt bin, an den ich nicht rankomme. Und der mir DARUM überlegen ist. Und daß ich diese Überlegenheit nicht akzeptieren will, daß ich gegen sie kämpfen will und wenn es auch nur auf der Matte ist? Vielleicht ist es ja wirklich der wahre Grund. Das ist doch total daneben. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, daß es das ist.
"Tim? Wo bist du?"
"Überall und nirgends."
Er nahm mich in den Arm und drückte mich fest. "Ich mache dich fit für Leipzig. So fit, daß du alle Chancen hast zu gewinnen. Aber ob du gewinnst, ob du gewinnen WILLST, das liegt ganz allein an dir."
"Nils, ich liebe dich. Ja verdammt noch mal, ich liebe dich mehr als alles auf dieser Welt."
Er drückte mich ganz fest an sich.

Mittwoch, 6. August 1997

6. August

"Nils, nein!"
"Ach komm Tim, du bist langweilig."
"Ich bin nicht langweilig, ich weiß nur, was saugefährlich ist."
"Bist du nicht der Meer-Freak?"
"Ja genau und ich weiß, daß es total daneben ist, besoffen im Dunkeln zur Badeinsel zu schwimmen. Du findest nie mehr zum Ufer zurück."
"Du bist ein Schiß-Hase. Ich habe es schon immer gewußt."
"Nils, Schluß jetzt!"
Es war nur noch peinlich. Nils hatte zu viel Lambrusco getrunken. Wir waren auf der Lagerfeuer-Grillparty mit Tina und Jakki. Und es war eigentlich auch ganz lustig. Wir haben uns wirklich nett unterhalten, rumgeblödelt, es war eine gute Stimmung. Aber wir haben eben auch jede Menge von diesem Scheiß-Lambrusco in uns reingeschüttet. Und dann kam Nils auf die Idee, zur Badeinsel rauszuschwimmen. Irgendwas in mir ließ sämtliche Alarmsirenen schrillen. Ich weiß ja auch nicht, was in Nils vorging. Ob er glaubte, den Mädels oder mir etwas beweisen zu müssen? Jedenfalls war er drauf und dran, ins Meer zu springen und zur Badeinsel rauszuschwimmen. Und das in seinem total besoffenen Zustand, er konnte ja kaum mehr gerade stehen. Jedenfalls habe ich es doch noch mit massiven Körpereinsatz geschafft, ihn davon abzuhalten und zurück zum Bungalow zu eskortieren. Jetzt liegt er im Bett und pennt. Mein Nils. Und ich kann ihm nicht böse sein. Ich möchte ihn beschützen. Einfach nur aufpassen, daß er keine Dummheiten macht. Daß er immer da sein kann.
"Für immer soll es so bleiben", flüsterte mir Nils ins Ohr. Wir waren gestern nach dem Abendessen noch am Strand spazieren. Ganz automatisch und ganz selbstverständlich liefen wir irgendwann Hand in Hand. Dann setzen wir uns und schauten einfach nur raus auf's Meer. Ich hielt Nils im Arm. Spürte die Wärme seines Körper, spürte seinen Atem. Einer von diesen perfekten Momenten, in denen die Zeit stillsteht, in denen ich einfach nur total betrunken bin vor Glück. Wir brauchen nicht zu reden, sind nur da. Es wurde dunkel, es wurde kühl. Aber es wurde nicht kühl, denn Nils war da. "Für immer soll es so bleiben." Ich hatte Tränen in den Augen, so glücklich war ich. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so da lagen. Irgendwann taperten wir zurück. Und wir haben das erste Mal in diesem Urlaub miteinander geschlafen. Ich kann nichts darüber schreiben, weil es einfach so toll war, so unheimlich toll. Ich möchte ihn einfach nur an mich drücken und ihn nie wieder loslassen.

Dienstag, 5. August 1997

5. August

"Wir sind schließlich nicht nur zum Vergnügen hier", meinte Nils lachend.
"Oh doch, zum Vergnügen, und nur zum Vergnügen!"
"Hey, willst DU in Leipzig mitmachen und gewinnen oder ich?"
"Ich will erst mal eines: Ferien machen."
"Ja und?"
"Du bist unmöglich."
"Ich weiß. Also los. Schließlich haben wir gestern schon Training versäumt"
Nils ist unerbittlich. Eine Stunde joggen am Strand. Ich Idiot habe ihn noch auf die Idee mit den verschärften Bedingungen gebracht und so sind wir natürlich in der Brandungslinie gelaufen.
Und hinterher hat er doch tatsächlich mit mir Grifftraining am Strand veranstaltet. Ich dachte echt, ich spinne. Nicht daß es nicht Spaß gemacht hat. Aber irgendwie ist das doch auch total abartig. Es ist Urlaub, Ferien. Wir sind am Strand und Nils macht Trainingssessions. Kopfzug bis zum Umfallen. Irgendwann kamen zwei Mädels vorbei und sprachen uns auf Englisch an, daß wir aufhören sollen, uns zu prügeln. Wir haben versucht, ihnen zu erklären, daß wir uns gar nicht prügeln. Dabei stellten wir fest, daß sie aus München kommen und natürlich auch Deutsch reden. Sie scheinen ganz nett zu sein. Sind gerade mit dem Abi fertig. Wir haben uns für morgen zum großen Lagerfeuer-Grillen verabredet.

