Dienstag, 30. September 1997

30. September

"Das ist doch nicht dein Ernst?"
"Natürlich nicht, es ist doch nur mal so ein Gedankenspiel."
"Ein reichlich beklopptes Gedankenspiel."
"Jetzt hör doch einfach mal zu. Was würde passieren, wenn es alle wüßten?"
"Ich könnte mich nicht mehr auf die Straße trauen. Nirgendwohin."
"Aber warum denn? Warum denn verdammt noch mal?"
"Bei jedem, den ich treffe, würde ich denken, der weiß es, der guckt mich so komisch an."
"Ja und?"
"Was 'ja und?'?"
"Ich meine, WAS soll dir denn tatsächlich passieren. Und wenn dich jemand komisch anguckt. Und? Du wirst schon nicht gleich eines auf die Fresse kriegen. Also dir KANN eigentlich gar nicht passieren."
"Kein Mensch würde mehr mit mir reden, mit UNS reden. Ganz abgesehen von meinen Eltern. Und meine Karriere im Verein könnte ich auch gleich vergessen."
"Deine Karriere im Verein. Mein Gott. Was denkst du denn? Willst du wirklich profimäßig ringen. Denkst du, du kommst in der nächsten Saison in die 1. Männer oder irgendein Talentsucher steht morgen vor der Tür?"
"Wieso nicht? Zwei waren schon da."
"Na toll, ganz toll, und du gehst dann irgendwohin, nach Goldbach, oder Schifferstadt, oder was? Und ich bleibe hier."
"Wenn du hier auf so komische Gedanken kommst und damit rumspinnst, es allen zu erzählen."
"Ich spinne nicht rum und ich will es doch niemandem erzählen." Ich setzte mich auf die Hantelbank und zog ihn zu mir herunter. "Ich habe doch gleich am Anfang gesagt, daß du einfach mal nachdenken sollst, daß einem doch eigentlich gar nichts passieren kann, wenn es alle wissen."
"Und ich sage dir, es kann eine ganze Menge passieren. Und es würde und es wird eine Menge passieren, wenn das irgendwelche Leute rauskriegen und weitertratschen."
Er hatte irgendwie recht, doch ich dachte den Gedanken einfach weiter: "Und wenn? Und wenn jede Menge passiert? Was kommt danach? Werden wir sterben, landen wir im Knast oder unter der Brücke? Müssen wir betteln gehen?"
Nils schwieg, dann schüttele er nach einer Weile den Kopf: "Ich will da nicht drüber nachdenken. Und ich will auch nicht, daß du darüber nachdenkst. Ich habe Angst, daß du auf irgendwelche dummen Ideen kommst."
Ich beruhigte ihn: "Ich komme nicht auf dumme Ideen. Bestimmt nicht."
Mir war klar, daß ich mit Nils nicht mehr über das Thema reden kann. Jedenfalls nicht im Moment. Ob es irgendwann mal anders wird, weiß ich nicht, ich hoffe es. Aber diese Idee oder diese Gedanke ist irgendwie ganz spannend, wenn ich ihn weiterdenke: Was soll mir passieren? Also was soll mir WIRKLICH richtig Schlimmes passieren? Es ist schon eine komische Sache, wenn man sie weiterdenkt.

Montag, 29. September 1997

29. September

"Ich hoffe wenigstens, daß das jetzt alles vorbei ist."
"Na deine Haare sehen jedenfalls wieder fast so aus wie vorher. Nimmst du denn noch Medikamente?"
"Nö, nicht mehr. Ich muß im Moment nur einmal im Monat zur Nachkontrolle, Röntgen, Ultraschall und so was."
Ich hatte zum ersten Mal richtig Zeit, mich wieder mit Tobias zu unterhalten. Wir hatten eine Freistunde und saßen auf der Glasbrücke.
"Und du? Du sollst ja inzwischen ein richtig toller Ringer geworden sein."
"Wer sagt das?"
"Max hat das erzählt. Du weißt ja, daß das hier alles schnell rum ist."
"Na 'toll' bin ich nicht unbedingt. Ich habe eben ein bißchen was gelernt."
Ich wunderte mich, daß Tobias mich überhaupt nach dem Ringen fragte, wo er das doch früher immer total abartig gefunden hat.

'Du weißt doch, wie hier alles schnell rum ist', hatte er gesagt. Ja, hier ist wirklich immer alles schnell rum. Und ich frage mich echt, ob nicht inzwischen schon die halbe Stadt weiß, daß Nils und ich zusammen sind. Aber auf der anderen Seite hätte ich das dann garantiert schon gehört. Aber wenn, wenn es irgend jemand dann tatsächlich mitbekommt, dann ist es doch in kürzester Zeit rum. Und dann? Ja verdammt noch mal und dann? Was passiert dann? Was kann den eigentlich passieren? Wenn ich überlege, kann so richtig gar nichts passieren. Ich werde nicht wirklich tot umfallen. Ich werde nicht in den Knast kommen und der Himmel wird nicht runterfallen. Also WAS kann den eigentlich passieren? Mom und Dad würden ausrasten. Bestimmt Mom viel mehr. Das wäre wirklich schlimm, ich weiß nicht, ob ich ausziehen müßte? Ich weiß nicht, ob ich diesen Zoff aushalten kann. Das weiß ich echt nicht. Aber was passiert sonst noch? In der Schule. Scheiß drauf, Doris weiß es und die anderen, die anderen sind mir eigentlich total egal. Ich weiß nicht, ob Flo und Max das kapieren werden, aber ich glaube fast ja. Und der Rest? Scheiß drauf. Der Verein? Was soll das, auch auf den kann ich verzichten. Solange ich nur Nils habe und wir zwei zusammen sind ist mir eigentlich alles egal. Nein, ich werde bestimmt nicht morgen losrennen und es allen erzählen. Aber ich will mir wirklich mal durch den Kopf gehen lassen, was passiert, wenn die anderen es wissen.
Jetzt gehe ich aber erst mal zum Training

Sonntag, 28. September 1997

28. September

"Was ist denn los mit dir? Du rennst ja rum wie ein Tiger im Käfig."
"So komme ich mir auch vor. Ich bin total aufgeregt. So aufgeregt war ich noch nicht mal vor meinem ersten Kampf."
"Wieso das denn? Mensch, schau dir die Hilfsbremser doch mal an, die schaffen wir ohne Probleme."
"Mag ja sein, aber ich habe echt so was wie Lampenfieber."
Ich konnte es mir ja selber nicht erklären. Vielleicht war das alles schon irgendein Vorzeichen für Leipzig. Vielleicht habe ich jetzt auf einmal so viel Ehrgeiz, daß ich Angst davor habe zu verlieren.
Ich verlor nicht. Als ich auf der Matte stand lief eigentlich alles ganz automatisch an. Beinangriff, mein so oft geübter Beinangriff, total perfekt. Ich gewann sogar mit Schultersieg schon in der zweiten Minute. Als ich in meine Ecke kam, meinte Nils: "Na siehst du. Geht doch. Für alles andere hätte ich dich auch geprügelt."
Ich glaubte ihm aufs Wort.
Auch die anderen Jungs gewannen haushoch und sogar Leon schaffte einen Zu-Null-Punktsieg.
"Trainierst du heimlich?", wollte ich wissen.
"Ich?" Er guckte mich verwundert an, dann grinste er: "Ich heiße doch nicht Tim."
Na toll, anscheinend gelte ich jetzt hier so als der heimliche Special-Trainierer.
"Kennst du irgend jemand von deinen Gegnern in Leipzig?"
"Nein, ich weiß gar nicht, wer da so alles hinfährt in meiner Gewichtsklasse."
"Na, wird schon. Wenn du da auch so gut bist, holst du bestimmt einen Pokal für Bergbach."
Borrh, was erzählte ich denn da für einen Unsinn? Bin ich etwa der Trainer, der die Leute motivieren muß? Ich klinge ja fast schon so wie Nils. Das muß ich mir schnellstens wieder abgewöhnen.
Nach dem Wettkampf war allgemeines Besäufnis bei Silvio angesagt. Aber Nils, Flo, Leon und ich beschlossen, daß es spannender wäre, sich in der Tofa zu besaufen als bei Silvio und seinem grenzdebilen Bruder.
Wir waren dann auch in der Tofa, nur getrunken haben wir fast nichts. Irgendwie waren wir alle eher in der Stimmung zu tanzen, und so hüpften wir wie blöde auf der Tanzfläche herum bis wir irgendwann total fertig den Rückweg antraten.

Das ist auch gar nicht so schlecht, wenn man wenig trinkt und ziemlich früh zu Hause ist. Man ist am nächsten Morgen nicht so vermufft. Ich guckte mich intensiv im Spiegel an. Irgendwie habe ich mir einen riesigen blauen Fleck an der Schulter zugezogen. Komisch, ich weiß nicht mal mehr woher. Gestern beim Wettkampf? Oder schon vom Training? Es ist eine merkwürdige Sache. Ich bin fast ein wenig stolz darauf. Dieser blaue Fleck gehört zu diesem Sport, er ist ein Zeichen dafür, daß ich tatsächlich arbeite. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Hat sich nicht Doris mal über ein blaues Auge von Nils lustig gemacht? Aber es ist vielleicht etwas dran: die Schmerzen, die Muskelkater, die blauen Flecken. Alle bei uns ertragen das nicht nur, sie tragen das alles wirklich so wie kleine Orden, so als Zeichen dafür, daß sie anders sind, daß sie etwas machen, daß sie und ihren Körper herausfordert und das ist der Preis, den man dafür zahlen muß. Und das zeigt man auch. Oh mein Gott, was schreibe ich denn für einen Schwulst hier. Ich glaube, wenn ich das in ein paar Jahren wieder lese, dann glaube ich, daß ich geistig umnachtet gewesen sein muß. Egal, wie auch immer. Ich schmiere da jedenfalls keine Heparin-Salbe rauf und basta.

Ein gemeinsamer Nachmittag mit Nils.
"Wir haben gestern gar nicht darüber reden können, weil immer jemand dabei war. Habe ich mich sehr daneben benommen am Freitag? Warst du sehr sauer auf mich?"
"Nö, nicht mehr als sonst", meinte ich lachend.
"Arsch. Ich hab' es echt nicht so gemeint. Ich wollte es einfach nur mal wissen."
"Ist schon ok."
"Weißt du, daß du dich ziemlich verändert hast in der letzten Zeit?"
"Verändert? Wieso?"
"Nicht 'wieso' sondern 'inwiefern'!"
"Bitte jetzt du nicht auch noch, man sollte dir den Umgang mit Flo verbieten! Also, inwiefern habe ich mich verändert?"
"Du tickst nicht mehr so schnell aus. Früher bist du bei jeder Kleinigkeit ausgerastet. Aber inzwischen glaube ich, daß dich kaum noch was aufregt."
"Ist mir noch gar nicht aufgefallen."
"Ist aber so."
"Hmm, und was ist dir lieber?"
"Lieber, lieber. Mir ist alles lieb, wenn nur Tim draufsteht und drinsteckt."
"Nur wo Tim draufsteht, ist auch Tim drin."
Wir mußten lachen, als uns klar wurde, WAS ich da eben gesagt hatte.
"Weißt du, daß du gestern richtig gut gerungen hast? Ich meine das ehrlich. Richtig konzentriert, schnell und richtig gut in der Technik."
"Danke. Und das, wo ich so aufgeregt war."
Ein Lob von Nils. Und das im Zusammenhang mit dem Ringen. Das baute mich auf. Das baut mich wirklich auf. Mehr als alle Schinderei beim Training, mehr als jeder Punkt beim Wettkampf.
Es wird zunehmend schneller dunkel und vor allem kalt. Wir saßen da an "unserer" Stelle, kuschelten uns aneinander und froren wie blöd. Aber wir wollten einfach nicht aufstehen. Es war zu schön, den anderen zu spüren, seine Nähe, seine Wärme, seinen Atem. Es ist schön so. Schön so, wie es ist.

Samstag, 27. September 1997

27. September

"Ich schmeiß mich weg. Wenn das wirklich so weit kommt, dann werfe ich mich echt in die Ecke."
"Ich würde das überhaupt nicht lustig finden."
Ich habe Nils gestern Abend natürlich von dem Telefonat mit Heiko erzählt und Nils findet den Gedanken, daß Heiko gar nicht mitmachen könnte, seltsamerweise sehr witzig.
"Obwohl es schon schade wäre. Ich würde dich doch so gerne gegen ihn gewinnen sehen."
"Ich weiß, wir haben ja oft genug darüber geredet. Ich wäre jedenfalls ziemlich sauer auf ihn."
Nils guckte mich an, kniff ein Auge zu und schüttelte dann den Kopf: "Du könntest gar nicht sauer auf ihn sein. Ich glaube, er könnte sonstwas machen, du wirst nie wirklich sauer auf ihn sein."
"Mensch, ich trainiere wie ein Irrer und dann das."
"Nun warte doch erst mal ab. Der macht schon mit. Ich glaube, daß er sich das nicht entgehen läßt, mit dir auf die Matte zu gehen. Wenn er schon nicht mit dir ins Bett hüpfen kann in Leipzig."
Nils hatte getrunken. Nils hatte zu viel getrunken. Mit dem Effekt, daß er die ganzen kleinen Boshaftigkeiten mit einem lustigen Lächeln rüberbrachte und wahrscheinlich auch gar nicht böse meinte. Und ich spielte mit: "Wer sagt denn, daß wir in Leipzig nicht was miteinander haben werden?"
"Stimmt, du läßt ja keine Gelegenheit aus."
"Ja und?"
"Was habt ihr eigentlich miteinander gemacht? Als du bei ihm warst?"
"Wie? Gemacht? Was meinst du?" Ich wußte genau, was er meinte. Ich glaube, im nüchternen Zustand hätte er es nie gebracht, mich das zu fragen.
"Du weißt genau, was ich meine. Habt ihr gefickt?"
Ich war in einer unschönen Lage. Auf der einen Seite wollte ich ihm nichts mehr verheimlichen und wenn es nicht ausgerechnet um Heiko gegangen wäre, dann hätte ich ihm schon längst alles erzählt. Aber Heiko und ich, das war etwas Besonderes, das war etwas, was niemanden anderes etwas anging. Wenigstens nicht das, was wir im Bett zusammen getrieben hatten. Doch auf der anderen Seite ist Nils mein Freund. Und ich will nicht mehr lügen müssen, also sagte ich: "Nein, wir haben nicht miteinander gefickt, wie du so schön sagst."
"Oh, wieso denn nicht?"
"Weil, mein Schatz, es sich nicht so ergeben hat. Vielleicht haben wir beide gemerkt, daß es noch nicht die Zeit dafür war, vielleicht waren wir beide noch nicht bereit dazu."
Nils schwieg. Er schwieg und mit jeder Sekunde Schweigen wurde mir klarer, was ich da gerade gesagt hatte. So betrunken, daß er das nicht mitgekriegt hatte, war er dann auch nicht. Schließlich begann er das zu wiederholen und er betonte genau die schlimmen Stellen: "Vielleicht haben wir beide gemerkt, daß es NOCH nicht die Zeit dafür war, vielleicht waren wir beide NOCH nicht bereit dazu."
Ich biß mir auf die Zunge. Ja, ich hatte es gesagt. Und ich kann nicht mal sagen, daß es mir einfach so rausgerutscht war.
Plötzlich fing Nils an zu kichern. Ich war mal wieder richtig überrascht.
"Irgendwie, irgendwie macht mich die Vorstellung, wie du Sex mit Heiko hast, geil", kicherte er.
"Nils, ist jetzt mal Schluß bitte!"
"Wieso? Wenn ich mir das vorstelle werde ich eben geil. Du nicht?"
Jetzt waren wir genau an der Stelle, wo ich nun garantiert nicht hin wollte.
"Ich lehne es ab, mit dir noch mal über Sex in Zusammenhang mit Heiko zu reden", meinte ich verärgert.
"Dann laß uns über deinen Sex mit mir reden."
"Nils, du bist betrunken."
"Vielleicht kann ich nur betrunken darüber reden."
"Na, MACHEN kannst du es auf jeden Fall nüchtern auch."
"Ist es langweilig mit mir? Willst du irgendwas anderes im Bett machen?"
Jetzt reichte es mir. Ich zog in raus und hinter den Parkplatz.
"Damit das klar ist: Ich habe mit Heiko nicht deshalb was gehabt, weil mir der Sex mit dir nicht mehr gefallen hat. Der Sex mit dir gefällt mir. Er hat mir das erste Mal gefallen und er gefällt mir immer wieder genauso toll wie beim ersten Mal. Kapierst du das?!"
Nils legte seinen Kopf auf meine Brust. Ich strich ihm langsam über seine Stoppeln. "Mach mir nicht meine Frisur kaputt", murmelte er undeutlich.
"Welche Frisur? Und überhaupt, wofür brauchst du die heute noch?"
Er brummte leise und wir beschlossen, Richtung Heimat zu tapern.

Wenn ich das jetzt so aufschreibe, dann ist es anscheinend wirklich so, als wenn er glaubt, daß er mich irgendwie langweilt im Bett. Aber das ist es verdammt noch mal nicht. Warum ist denn das alles nur so schwierig? Shit, ich muß jetzt mal ein bißchen mein Zimmer aufräumen, vielleicht schaffe ich ja dabei auch meinen Kopf aufzuräumen. Und heute Nachmittag ist Wettkampf. Das erste Mal wieder seit der Sommerpause. Oje, wie das wohl wird?

Freitag, 26. September 1997

26. September

"59 Kilo. Wieso fragst du?"
"Na, ich will wissen, ob wir für Leipzig in der gleichen Gewichtsklasse sind."
"Vielleicht trete ich ja gar nicht an."
"Was?" Ich dachte echt, ich höre nicht richtig. "Wieso willst du nicht antreten?" Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ich trainiere hier wie ein Bekloppter und Heiko meint jetzt auf einmal so locker, er weiß nicht, ob er überhaupt antritt.
"Ich finde diese überregionalen Sonstwas-Turniere zu banal."
"Zu banal?"
"Die bringen eben nichts. Außer daß man jede Menge Leute sieht und kennenlernt."
"Was soll denn auch ein Wettkampf BRINGEN? Kein Wettkampf bringt wirklich was, egal ob in der Liga oder sonstwo."
"Na doch, in der Liga bringt es den Verein weiter. Wenn man gewinnt jedenfalls."
"Ja und? Was hat man dann davon? Ich meine, was habe ich ganz speziell davon, wenn mein Verein weiterkommt?"
"Du bist doch schließlich ein Teil vom Verein."
"Aber das ist doch genau das gleiche Ding wie mit dem Einzelturnieren. Ob nun der Verein gewinnt oder ich alleine, entweder ist es wichtig oder egal. Aber das zu unterscheiden finde ich daneben."
"Dir geht es doch sowieso nicht um den Verein. Dir geht es doch auch gar nicht um den Wettkampf."
Ich wollte nicht am Telefon darüber reden und das sagte ich ihm auch. Aber ich habe ihm auch gesagt, daß wir in Leipzig noch mal darüber sprechen. Es ist schon seltsam. Plötzlich überlegt er, ob er überhaupt antritt. Das hat vor ein paar Monaten noch ganz anders geklungen.
Heiko. Es geht mir doch immer wieder gut, wenn ich seine Stimme höre. Obwohl ich ja sonst diesen Kölner Dialekt total daneben finde, an ihm finde ich ihn einfach süß. Ich stelle mir vor, wie es sein wird, ihn wiederzusehen. Wie wird es mir gehen? Was passiert mit mir?
Ich glaube ihm nicht, daß er wirklich mit dem Gedanken spielt, gar nicht erst anzutreten. Ich glaube, das hat er gesagt, um mich zu testen, um zu sehen, wie ich reagiere. Und wenn er wirklich nicht mitmacht? Wofür habe ich das alles gemacht? Wofür diese vielen Trainings-Specials, diese Schindereien? Verdammt, er hat irgendwie recht. Ich habe das alles nicht für den Verein gemacht. Nicht für den Sport. Er, er war und ist der einzige Grund, warum ich nur noch darauf hingearbeitet habe. Er MUSS einfach antreten. Ich will mit ihm auf die Matte!

Jetzt mache ich mich erst mal fertig, um noch mit Nils in die Schmiede zu gehen. Einfach noch ein bißchen abhängen. Auf Tofa haben wir nicht so richtig Bock.