Jetzt geht es gleich zum Abendessen. Heute gibt es Pizza, hoffentlich ist die gut, ich habe tierischen Hunger.

Montag, 4. August 1997

4. August

Wir waren in Bastia. Es war richtig nett. Aber dahin zu kommen ist echt ein Krampf. Also erst einmal eine halbe Ewigkeit zur Nationalstraße getapert. Dann haben wir festgestellt, daß der Bus nur vier Mal am Tag fährt und natürlich schon weg ist. Wir haben es dann gewagt, per Anhalter zu fahren. Was ziemlich schwierig war und eine halbe Stunde gedauert hat, bis endlich jemand anhielt. Der hat uns dann erklärt, daß das wohl in Frankreich gar nicht so üblich ist mit dem per Anhalter fahren. Aber Bastia ist ganz ok. Es hat eine richtig knuffige Altstadt. Aber das Spannendste waren die Felsen unterhalb der Zitadelle. Wir haben das erst ziemlich spät entdeckt, daß man auf die Felsen durch einen Mauerdurchbruch auch raufkommt. Von da hat man einen tollen Blick über das Meer und den Hafen und kann auch richtig gut ins Meer. Aber das Beste ist, daß da die ganzen schnuckeligen Jungs von Bastia zu sein scheinen. Nils und ich haben jedenfalls kaum gewußt, wo wir zuerst hingucken sollten und haben das Spiel gespielt, uns auszudenken, wen wir denn nun als erstes mitnehmen wollen. Niedlich waren sie ja wirklich, aber auch einen Happen dusselig. Das merkt man schon, auch wenn ich nicht so toll Französisch spreche. Aber es war wirklich ein total schöner Tag. Wir haben dann sogar ziemlich schnell jemanden gefunden, der uns zurückgebracht hat und sogar bis zum Feriendorf. Nils ist gleich ins Bett verschwunden und ich bin auch total kaputt. Wobei ich gar nicht weiß, wovon eigentlich. Aber ich werde jetzt auch langsam ins Bett tapern.
"Wenn man das hier so sieht, ist Meer doch gar nicht so schlecht."
Ich mußte lachen. Nils und Strand und Meer sind so ein Thema für sich. Wir haben den ganzen gestrigen Tag am Strand verbracht. Einfach nur in der Sonne gelegen und gebadet. Zum Glück haben wir bis jetzt keinen Sonnenbrand bekommen. Was vielleicht auch daran liegt, daß wir uns alle halbe Stunde gegenseitig mit Sonnenmilch eingeschmiert haben. Was sehr, sehr schön war. Es ist so toll, mit ihm zusammen zu sein. Wir reden oder reden nicht. Einfach nur zusammen sein, es ist ein tolles Gefühl.
Das Essen ist hier so, wie die Häuser: Einfach, einfach, einfach. Man wird zwar satt, aber das ist auch alles. Wir haben uns aber auch im Mini-Supermarkt mit diversen Fressalien eingedeckt. Dummerweise haben die ein halbes Vermögen gekostet.

Gestern Abend habe ich dann noch mit Mom telefoniert. Phil geht es gut und wenn alles weiter so glatt geht, dann kann er in zwei Wochen aus der Klinik raus.
Und jetzt sitze ich wieder auf der Veranda und schreibe. Irgendwie scheint sich das auch so anzubieten. Wenn Nils im Bad ist, dauert es sowieso immer eine halbe Ewigkeit und irgendwie habe ich auch Hemmungen zu schreiben, wenn er dabei ist. Heute wollen wir mal sehen, ob wir nach Bastia kommen. Was gar nicht so einfach ist, denn um zur Hauptstraße zu kommen, muß man bestimmt mindestens eine halbe Stunde laufen.