Donnerstag, 25. September 1997

25. September

"Also eine offene Beziehung. Wenn ihr nicht anders könnt, ist es ja vielleicht das beste."
Ich habe, statt Heiko anzurufen und ihn nach seinem Gewicht zu fragen, Robert angerufen und gefragt, was er von der Sache mit Nils und unserer "Vereinbarung" hält. Robert meint...ja, was meint Robert eigentlich? Robert meint eigentlich gar nichts. Na doch, er meint, daß es für uns vielleicht wirklich das beste ist.
"Irgendwann werdet ihr beide merken, daß dieses sinnlose in der Gegen rumvögeln auf Dauer nichts bringt."
"Wir vögeln nicht sinnlos in der Gegend rum." Ich finde das total daneben, wenn Robert so darüber redet.
"Na was ist denn das sonst? Du hast da dein Heiko-Mäuschen und Nils hat eben diesen anderen Typen, mit dem er nebenher rummacht. Wer weiß denn, wer im nächsten Moment um die Ecke kommt?"
"Bist du nie fremdgegangen?"
"Das ist doch hier nicht Thema."
"Dann ist es eben jetzt Thema."
"Natürlich bin ich auch fremdgegangen. Genau deshalb kann ich ja sagen, daß es auf die Dauer nichts bringt, sinnlos in der Gegend, ach so sorry, ja, du weißt schon, was ich sagen will. Ich spiele hier quasi nur den Advocatus diaboli."
"Den was?"
"Den Agent provocateur, ich meine so viel wie: Übertreibung veranschaulicht."
"Na toll."
"Gut, dann sage ich was anderes: Mache es, mache, worauf du Lust hast, so lange wie es geht, damit du nicht hinterher, so in dreißig, vierzig Jahren das Gefühl hast, du hast was versäumt."
Das klang schon irgendwie besser, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, was ich in dreißig Jahren mache. Ich kann mir ja noch nicht mal die nächsten fünf Jahre vorstellen.

Beim Training gab es heute Videoanalyse. Was aber ganz toll gemacht worden ist von Mahmout. Ein Griff und dann jeder genau aufgenommen und wieder und wieder gezeigt, was jeder besser machen kann. So konnte sich jeder nach einer Weile auf dem Video schon selbst korrigieren. Ich finde es ja immer wieder komisch, wenn ich mich selbst auf einem Video oder auch nur auf einem Bild sehe. Aber ich finde, daß ich gar nicht schlecht aussehe. Irgendwie gefalle ich mir.

Als wir fertig waren, saßen Nils und ich noch eine ganze Weile in der Halle. Vielleicht wird das jetzt so ein Ritual. Aber es ist auch auf eine seltsame Art und Weise eine spannende Stimmung. Am anderen Ende trainiert die Männermannschaft, aber trotzdem haben wir unsere stille, gedämpfte und gemütliche Ecke für uns. Man kann sich einfach so auf die Matte legen, reden, träumen oder gar nichts machen.
"Was passiert eigentlich", fragte ich, "wenn wirklich was passiert? Ich meine, wenn jemand von uns tatsächlich Sex mit jemand anderes hat. Sagen wir uns das dann?"
Nils zuckte mit den Schultern: "Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Das ist doch für mich genauso das erste Mal, so eine Sache."
Ich überlegte hin und her. Will ich es wissen, wenn Nils mit einem anderen Typen rummacht? Werde ich vielleicht tatsächlich eifersüchtig, wenn es jemand anderes als Sascha ist? Oder will ich es eben nicht wissen, um mir keine Gedanken darüber zu machen? Ich weiß es echt nicht.
"Ich denke mal, wir sollten es uns sagen. Vielleicht können wir ja so vermeiden, daß aus so einer Sache was ernsthaftes wird."
Ich überlegte einen Moment und dann nickte ich. Wahrscheinlich hat er recht, ziemlich sicher sogar.
Es ist merkwürdig. Jetzt haben wir diese seltsame Vereinbarung nach vorn und hinten abgeklopft und festgezurrt. Aber vielleicht muß es ja auch sein, aber es ist eben seltsam, wenn man so etwas abspricht oder bespricht.
Es klopft.
Phil hat seinen Gips ab. Endlich! Er hat gar nichts gesagt, daß er ihn heute abkriegt. Ich meine, das hat ja auch lange genug gedauert, auch wegen der Probleme, die er dann noch hatte. Der Arm sieht eigentlich ganz ok aus. Drei kleine Narben, aber sonst ganz ok. Er ist jetzt etwas dünner als der andere Arm, aber Phil meint, das wird schon wieder. Er fängt am Montag an mit Krankengymnastik, um die Bewegungen wieder zu lernen. "Es ist", meint er, "schon ein tolles Gefühl, wenn der Gips ab ist. Obwohl ich im Moment noch den Eindruck habe, daß mein Arm noch nicht so ganz zu mir gehört."
"Tut dir noch irgendwas weh?"
"Bei normalen Bewegungen nicht. Nur wenn ich fest zupacke und den Arm drehe."
"Also nichts mit Ringen als Sparringspartner."
"Ich bin ja nicht lebensmüde", lachte er.
Schön, daß alles wieder in Ordnung ist.

Mittwoch, 24. September 1997

24. September

"Und jetzt den Arm durchziehen und festhalten."
Mahmout hat eine ganz spezielle Art, das Training zu machen. Es ist fast so, als wenn er einen hypnotisiert. Er zeigt, er erklärt und guckt einem die ganze Zeit dabei in die Augen. Ich wußte gar nicht, wohin ich zuerst gucken sollte, weil ich ja eigentlich dem Griff zugucken wollte. Ich weiß auch nicht, ob mir diese Art von Training besser gefällt oder mehr bringt, als das zum Beispiel mit Werner. Aber interessant ist es schon, auf wieviele unterschiedliche Arten man trainieren kann.
Im Trainingskampf habe ich heute gegen Florian gewonnen. Es geht total leicht. Ich weiß auch nicht wieso. Wenn ich ihn nicht kennen würde, würde ich sagen, daß er mich hat gewinnen lassen. Aber das hat er bestimmt nicht.
"Du kleine Ratte", zischte er mir scherzhaft zu, "ich werde dir deine Sondertrainings mit Nils verbieten. Du wirst zu gut."
"Zu gut kann man gar nicht werden. Außerdem gehen die Wettkämpfe ja bald wieder los."
"Und Leipzig."
"Ja, und Leipzig."
"Und? Was meinst du, wie du abschneidest?"
"Keine Ahnung, mal sehen."
"Tu doch nicht so unbeteiligt. Du trainierst ja schon wie ein Irrer dafür. Du willst doch garantiert gewinnen. Oder wenigstens auf dem Treppchen stehen."
"Wollen wir nicht alle gewinnen, beim Ringen?" Wieder mal so ein toller nichtssagender Satz. Aber Flo fiel nicht darauf rein: "Irgendwas muß doch da sein, daß du ausgerechnet für dieses Turnier so viel Ehrgeiz entwickelst. Was ist es? Warum trainierst du nicht so wild für unsere normalen Ligawettkämpfe? Das würde dem Verein mehr bringen."
"Vielleicht finde ich ja Ligakämpfe langweilig."
"Du bist ein ganz schlechter Lügner. Also was ist es?"
"Ach vergiß es, das ist viel zu kompliziert, um dir das zu erklären."
Ich wollte aufstehen, doch Flo beförderte mich mit einem Beinhaken wieder auf die Matte: "Stop, nicht abhauen! Also, was ist es? Hast du mit Nils gewettet, daß du gewinnst? Ist das so eine Art geheimer Vereinbarung? Wenn das Turnier hier stattfinden würde, würde ich ja fast sagen, daß du ein Mädchen beeindrucken willst. Aber in Leipzig? Kennst du da jemanden?"
Ich breitete die Arme aus und ließ mich nach hinten auf die Matte fallen. Ich schloß die Augen: "Was weiß denn ich. Und überhaupt bin ich nicht der Einzige, der nach Leipzig fährt. Leon macht auch mit. Fragst du den auch so aus?"
"Ich rede jetzt aber nicht über Leon, sondern über Tim."
"Aber Tim will nicht darüber reden."
Das war ein Fehler, das zu sagen, denn jetzt hakte er noch mehr nach.
"Also ist da was, über das du nicht reden willst."
Mir platzte der Kragen. Ich bekam echt zu viel. Ich stand auf, zog ihn am Arm und meinte: "Kommt mit nach draußen. Ich möchte dir was sagen."
Flo guckte mich verwundert an, aber er ließ sich widerstandslos mit nach draußen ziehen. Nils guckte mich fragend an, ich zwinkerte ihm zu, daß er sich keine Gedanken machen braucht.
In der Umkleide fiel die Tür hinter uns ins Schloß. Florians Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
"Paß auf", begann ich, "wenn ich sage, ich möchte nicht darüber reden, bedeutet das: Ich möchte nicht darüber reden. Und du kannst fragen oder spekulieren oder sonstwas machen. Ich werde dir nichts sagen. Vielleicht erkläre ich es dir irgendwann. Vielleicht aber auch nicht. Aber akzeptiere verdammt noch mal, wenn ich sage, daß ich nicht darüber reden will."
Florian guckte mich ernst an. Ich weiß gar nicht, wann mich das letzte Mal jemand außer Nils oder Doris so ernst und tief angeguckt hat.
"Denkst du denn wirklich, die Welt besteht nur aus Feinden? Denkst du denn, alle Leute wollen dir was Schlechtes antun? Vielleicht gibt es ja mehr Leute, die dir helfen wollen, als du glaubst."
Ich schluckte. Was sollte denn das nun wieder?
"Was meinst du denn mit 'helfen'? Habe ich Probleme, oder was?"
"Keine Ahnung, das mußt du doch wissen."
Ich kriegte die Kurve. Ich bekam mit, wie Flo mich mit allen Tricks versuchte auszuhorchen. Immer ein Stück weiter, immer ein bißchen provozieren und die Antworten weiterspinnen. Ich erinnerte mich an einen Film, in dem ein gefangener amerikanischer Soldat beim Verhör immer nur seine Dienstnummer und seiner Einheit wiederholte. Auch noch nach Stunden Verhör, sagte er nichts weiter als seine Dienstnummer und seine Einheit.
"Ich fahre nach Leipzig und ich will so viel wie möglich Wettkämpfe gewinnen."
Flo gab auf.
"Das nächste Mal", meinte er im Hinausgehen, "versuche mal, mir nicht unbedingt eine Rippe brechen zu wollen."
Ich grinste: "Dann wehre dich nicht so heftig das nächste Mal."
Kaum war er draußen, kam Nils herein: "Was war denn los?"
"Nichts besonderes. Er wollte wissen, warum ich unbedingt nach Leipzig will und warum ich dafür trainiere."
"Und was hast du ihm gesagt?"
"Ich habe ihm gesagt, daß ich so viele Wettkämpfe wie möglich gewinnen will."
"Und das hat er dir abgenommen?"
"Keine Ahnung. Ist mir aber auch egal. Die Wahrheit konnte ich ihm ja schlecht sagen."
"Wann hast du eigentlich das letzte Mal dein Gewicht kontrolliert?"
"Schon 'ne Weile her."
Wir taperten zur Waage.
"Dachte ich mir es doch. Du wirst zu leicht."
"Wie? Ich werde zu leicht?"
"Wenn du nicht aufpaßt, dann landest du in der nächstniedrigen Gewichtsklasse, und dann ist da nichts mit Heiko."
"Also dann, her mit den Pommes."
"Weißt du Heikos aktuelles Gewicht?"
"Nein, aber ich denke mal, so viel wie ich wird er schon wiegen."
"Frag ihn."
"Wie? Ich soll ihn anrufen und fragen?"
"Na klar. Warum denn nicht? Wir trainieren hier doch nicht wie die Bekloppten um dann in Leipzig auf der Waage festzustellen, daß dein Heiko plötzlich in einer anderen Gewichtsklasse ringt."
"Mein Heiko...", murmelte ich.
"Na du weißt schon, was ich meine."
Hinter uns ging die Tür auf: "Ihr sollt endlich wieder zum Training kommen, die anderen warten auf euch."
"Heaven can wait", summte ich.

Dienstag, 23. September 1997

23. September

"Du wirst seltsam. Nein, du BIST seltsam, durchgedreht oder was weiß ich. Ich verstehe dich nicht und ich verstehe Nils auch nicht. Was MACHT ihr zwei da?"
"Meine Güte, das ist die beste Lösung."
"Die beste Lösung? Habt ihr eigentlich einen Funken Verantwortungsbewußtsein?"
Verantwortungsbewußtsein. Doris redete von Verantwortungsbewußtsein? Setzt ein Kind in ihrem Alter in die Welt und redet von Verantwortungsbewußtsein. Mir fiel nichts anderes ein als zu antworten: "Du bist spießig."
"Wieso bin ich spießig, wenn ich dem Menschen, den ich liebe, treu bin? Körperlich und seelisch."
"In nomine patris und Amen. Mensch Doris, vielleicht liegt es ja einfach daran, daß wir beide festgestellt haben, daß es anders nicht funktioniert."
"Vielleicht habt ihr es nur nicht richtig probiert. Vielleicht WOLLTET ihr es nie richtig probieren."
Doris machte es mir nicht gerade einfacher. Die Sache ist doch schon so heftig genug. Kann sie nicht einfach den Mund halten, wenn sie mich nicht schon unterstützen kann? Aber nein, sie muß natürlich rumlamentieren.
"Das geht nicht gut. Das kann gar nicht gutgehen."
"Vielen Dank für deine aufbauenden Worte."
"Was erwartest du denn? Hinterher kommst du doch eh wieder an, um dich auszuheulen, wenn es schief geht. Da kann ich dir auch gleich sagen, was ich davon halte."
"Ja, das habe ich ja nun gehört und jetzt ist gut."
Doris schüttelte den Kopf und zottelte in ihren Kursraum. Na toll. Jetzt, wo ich wirklich ein bißchen Unterstützung gebrauchen könnte, da versteht sie mich nicht. Ok, ich verstehe es ja selber auch nicht richtig. Ich weiß nur, daß es irgendwie weitergehen muß und es ist bestimmt besser so als anders.

Es ist aber schon seltsam. Nils und ich scheinen wirklich in einer neuen Phase zu sein. Bisher war alles irgendwie neu und unsicher. Und jetzt kommt mir alles auf eine schöne Art vertraut und angenehm vor. Und ich habe den Eindruck, daß sich selbst Nils' Trainingsanweisungen geändert haben. Nicht daß er nicht genauso unerbittlich wäre, aber irgendwie, irgendwie kommt es anders rüber. Heute war wieder ALBA-Training dran. Das sind so Sachen, wo ich echt am liebsten alles hinwerfen würde. Sieben Sätze, ich frage mich echt, wer sich so was ausdenkt. Aber ich mache mit, sitze hinterher in der Sauna und wieder dreht sich alles in mir.
"Und? Wie fühlst du dich."
"Wie soll ich mich denn fühlen?"
"Na gut, hoffe ich."
"Gut ist anders. Aber ich gebe zu, mir geht es auch nicht richtig schlecht."
Nils grinste und fuhr mit seinem Zeigefinger meinen Rücken hinunter. Ich zitterte und bekam eine angenehme Gänsehaut: "Hör auf, ich krieg' gleich einen Ständer."
"Ich verstehe das echt nicht. Kannst du denn immer und überall?"
"Ich glaube, mit dir schon. Ich weiß es doch auch nicht. Ich bin halt so."
"Vielleicht liebe ich dich ja gerade deshalb."

Montag, 22. September 1997

22. September

"Wir haben gestern überhaupt nicht darüber reden können. Was ist denn nun mit dir und Nils."
"Ich habe ihm verziehen", antwortete ich und mir war klar, daß das irgendwie reichlich daneben klang.
Das hatte Doris auch so empfunden: "Der große Tim hat seinem Freund gnädig vergeben. Ganz toll."
"Du bist unmöglich."
"Ich bin nicht unmöglich. Ich sage, was ich denke."
"Und was denkst du?"
"Das, was ich dir schon neulich gesagt habe. Daß ich den Eindruck habe, daß dir das ganz recht kommt."
"Du siehst das alles viel zu sehr schwarz-weiß." Ich war richtig stolz auf mich, so einen nichtssagenden Satz hervorgebracht zu haben.
"Wenn ich es nicht besser wüßte, dann würde ich sagen, daß du ein Einzelkind bist. Du biegst dir die Welt und die Menschen so zurecht, wie du sie haben willst."
Ich weiß nicht, warum Doris immer wieder an mir rumnörgeln muß.
"Um ehrlich zu sein, wir sind noch zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen. Wir wissen noch nicht, wie wir jetzt weitermachen. Wir wissen eigentlich nur, daß wir weitermachen."
"Na, da ist doch schon mal etwas."
Mein Blick fiel auf den kleinen Eisbär: "Ich denke, das ist schon eine ganze Menge."

Es schien eine halbe Ewigkeit her zu sein, daß Nils und ich uns das letzte Mal am Kochertalweg getroffen hatten. Und es war tatsächlich so, als wenn wir beide ein Stück mehr erwachsen geworden waren. Es fehlte etwas, etwas von dieser Leichtigkeit, von der Unkompliziertheit. Ich wußte, was ich sagen wollte, und ich sagte es. Ich war selbst übergerascht, daß ich es schaffte, das alles so herauszubringen: "Ich liebe dich Nils, ich denke, das brauche ich dir nicht mehr zu sagen, das weißt du. Und ich will dich nicht verlieren. Ich möchte, daß wir so lange es geht zusammenbleiben. Ich will auch niemanden anderes lieben. Aber ich kann dir nicht versprechen, daß es nicht passiert, daß ich nicht doch mal mit jemanden anderen Sex habe. Das hat dann nichts damit zu tun, daß ich dich nicht liebe. Ich kann es dir nicht erklären. Das heißt jetzt wirklich nicht, daß ich mit jedem Typen, den ich treffen, was haben will. Ich will nur sagen, daß ich es nicht ausschließen kann und will, das mal irgendwann was passiert. Und so lange wirklich keine Liebe dabei ist, ist es ok, denke ich."
Nils schwieg. Dann sagte er: "Wow." Einfach nur: "Wow." Dann nahm er mich in den Arm. "Gilt das für uns beide?"
"Ich denke mal, das wäre nur fair, oder?"
"Ok, dann laß es uns probieren. Denn ich liebe dich mindestens genauso. Und ich will dich nicht verlieren."
Wir küßten uns und alles war wieder wie früher. Auch wenn Nils hinterher meinte: "Vielleicht solltest du dich mal etwas öfters rasieren, du fängst an zu kratzen."
Ich grinste: "Das ist halt so, wenn man erwachsen wird."