Sonntag, 3. August 1997

3. August

"Ich glaube, ich sterbe."
"Hey, ganz ruhig. Da passiert doch nichts."
"Merkst du nicht, wie das Flugzeug wackelt? Wenn jetzt ein Triebwerk ausfällt."
Nils stand der Schweiß auf der Stirn und wir waren gerade mal gestartet. Er hatte echt Panik. Das habe ich noch nie gesehen bei ihm. Ich griff seine Hand und drückte sie ganz fest. Mir war egal, was irgendjemand von uns dachte.
"Es passiert nichts. Ich verspreche es dir. Es ist viel gefährlicher, einmal mit Silvios Bruder nach Stuttgart zu fahren, als hundertmal in diesen Flieger zu steigen."
Als die Maschine ihren Steigflug beendet hatte, entspannte er sich ein bißchen.
"Ist dir schlecht?"
"Nein, ich habe nur Panik. Einfach nur totalen Schiß, daß ich nichts machen kann."
"Wie machen?"
"Na, daß ICH nichts machen kann."
"Das kannst du doch im Zug auch nicht."
"Aber der fährt auf dem Boden, auf Schienen."
Ich mußte lachen und drückte seine Hand noch fester: "In zwei Stunden sind wir da und alles ist vergessen."
"Hoffentlich sind wir dann da."

Moriani Plage, ein kleines Feriendorf südlich von Bastia. Es sieht so aus, als hätten sie das Feriendorf von Rosolina Mare hierher verpflanzt. Kleine Häuschen im Wald verstreut und daneben ein Campingplatz.
"Was hast du denn erwartet?" fragte Nils.
"Vielleicht ein bißchen mehr Komfort."
"Typisch Tim. Dann hättest du deine Eltern eben um mehr Kohle anhauen müssen. Ich finde, es ist ok hier. Wir haben ein Bett, einen Tisch, zwei Stühle, eine Dusche und eine Küche."
"Genau das ist es, mehr aber auch nicht."
"Ach komm schon. Hör auf zu nörgeln. Wir haben Urlaub. Wir haben Sommer, wir haben uns. Und ich glaube wir haben das, was DU am meisten gerne hast: Das Meer."
"Am meisten, liebe ich dich", sagte ich und umarmte ihn. Endlich alleine. Alleine mit Nils. Niemand da, der uns kennt, niemand, der dumm guckt.

Unser Häuschen besteht aber wirklich nicht aus mehr als zwei Räumen: Einem kombinierten Wohn-Schlaf- und Küchenzimmer und einem Bad. Die Küche ist wirklich die Härte. Ein Herd mit einer Gasflasche, ein Waschbecken, ein Schrank und das war es dann. Aber was soll's. Wir werden ja nicht den ganzen Tag hier in dem Haus verbringen. Als erstes haben wir umgeräumt und die beiden einzelnen Betten zusammengeschoben. Das hätte ja gerade noch gefehlt, ein gemeinsamer Urlaub und zwei getrennte Betten.
Ansonsten sieht dieses Feriendorf wirklich dem in Italien verblüffend ähnlich. Es gibt einen kleinen Supermarkt, einen großen Pool (wozu gibt es einen Pool, wenn man das Meer vor der Tür hat???) und auf dem Weg zum Strand diverse Tennisplätze und zwei Restaurants oder bessere Kantinen. Hier kriegen wir unser Frühstück und unser Abendessen.
Als wir gestern angekommen sind, haben wir erst mal das gesamte Gelände erkundet. Dann sind wir am Strand erst nach Norden und dann nach Süden getapert. Und als wir zurück waren, war es schon so spät, daß es kein Abendessen mehr gab. Na toll, also hungrig ins Bett. Aber es ging, weil wir so müde waren, daß wir sofort eingeschlafen sind. Nils neben mir, Arm in Arm, einfach nur so. Es war schön. Und erst jetzt wird mir klar, wie toll das ist. Es ist dieses totale Gefühl von Freiheit, dieses Gefühl nicht aufpassen zu müssen. Nils liegt neben mir, ich kann ihn küssen, umarmen. Wir können zusammen einschlafen, ohne, daß wir Angst haben müssen, daß jemand an der Tür klopft, ohne daß jemand ins Zimmer stürmt, ohne daß jemand dumme Fragen stellt, ohne irgendwelche Lügen auftischen zu müssen. Nils ist jetzt unter der Dusche und ich sitze auf unserer Mini-Terrasse oder Veranda, wie man das auch nennen will. Es ist noch früh, aber wir sind auch schon so früh aufgewacht. Es ist ruhig hier, noch ruhiger als in Bergbach. Nur das Meer ist zu hören.

Nils kommt aus dem Bad. Wir gehen zum Frühstück.