Sonntag, 21. September 1997

21. September

"Bist du der Meinung, wir sollten uns trennen?"
"Nein doch, verdammt noch mal nein."
Nils saß auf dem großen Stein und schaute ins Tal. Die anderen hinter uns amüsierten sich prächtig und erzählten sich kichernd Szenen aus der RTL Samstag Nacht Show. Nils war irgendwann aufgestanden und hatte sich dorthin gesetzt.
"Ich will dich nicht verlieren", fügte ich hinzu.
"Warum hast du mir keine Szene gemacht, als ich dir das mit Sascha erzählt habe? Warum bist du nicht ausgerastet?"
"Vielleicht weil ich dich liebe?" Ich wußte, es war nur die halbe Wahrheit. "Wirst du ihn wieder sehen?"
"Nein, das habe ich dir doch gesagt, es ist vorbei."
"Warum dieser Typ. Warum ausgerechnet DIESER Typ?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht. Vielleicht, weil er so leicht zu kriegen war, weil ich sehen wollte, ob ich ihn kriegen kann. Was weiß ich. Ist es nicht völlig egal, ob dieser Typ oder jemand anderes? Warum dieser Typ? Warum Heiko?"
Na toll, irgendwann mußte das ja kommen. "Laß Heiko da raus, bitte, das ist etwas total anderes."
"Du hast recht. Das ist was total anderes. Es ist mit ihm viel schlimmer als mit Sascha und mir."
"Ich will nicht über Heiko reden. Jetzt nicht."
"Wenn er plötzlich vor dir steht und sagt 'Laß uns Sex zusammen haben', was machst du dann?"
Ich wollte nicht antworten, plötzlich war ich in einer Verteidigungsposition, die mir überhaupt nicht gefiel. Doch ich antworte, und es lag wahrscheinlich an dem Bier, daß ich auch noch ehrlich antworte: "Ich würde sagen: 'Na dann los!'"
"Siehst du. Du kannst auch nicht treu sein."
"Ich finde es unfair, daß du ausgerechnet Heiko da mit reinziehst."
"Soll ich jemanden anderes damit reinziehen? Gibt es noch jemand anderes, mit dem du fremdgegangen bist?"
"Hey, vorsichtig mein Schatz, ganz vorsichtig. Du willst mir doch jetzt nicht etwa einreden, daß du nur deshalb mit Sascha rumgemacht hast, weil ich was mit Heiko hatte."
Trotz Bier hatte ich es geschafft, die Kurve zu kriegen. Sollte ich ihm vielleicht jetzt noch die Sache mit Maik erzählen?
Nils schwieg. Ich durchschaute ihn. Dafür kannte ich ihn zu gut. Dafür wußte ich, wie er reagiert und ich kannte ihn auch zu gut vom Ringen. Immer bereit zum Gegenangriff. Mir war völlig klar, was er damit bezweckte.
"Ich will doch nur wissen, wie es jetzt weitergeht."
"Laß uns etwas spazieren gehen."
Ich nickte Phil zu, so als stummes Zeichen, er soll aufpassen, daß sich die anderen vernünftig benehmen, obwohl ich eigentlich keine Sorge hatte, daß Doris, Max oder Flo sich irgendwie daneben benehmen könnten. Nils und ich taperten in Richtung Viereckschanze.
"Paß auf, Nils. Ich will ehrlich sein. Ich liebe dich, ich liebe dich wirklich. So wie ich noch nie jemanden geliebt habe. Und ich will dich nicht verlieren, ich will dich nie verlieren und immer mit dir zusammen sein. Das ist alles, was ich dir sagen kann."
"Mir geht es doch genauso. Ich will dich nicht verlieren, denn ich liebe dich doch auch. Und daß ich mit Sascha rumgemacht habe, das hat irgendwie, irgendwie hat das nichts mit uns zu tun. Das hatte vor allem nichts mit Liebe zu tun, das war einfach nur Sex, einfach nur...", er zögerte, "Geilheit."
Er hatte das ausgesprochen, was mir schon eine ganze Zeit im Kopf rumgeht. Also ist es vielleicht doch möglich, mit jemanden Sex zu haben, einfach, weil man geil ist auf ihn. Ohne daß man ihn liebt. Daß man gleichzeitig jemanden anderes trotzdem lieben kann.
"Heißt das jetzt, daß wir einfach so munter losziehen und mit jeden Sex haben, wie wir lustig sind?" Ich wußte, daß diese Frage total provokativ gemeint war, ich weiß ja auch nicht, warum sie mir rausrutschte.
Doch Nils sprang auf meine Provokation an: "Solange keine Liebe dabei ist." Zum Glück konnte er nicht meinen verblüfften Gesichtsausdruck sehen. "Außerdem kennen wir uns doch beide", fuhr er fort, "das machen wir doch sowieso nicht so."
Hatte ich das jetzt richtig verstanden? Haben wir uns jetzt gegenseitig einen Freibrief zum Fremdgehen ausgestellt? Wo driften wir plötzlich hin? Es ist seltsam. Eine Sache, die ich für mich selber nicht hundertprozentig ausschließen kann und will. Diese Sache plötzlich auch Nils zuzugestehen. Ist eine Beziehung, ist Liebe immer mit Treue gekoppelt? Ist Doris Clemens treu und umgekehrt? Ja, ich glaube ja. Sind Mom und Dad treu? Die Vorstellung, daß nicht, ist für mich total undenkbar.
Sind Nils und ich jetzt an der Stelle, wo Heiko und Matthes schon längst sind? So eine Beziehung, wo man fremdgeht, wenn einem danach ist?
Wir kamen zu keinem Ergebnis. Und ich hatte den Eindruck, daß wir das auch nicht wollten. Vielleicht waren wir beide ja ganz glücklich darüber, daß wir keine endgültige Entscheidung treffen mußten. Wir taperten zurück. Den Rest der Party verbrachten wir mit den anderen. Es insgesamt ein netter Abend, ohne viel Action, aber einfach nur nett. Irgendwann gingen dann alle nach Hause, auch Nils. Unser Blick in die Augen ersetzte den Abschiedskuß. Dabei waren es ja eigentlich nur noch Flo und Max, die es nicht wissen. Aber die müssen es auch nicht wissen.

Phil trug die in der Hängematte eingeschlafene Lisa nach oben, was schon etwas seltsam aussah, mit seinem Gipsarm während ich die Reste des Abends in der Spülmaschine entsorgte. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß Nils und ich in den letzten Wochen wieder ein Stück erwachsener geworden sind. Wir machen uns plötzlich Gedanken um Dinge, die viel tiefer gehen als sonst.

Samstag, 20. September 1997

20. September

"Coole Idee, ich komme auf jeden Fall."
Ich hatte heute Vormittag die spontane Idee einer Spontan-Mini-Party. Mom und Dad sind heute Abend in Ulm und ich habe Nils, Doris, Flo und Max angerufen, ob sie nicht Lust haben vorbeizukommen. Und alle haben zugesagt. Nils war etwas übergerascht, aber er fand die Idee dann doch ganz cool. Und Phil kommt auch dazu. Ich denke mal, es wird ganz lustig. Wenn auch vielleicht etwas kühl, weil wir das im Garten machen wollen. Zum Glück machen wir ja keine Grill-Party, sondern einfach nur ein cooles Treffen, wo jeder was zu trinken mitbringt. Ich habe Mom und Dad beruhigt, daß sie sich keine Sorgen machen brauche, wegen Lärm und Chaos. Ich denke mal, es wird bestimmt lustig. Und vor allem hat das auch den Vorteil, daß ich weder ganz alleine zu Hause sitze noch daß ich ganz alleine mit Nils irgendwelche Probleme wälzen muß. Und ich brauche nichts einzukaufen, mich um nichts zu kümmern. Gläser und Pappbecher haben wir eh genug im Haus. Also los.

Gerade eben hat Benji angerufen. Er wollte einfach nur quatschen, auch weil ja nächste Woche wieder die Wettkämpfe anfangen. Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob er nicht auch heute Abend kommen möchte. Aber ich habe es dann doch lieber gelassen, weil ich weiß, daß Nils ziemlich sauer reagiert hätte.

Ich bin immer noch zu keiner Lösung gekommen, wie das weitergehen soll mit Nils und mir. Ich weiß ja, daß es weitergeht, aber eben nicht wie. Kann man denn jemanden lieben und gleichzeitig mit jemand anderem Sex haben? Das ist wieder so eine Sache, über die ich mit niemanden reden kann. Mit Doris garantiert nicht, die ist, bei all dem Ökotum, viel zu katholisch und macht mir sowieso immer nur Vorwürfe. Mit Phil, naja, mit Phil vielleicht, obwohl ich das nicht möchte. Ich möchte mit ihm nicht über Probleme reden, die ich mit Nils habe. Sind das überhaupt Probleme, die ich mit Nils habe oder sind das Probleme, die ich mit mir habe? Sind das überhaupt Probleme? Ja, es sind welche. Und ich glaube, ich muß mit Nils darüber sprechen. Er ist der Einzige, mit dem das geht, auch wenn es wehtut. Er ist auch deshalb der Einzige, weil er der ist, den es am meisten angeht.

Freitag, 19. September 1997

19. September

"Du sagst ja nichts."
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
"Ich dachte, es ist alles ok, nach gestern."
"Alles ok, alles ok? Was denkst du denn? Du läßt dich von irgendso einer hergelaufenen Schwuchtel anbaggern und machst mit ihr rum und es ist alles ok?"
Ich weiß nicht, warum ich so reagierte. Wir waren mit unserem Sondertraining fertig und saßen vor der Halle und hingen unseren Gedanken nach. Die letzte Nacht ging es mir ewig nicht aus dem Kopf. Nils und dieser Sascha. Warum ausgerechnet dieser Typ? Jeden anderen hätte ich ja vielleicht verstanden. Wobei das absoluter Unsinn ist. Natürlich hätte ich niemand anderes verstanden. Ich verstehe es aber auch nicht. Ich war doch in den letzten Tagen so cool. Habe es überhaupt nicht schlimm gefunden. Und auf einmal will es mir nicht aus dem Kopf gehen, wie Nils mit diesem Sascha rummacht. Es läuft ein Film in meinem Kopf ab. Und ich verstehe es nicht. Aber ich gebe zu, daß ich meine Empörung und meinen Ärger Nils gegenüber tatsächlich auch etwas übertrieben habe. Ich wollte es eigentlich gar nicht, aber irgendwie scheint es mir fast Spaß zu machen, ihn mit schlechtem Gewissen zu sehen. Nils guckte mich lange an, dann senkte er den Kopf und flüsterte: "Es tut mir leid. Tim, wirklich, es tut mir leid, was soll ich denn noch sagen?"
Verdammt noch mal, mein großer Nils, du könntest zum Beispiel sagen, daß ich, ja ich, Tim Berger, damit angefangen habe, fremd zu gehen. Daß ich der Letzte bin, der das Recht hat, dir Vorwürfe zu machen. Aber nein. Du sitzt da, wie ein Häufchen Elend und guckst mich an. Und ich, ich kann nicht anders, ich muß dich in den Arm nehmen.
"Wie gehst es jetzt weiter mit uns?", höre ich mich sagen.
Eine lange Pause, dann: "Ich weiß nur, daß ich dich nicht verlieren will."
"Ich will dich doch auch nicht verlieren, verdammt noch mal. Aber was passiert jetzt?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht."
"Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Ich meine, er hat dir die Telefonnummer gegeben, und dann?"
Nils erzählte mir die ganze Geschichte. Daß es ihn irgendwie interessiert hatte, was dieser Sascha denn nun von ihm wollte und vorhatte. Daß er ihn angerufen hatte, daß sie umständlich ein Date bei Sascha ausgemacht hatten. Und daß es ihm sogar Spaß gemacht hatte. Aber daß er nach dem zweiten Mal dann doch festgestellt hat, daß es total daneben ist und daß er deshalb beschlossen hat, es mir zu sagen.
Mir ging so vieles in dem Moment durch den Kopf. Doch ich drückte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: "Wir bleiben zusammen, was immer auch passiert."
Nils drückte mich auch, und es schien ihm egal zu sein, daß wir fast im direkten Licht des Vorplatzes standen. Wir taperten nach Hause, schweigend. Unser langer Kuß zum Abschied: "Ich liebe dich", sagte Nils.
"Ich liebe dich auch", flüsterte ich.

Nun sitze ich zu Hause und grübele. Ich weiß nicht, was mir alles durch den Kopf geht. Ich liebe Nils. Ich liebe ihn wirklich. Wenn ich daran denke, Sachen zu machen, dann denke ich immer daran, sie mit Nils zu machen. Wenn ich an die Zukunft denke, an Ausziehen, an Wegziehen, an eine eigene Wohnung, dann ist da immer Nils dabei. Ich liebe ihn, das was er sagt, wie er es sagt. Ich liebe seine Stimme, seinen Geruch. Ich liebe seinen Körper, seine Art sich zu bewegen. Ich liebe trotz allem seine verrückte Unnachgiebigkeit beim Training, ja ich liebe sogar seinen Fanatismus für's Ringen. Ich liebe es, ihm zuzuhören, mich mit ihm zu streiten, mich mit ihm zu versöhnen. Eigentlich liebe ich alles an ihm, auch das, was mich an ihm stört. Und ich will ihn nicht verlieren.

Aber gleichzeitig ist da auch eine ganz merkwürdige Sache: Für mich kann ich nicht garantieren, daß, wenn irgendein anderer Typ auftaucht, ich dann nichts mit dem mache, wenn sich was ergibt. Und das finde ich gleichzeitig schlimm. Ich liebe Nils und weiß, daß ich eigentlich treu sein muß und ich will es auch. Aber ich weiß eben auch, daß es sein kann, daß ich es nicht bin. Es ist nicht so, daß ich jeden Jungen haben möchte. Aber ich weiß, daß ich spätestens bei Heiko wieder schwach werde. Heiko, warum geht er mir nicht aus dem Kopf? Das Schlimme ist: Wenn es mit Heiko wirklich nur um Sex gehen würde, dann wäre das ja vielleicht ok. Aber da ist mehr. Das ist eben nicht nur Sex, da spielt sich viel mehr ab und ich habe Angst, daß wieder so eine Phase auftritt, daß mich irgendwas, eine winzige Kleinigkeit, an ihn erinnert und daß ich dann wieder für etliche Zeit nicht zu gebrauchen bin, weil ich nur noch an ihn denke. Ich frage mich echt, ob das bei den Heteros auch so ist, mit diesen Problemen.

Ich frage mich auch, wie das nun tatsächlich weitergehen soll. Machen wir jetzt einen Strich unter der Sache mit dem Fremdgehen? Verdammt, das würde ich so gerne, aber ich weiß eben nicht, ob ich das schaffe. Und ich weiß eben auch nicht, ob Nils das schafft. Wenn er schon mit so einem Typen wie Sascha rummacht. Aber was ist die Alternative? Daß wir uns trennen? Weil wir nicht treu sein können? Verdammt, ich weiß es nicht.

Donnerstag, 18. September 1997

18. September

"Was ist los?"
Ich war kaum aus dem Haus, da traf ich auf Doris.
"Das kann ich dir nicht sagen. Aber mir geht es nicht so schlecht, wie man eigentlich glauben sollte."
"Dann KANNST du es mir doch sagen."
"Ich muß das selbst erst mal kapieren. Echt."
"Meine Güte. Machst du das aber kompliziert."
Ich hatte keine Lust mehr auf ein Versteckspiel. "Nils hat mich betrogen."
"Maria und Josef! Männer!"
"Bist du wohl still! Soll es vielleicht noch die ganze Siedlung erfahren?"
"Ihr seid echt Kinder. Wann werdet ihr eigentlich mal erwachsen? Das ist doch kein Sandkastenspiel. Mal hier ein bißchen rummachen, mal da. Ist das bei euch Schwulen so?"
Ich war kurz davor, ihr eine runterzuhauen. Statt dessen sagte ich: "Ich verzeihe ihm."
Doris guckte mich an. Erst verdutzt, dann neugierig und dann kniff sie die Augen zusammen: "Tim Berger, warum werde ich plötzlich den Verdacht nicht los, als wenn dir das sehr recht kommt?"
"Was soll denn das? Was willst du damit sagen?" Diesmal war ich es, der schrie.
"Hast du ihm gesagt, daß du ihm verzeihst?"
"Nein, noch nicht."
Doris schüttelte den Kopf. "Ich werde nicht schlau aus dir, Tim. Das heißt, ich werde schlau, oder ich glaube es wenigstens. Und das, was ich mir denke, gefällt mit nicht, das gefällt mir überhaupt nicht."
"Moment mal, bin ich fremdgegangen, oder er?"
"Ihr beide, darf ich dich an Heiko erinnern?"
"Jetzt ist er fremd gegangen. Und ich verzeihe ihm. Gerade WEIL die Sache mit Heiko war. Da kann ich ihm keine Szene machen."
"Ist das der einzige Grund?"
"Vielleicht verzeihe ich ihm ja auch, weil ich ihn liebe?"
"Vielleicht. Ich würde mir wünschen, daß es so ist. Und? Gibt es noch einen Grund?"
"Was meinst du? Was denn noch für einen Grund?"
"Tu nicht so. Du weißt GENAU, was ich sagen will."
Ich schwieg. Ich wollte nicht antworten. Ich KONNTE nicht antworten. Ich weiß doch selber nicht, was los ist.
Deutsch, zusammen mit Nils. Wir nicken uns kurz zu. Er sieht schlecht aus. Hat tatsächliche dunkle Ringe unter den Augen. Ich möchte ihn in den Arm nehmen. Doch das geht natürlich nicht in der Schule. So wenig, wie ich bislang von der Schule mitgekriegt habe, so sehr stürze ich mich plötzlich darauf. Neue Leute, die ich bisher nur aus den Parallelklassen kannte, sind jetzt in meinen Kursen. Ich versuche, mich abzulenken. Und merke doch, was es für eine seltsame Situation ist. Ich hänge in der Luft. Nils hängt in der Luft.
Große Pause. Markus will, daß ich irgendeinen Skateboard-Trick nachmache. 'Wenn ich dich auf einem Skateboard erwische, gibt's Prügel' hatte Nils gesagt. Ich stelle mich nicht auf's Board. Nicht, daß ich tatsächlich Angst vor Prügel hätte.
Nils schafft es, für die restlichen Stunden und Pausen unsichtbar zu bleiben.
Ich komme nach Hause, das Telefon klingelt.
"Und?" Es war Doris.
"Nichts und."
"Warum redest du nicht mit ihm?"
"Ich habe ihn nicht mehr gesehen in der Schule. Ich habe gleich Training."
"Ihr habt Training, nehme ich an."
"Ja doch."
"Tim, spiel' nicht mit ihm."
"Ich spiele nicht mit ihm. Verdammt noch mal. Mein Freund hat mich betrogen. Und du machst MIR Vorwürfe? Was ist denn das für eine verkehrte Welt? Als nächstes sagst du mir noch, daß ich Schuld daran bin, daß er mit anderen Typen rummacht."
Ich legte auf. Ich weiß echt nicht mehr, was los ist. Langsam kommt die Wut in mir hoch. Vielleicht die Wut, die mir in den letzten Tagen gefehlt hat.
Training. Ich überlege, ob ich hingehen soll. Doch ich entscheide mich dafür. Was soll ich davon laufen.

Training. Nils ist nicht da. Nils nicht beim Training. Wo ist Nils? Ich weiß es nicht. Ist er bei Sascha? Hatte er nicht gesagt, daß da nichts mehr ist? Nein, ich weiß nicht wo Nils ist. Vielleicht kommt er noch, keine Ahnung. Mahmouts Training ist hammerhart. Mahmouts Griffe sind hammerhart und schnell. Ehe ich denken kann, kriege ich keine Luft mehr und mir ist, als würde jede Rippe einzeln brechen. Ich fliege durch die Luft und schon ist er wieder da. Warum bin ich wieder der Testdummy? Während Dimitri vor allem riesig, groß und massig war, ist Mahmout klein, flink, sehnig, hat einen Griff, von dem man sich nicht so schnell erholt und ist vor allem überall. Aber er erklärt gut, tausendmal besser als Dimtitri und er ist geduldig. Ende des Trainings. Ich bleibe sitzen. Gehe nicht mit den anderen. Und obwohl die Halle nicht leer ist, komme ich mir auf einmal total einsam vor. Hier war ich das erste Mal mit Nils zum Training. Und es ist, als wenn ich ein Musikvideo sehen, in dem Szenen aus der Vergangenheit auftauchen. Momente mit Nils. Glückliche Momente, Momente, wo ich sauer auf ihn war, wütend, wo wir uns gestritten haben. Ich hatte auf ihn eingeprügelt. Und dann kommt mir plötzlich Heiko in den Sinn. Wie er auf einmal da stand. Einfach nur so und mich der Blitz getroffen hatte. Dann dieses liebe und doch unverschämte Grinsen, als ich ihn geschultert hatte, als er mich hatte gewinnen lassen. Was war hier schon alles passiert? Was wird hier noch passieren? Diese Halle, dieses Matte. Wie eine kleine Welt für sich. Die große Kampffläche in der Mitte. Hier spielt sich alles ab, das Leben. Die rote Zone. Paß auf, Passivität, Verwarnung, Mattenflucht. Nur nicht flüchten, sonst bist du draußen...zurück in das Zentrum. Aktion, kein Stillstand, nur kämpfen. Ist es das, das Leben? Immer nur kämpfen? Immer nur Aktion? Muß ich immer und immer wieder um irgendwas kämpfen?
Ich ziehe mich um. Im Vorraum rufe ich Nils an. Er ist zu Hause. Nicht bei Sascha. "Ich will dich sehen", sagte ich, "in einer halben Stunde im Park." Mehr nicht.
Ich bin unsicher, ob er kommt. Doch er kommt. "Du warst nicht beim Training."
"Nein."
Tolle Unterhaltung. So konnte es doch nicht weitergehen. Ich nahm ihn einfach in den Arm, drückte ihn ganz an mich und hielt ihn fest. Ganz fest. Nils, mein Nils. Wir brauchten nichts zu sagen. Absolut nichts. Und wieder klammerten wir uns aneinander wie zwei Ertrinkende. Und wieder ertranken wir nicht, außer in unseren Tränen. "Take me in your arms and hold me close."

Mittwoch, 17. September 1997

17. September

"Du bist ja schon da."
"Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Was ist denn nun los, Nils?"
Ich versuchte, ihm in die Augen zu gucken, doch er wich meinem Blick aus.
"Als das damals mit Heiko passiert ist. Danach, wie hast du dich danach gefühlt?"
"Nils, Mensch, das hatten wir doch schon alles einmal. Was willst du denn von mir hören? Soll ich sagen, daß ich nicht nach Leipzig fahre? Ist es das, was du hören willst?"
"Nein, das ist es doch nicht. Du verstehst nicht, was ich sagen will."
"Dann sage es, verdammt noch mal, sag mir was los ist!"
"Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man jemanden betrügt."
Es dauerte eine halbe Minute, bis ich überhaupt verstand, was er sagen wollte: "Wie? Was ist passiert?"
"Ich habe dir mal gesagt, es gibt nur dich für mich. Ich würde nie einen anderen Typen lieben. Und das stimmt. Das stimmt wirklich. Und ich habe dir auch gesagt, daß ich niemals mit einem anderen Typen was anstellen würde. Und das stimmt nicht. Tim, ich habe dich angelogen. Tim, ich habe mit einem anderen Typen rumgemacht. Und, Tim, es tut mir so leid, ich habe dich betrogen, ich habe dich angelogen."
Da stand er, mein Nils, starrte auf den Boden und sagte kein Wort mehr. Und da stand ich und so langsam sickerten seine Worte in mein Bewußtsein. Nils, mein Nils hatte mit einem anderen Typen rumgemacht.
"Wer? Wer war es? Wer ist es?"
Nils atmete schwer: "Sascha."
"Sascha?" Ich wußte nicht, ob ich lachen oder wütend sein sollte. "Wieso denn Sascha? Wieso denn ausgerechnet DER Typ? Und wie? Was ist denn passiert? Habt ihr es auf dem Klo im Dorian getrieben, oder was?"
"Wir haben es NICHT auf dem Klo getrieben. Willst du wirklich wissen, wann und wo?"
"Nein."
Was war mit mir los? Mein Freund hat mir eben gesagt, daß er mit einem anderen Typen rumgemacht hat. Daß er mich betrogen hat. Und ich, ich bleibe total ruhig. Ich raste nicht aus. Nein, meine Gedanken sind klar, glasklar und messerscharf. Ich bin nicht sauer, ich bin nicht wütend. Ich bin traurig, ja tatsächlich traurig darüber, daß Nils mich angelogen hat, traurig, daß er mit einem anderen Typen rumgemacht hat. Aber das ist auch alles. Was ist plötzlich mit mir los?
"Tim, es tut mir leid. Wirklich. Er bedeutet mir nichts. Wirklich nichts. Wir haben uns zweimal getroffen. Und das war's. Es ist nichts mehr. Ich liebe ihn nicht, da ist nichts weiter."
Ich wollte ihn umarmen, wollte ihn trösten, ja, ich wollte ihm sagen, daß er sich keine Sorgen zu machen braucht. Daß ich ihn liebe, daß ich ihn immer noch liebe. Aber irgendwas hielt mich davon ab. Ich sagte nichts. Ich schwieg. Und Nils schwieg. Die Stille bohrte sich wie ein Messer in mein Herz und ganz bestimmt auch in seines. Mindestens eine halbe Stunde standen wir da, schauten in verschiedene Richtungen. Ich weiß nicht einmal mehr, woran ich dabei dachte. Vielleicht an gar nichts. Ich mußte etwas sagen. Ich wußte, daß ich dran war. Aber ich wußte nicht, was. Doch, was ich hätte sagen wollen, müssen, konnte ich aus irgendwelchen Gründen nicht sagen. Ich drehte mich um zu ihm, blickte ihm in die Augen. Nils plötzlich wieder so hilflos, kein Leuchten, kein Glühen im Blick, auch kein Eis, sondern einfach nur Hilflosigkeit, Angst. Ich drehte mich um und begann den Weg nach Hause zu tapern.
"Tim, bitte, Tim, ich liebe dich."
Ich ließ ihn hinter mir. Ich drehte mich nicht um. Den ganzen Weg nach Hause ging mir nichts durch den Kopf. Nichts, überhaupt nichts. Jetzt sitze ich hier und versuche, wütend zu sein auf ihn, versuche ihn zu hassen. Es geht nicht. Ich versuche zu heulen, es geht nicht. Es geht nichts. Das einzige, was geht, ist dieses seltsame Gefühl in mir, dieses Gefühl, das mir sagt: Nils hat mich betrogen...na und? Und ich erschrecke vor mir selber. Was ist denn das? Was ist DAS denn? Müßte ich nicht eifersüchtig sein? Müßte ich nicht toben, alles um mich herum zerdöppern? Nie wieder ein Wort mit ihm reden? Statt dessen geht mir dieses "na und" nicht mehr aus dem Kopf. Ich hätte es ihm so gerne gesagt, ihm gesagt, daß er sich keine Sorgen machen soll, daß ich ihn immer noch liebe. Das es mir egal, ja tatsächlich total egal ist. Aber das kann doch nicht sein. Kann das sein? Ich verstehe nichts. Ich verstehe vor allem mich nicht.

Dienstag, 16. September 1997

16. September

"Können wir heute reden?"
"Wir reden doch die ganze Zeit."
"Tim, ich meine ernsthaft reden. Laß uns irgendwo treffen und reden, in alles Ruhe."
"Was ist denn los?"
"Um vier, um vier am Zollmuseum, ok?"
Ich konnte nichts mehr sagen, denn er verschwand in der Klasse und es gongte. Um vier am Zollmuseum. Wieso da? Wieso nicht am Kochertalweg? Was will er mit mir besprechen? Verdammt noch mal, was ist los? Ich bekam nichts mehr mit von den Stunden. Das erste Mal Französisch-LK und alles rauschte an mir vorbei. In der Pause suchte ich Nils. Dieses bekloppte Kurssystem, das bringt alles durcheinander. Ich renne durch die halbe Schule, finde ihn nicht. Treffe auf Doris, frage sie, ob sie ihn gesehen hat. Die guckt mich nur fragend an: "Wieso? Was ist los?"
"Irgendwas, irgendwas ist los, ich weiß nicht was."
Ich merke, wie die Panik in mir aufsteigt. Hat Nils wieder seinen Rappel gekriegt? Ist er wieder so weit, daß er sagt, er packt das nicht mit dem Schwulsein? Verdammt noch mal, wie schafft es ein Mensch, sich in einem Schulgebäude unsichtbar zu machen? Am Ende der Schule stand Doris vor der Tür: "Und? Was ist denn nun?"
"Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Wir treffen uns in zwei Stunden. Er will mit mir reden."
"Und worüber?"
"Keine Ahnung. Das ist es ja. Er ist seit gestern so komisch. Irgendwas ist da. Ich weiß nicht was. Und ich habe Angst. Verdammt noch mal, ich habe so eine Angst."
Doris guckte mich an. "Was meinst du denn?"
"Ich weiß es doch nicht. Ich glaube, er hat wieder Probleme damit, daß er schwul ist. Daß wir zusammen sind. Irgendwas in der Richtung."
"Ruf mich an, ok? Wenn du zurück bist und reden willst oder kannst, rufe mich an, bitte. Oder komme vorbei."
Ich hörte sie wie durch Watte hindurch, aber ich schaffte es doch noch, ihre Hand zu drücken. Zu Hause. Zum Glück ist Phil nicht da. Ich renne in mein Zimmer und laufe auf und ab. Ich gucke auf die Uhr. Noch 90 Minuten. Verdammt, was kommt, was passiert denn jetzt? Vielleicht ist es ja irgendwas albernes, was, was überhaupt nicht der Rede wert ist. Aber warum war er dann so komisch? Warum macht er so ein mysteriöses Treffen? Ich merke, wie die Panik in mir hochsteigt. Ich kriege keine klaren Gedanken mehr zustande. Ich werde nicht mit dem Rad hinfahren. Ich laufe hin. Ich renne!

Montag, 15. September 1997

15. September

"Und? Wie sind deine Kurse?"
"Ganz ok, eigentlich alle so, wie ich es erwartet habe. Leclerq in Französisch. Kenne ich zwar noch nicht, aber einfach mal sehen. Und bei dir?"
"Auch alles ok. Nur leider haben wir kaum Kurse zusammen."
"Das ist echt blöd, aber du..." Ich war kurz davor ihm Vorwürfe zu machen, daß er so komische Kombinationen hatte, aber was sollte das? Schließlich war das ja sein Ding. "Ach vergiß es", sagte ich. "Ein paar Sachen haben wir ja zusammen und außerdem sehen wir uns ja in den Pausen und überhaupt."
"Na ihr zweis", Doris kam an.
"'Zweis' ist ja ein tolles Wort. Vielleicht ist die Oberstufe ja doch noch nichts für dich."
"Ja, ja, lästere mal nur. Was macht ihr denn noch mit dem angebrochenen Vormittag?"
"Keine Ahnung." Ich guckte Nils an, aber der zuckte auch nur mit den Schultern. Toll, super. Uns fiel einfach nichts besseres ein, als daß wir uns auf die große Treppe setzten und dumm in der Gegend rumblödelten.
"Was macht man eigentlich mit Bio als Leistungskurs?"
"Wie? Was macht man? Da regt mich ja allein schon die Frage auf."
"Ich meine, was kommt danach?"
"So was beklopptes. Das weiß ich doch jetzt noch nicht. Ich habe das genommen, weil es mich interessiert. Was machst DU denn mit Mathe und Französisch?"
"Vielleicht werde ich ja französischer Mathematiker."
"Wahnsinnig spannend."
Nils schwieg.
"Was ist los mit dir?", buffte ihn Doris an.
"Nichts. Ich bin einfach nur nicht so gut drauf."
Ich guckte ihn fragend an: "Was ist denn?"
"Wollt ihr lieber alleine sein, ihr zwei?"
"Nein, ist schon ok. Ich glaube, ich gehe noch eine bissele nach Hause. Wir sehen uns nachher beim Training."
Und noch ehe ich irgendwas sagen konnte, stand er auf und taperte los.
"Was hat er denn?", wollte Doris wissen.
"Keine Ahnung. Echt nicht. Vielleicht sollte ich hinterhergehen."
Doris hielt mich fest. "Laß ihn. Vielleicht hat er einfach nur einen schlechten Tag oder so. Manchmal braucht man einfach Zeit für sich alleine. Was macht eigentlich dein Training wegen diesem komischen Turnier?"
"Es geht so voran. Inzwischen finde ich die ganze Sache ja selber reichlich affig."
"Die Zeit heilt alle Wunden."
"Waaaahnsinn! Schreibst du nebenher Kalendersprüche? Oder arbeitest bei Doktor Sommer?"
"Mensch Tim, nun werde doch nicht gleich wieder aggressiv."
"Ich will nicht mehr darüber reden."
"Du bist seltsam. Wirklich, du bist echt seltsam."
"Ja und? Dann bin ich eben seltsam. Ich muß da durch und das ganz alleine. Bitte, ich will dich nicht ärgern. Aber es hilft mir wirklich nicht mehr, wenn ich darüber rede."
Doris seufzte. "Männer. Und dann will er auch noch mit ihm ringen. Wer soll denn das verstehen?"
"Hörst du jetzt auf!"
Doris schwieg. Dann drückte sie mich. "Ich will doch nur, daß es dir gut geht. Einfach nur gut."
Ich guckte sie an. Die Gute.

Ich taperte nach Hause. Packte meine Trainingstasche. Es war komisch, ich wollte Nils anrufen, daß wir zusammen gehen, aber ich traute mich nicht. Er war so seltsam heute nach der Schule. So nachdenklich habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Ich glaube schon, daß es besser ist, wenn ich ihn in Ruhe lasse. Vielleicht braucht er wirklich ein paar Momente für sich.

Training. Und Nils ist immer noch seltsam. Irgendwie. Ich kann es gar nicht so richtig beschreiben. Wir reden wie immer, und trotzdem ist da was anders. Ich kann es nicht beschreiben. Es ist wie eine unsichtbare Wand. Ich würde sie so gerne durchbrechen, aber ich weiß ja nicht mal, was da ist. Vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein.

Ein neuer Trainer. Wir kriegen einen neuen Trainer. Nein, wir haben einen neuen Trainer. Dimitri hat ihn heute vorgestellt: Mahmout oder so ähnlich. Er ist wohl Iraner und sieht gar nicht so schlecht aus, finde ich. Jedenfalls hat er gleich das Training mit uns gemacht und es ging ganz gut. Mich würde ja wirklich mal interessieren, warum Dimitri nicht mehr weitermacht. Aber selbst Nils weiß nichts Genaues. Er meint nur, daß es wohl irgendwas mit seinem Rücken zu tun hat. Na gut. Einfach mal gucken, wie Mahmout das jetzt macht.

Heimweg mit Nils. Wir reden über Dimitri, über Mahmout, über's Training, über die Schule. Ich versuche, alles so normal wie möglich zu sehen. Aber es geht nicht. Der Abschied. Er ist doch eigentlich wie immer. Ein langer Kuß, seine Nähe, sein Geruch. Und trotzdem bin ich nachdenklich. Ich glaube, ich werde langsam merkwürdig. Ich will ihn anrufen. Ihm einfach gute Nacht sagen, seine Stimme hören. Vielleicht fragen, was los ist. Ich lege nach der ersten Nummer wieder auf. Morgen, morgen wird alles anders. Morgen wird mein Nils so sein wie immer. Oder ich werde ihn fragen, was los ist.

Sonntag, 14. September 1997

14. September

"Take me in your arms and hold me close", summte Nils beim Einschlafen. Wir werden mutig. Oder leichtsinnig. Ich weiß nicht was. Nils hat bei mir gepennt. Keine Erklärung für Mom und Dad. Nils ist einfach da, bleibt da. Mom und Dad gehen irgendwann schlafen, wissen wahrscheinlich nicht, ob Nils noch da ist oder nicht. Es ist mir egal. Ich frage niemanden um Erlaubnis. Schließe die Tür ab und wir sind da. Sind uns selbst genug. Es ist mir so selbstverständlich. Wir liegen einfach nur nebeneinander und kuscheln. Es ist so schön, ihn neben mir zu spüren. Seine Wärme, seinen Atem. Mir fiel dieses "Du redest im Schlaf" ein. Nils redet nie im Schlaf. Jedenfalls ist es mir bis jetzt nicht aufgefallen.
Es war ein schöner, ruhiger Abend. Nils wollte zwar, daß wir uns noch mal das Video von Heiko anguckten, doch ich meinte, daß ich dazu nun garantiert keine Lust hätte. Nicht schon wieder Heiko in meinem Zimmer, zusammen mit Nils. Also zappten wir uns durchs Fernsehprogramm, hörten Musik und blödelten rum. Waren ein wenig im Internet, fanden irgendwelche Pornobildern von Typen mit riesigen Schwänzen und beschlossen gemeinsam, daß wir das total häßlich fanden. Dann saßen wir eine halbe Ewigkeit am Fenster, guckten in die Nacht, zählten Sterne, bis wir anfingen zu frieren und uns schließlich ins Bett kuschelten: "Take me in your arms and hold me close."
Am Morgen dann doch ein wenig mulmiges Gefühl, weil niemand wußte, daß Nils da geblieben war. Er huschte aus dem Haus. Ich vergrabe mein Gesicht im Kissen. Sein Geruch. Es ist, als wenn er noch da ist: Take me in your arms and hold me close

"Trainiert dich Nils jetzt für dieses Turnier in Leipzig?"
"Ja, wenigstens zum Teil."
Dad runzelte die Stirn: "Wieviele Trainer braucht man denn so als Ringer?"
"Ich weiß es doch auch nicht. Irgendwie scheinen alle Leute scharf drauf zu sein, mich so zu trainieren, daß ich gewinne."
"Ist das nicht das Ziel, zu gewinnen?"
"Ja schon..."
Ich guckte in Phils unverschämt grinsendes Gesicht und warf ein Brötchen nach ihm.
"Mein lieber Herr Sohn, an diesem Tisch wird nicht mit Lebensmitteln geworfen. Was soll denn Lisa denken?"
Lisa war allerdings damit beschäftigt, lustige Marmeladenmuster auf ihrem Teller zu erzeugen: Marmeladenbäume, Marmeladensonnen.

"Ist das nicht eine blöde Situation?" Phil machte die Tür hinter sich zu. "Diese Heimlichtuerei."
"Was meinst du?"
"Na du und Nils. Ich nehme an, er war heute Nacht hier. Oder?"
"Ja, war er. Glaubst du, Mom und Dad haben was mitgekriegt?"
"Ich glaube nicht. Aber ich weiß nicht, ob das auf Dauer gut gehen kann."
"Was sollen wir denn machen? Warten, bis wir wieder mal in den Urlaub zusammen fahren können?"
Phil zuckte mit den Schultern: "Was weiß ich denn. Ich bin nun bestimmt nicht der Richtige, den du da fragen kannst."

Der Nachmittag war Familiennachmittag. Ausflug zum Sieverssee. Die letzten kleinen Segelboote wurden an Land gezogen und auf Anhänger geladen. Ich weiß, was das immer früher für ein Act war, wenn Opa sein Boot ins Winterquartier brachte. Und dann ging es erst richtig los, das Abspachteln, das Antifouling-Streichen. Hier ist alles eine Nummer kleiner, nicht eine Nummer, drei Nummern.
"Warum segelst du nicht?", fragte Mom, "das ist doch wenigstens ein schöner Sport."
"Ja, vor allem im Winter," murmelte ich.

Wieder zu Hause. Ich hatte ja so ein klein wenig gehofft, daß Nils was auf den Anrufbeantworter gesprochen hat. Aber hat er nicht. Na gut. Ich bin auch müde. Und morgen geht es los mit der Oberstufe, Kurssystem. Ich kuschele mich ins Bett. Nils' Geruch ist immer noch da: Take me in your arms and hold me close.

Samstag, 13. September 1997

13. September

"Du meinst nicht?"
"Nein, nein, nein. Absolut nein! Kein vernünftiger Mensch trägt eine Bomberjacke. Nicht mal hier in Schwaben."
"Ich finde, das sieht cool aus so."
"Das ist was für Silvio, aber nicht für dich."
"Dann weiß ich auch nicht. Was soll ich denn sonst für eine Jacke nehmen?"
Wir taperten noch mal zu H&M und Nils probierte alle möglichen Jacken durch und hatte sich endlich entschieden.
"Ich finde, die sieht cool aus", sagte ich.
"Ich weiß nicht, ich finde, das sieht zu hiphoppig aus. Ich sehe ja fast aus wie du."
"Zu hiphoppig? Ich werf' mich weg. Das ist doch nicht Hip Hop Style. Und ich bin kein Hip Hopper."
"Nein, du bist ein kleiner schwuler Ringer", zischte er mir zu. "Ein kleiner schwuler Ringer, der wahrscheinlich viel lieber ein Skater wäre, stimmt's?"
"Du weißt, was dabei herauskommt, wenn ich auf einem Skateboard stehe. Frag Markus."
"Wenn ich dich jemals auf einem Board erwische, gibt's Prügel."
Das glaubte ich ihm auf's Wort. Irgendwie ist das schon reichlich bekloppt, zum Einkaufen bis nach Stuttgart zu fahren.
"Gehen wir noch ins Dorian?"
"Ach ja, warum eigentlich nicht. Vielleicht treffen wir ja Sascha wieder."
"Sascha?"
"Das ist dieser tuntige Typ."
"Woher weißt du denn, daß der Sascha heißt?"
"Er hat mir doch seine Telefonnummer geben, als ich auf dem Klo war."
Sascha war nicht da. Aber ansonsten war es wieder einmal total voll, aber auch ganz nett.
"Wie kommen wir eigentlich nach Leipzig?"
"Keine Ahnung. Mit dem Zug doch wohl, oder?"
"Oder mit dem Flieger?"
"Dann kannst du aber allein hinfahren."
"So schlimm?"
"Also, wenn es mit dem Zug geht, dann mit dem Zug. Außerdem gibt es in Laibzisch bestimmt keinen Flughafen."
Ich mußte lachen. Mein Nils, der Flug-Angsthase.
"Und wo pennen wir da?"
"Sag mal, hast du überhaupt irgendwas von dem Registrierungs-Paper gelesen?"
"Nö, dafür habe ich schließlich meinen persönlichen Manager."
"Arsch! In einer Jugendherberge oder einem Jugendgästehaus."
"Na toll."
"Na was denn. Ein schnuckeliger Bungalow wie auf Korsika wird es bestimmt nicht sein. Außerdem sind's ja nur zwei Tage."
"Im Oktober haben wir Jubiläum. Ein Jahr."
"Ich weiß. Verrückt, nicht wahr?" Vor einem Jahr hätte ich daran noch nicht gedacht, daß ich heute hier sitze, in einem schwulen Café. Daß ich hier sitze mit dir. Mit meinem Freund."
Wenn ich so nachdenke, geht es mir genauso. Was ist in diesem Jahr alles passiert? Schon verrückt das alles.
"Hatte ich nicht auch meinen ersten Wettkampf im letzten Jahr im September?"
"Ich glaube ja. Deinen ersten Sieg und deine ersten Niederlagen."
"Ja, ja. War peinlich genug."
"War überhaupt nicht peinlich. Ich war richtig stolz auf dich."
"Du warst stolz auf mich?"
"Na klar, warum denn nicht?"
Also doch. Nicht nur meine Siege, sondern auch Nils' Siege.
"Wie war das damals? Ich meine, bevor wir zusammen waren auf Sylt."
"Wie war was?"
"Ich glaube, du weißt genau, was ich sagen will. Wie ging es dir damals? Hast du was, naja, für mich empfunden, wie das so heißt?"
Nils guckte mich an: "Und du?"
"Du sollst nicht eine Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Natürlich habe ich was empfunden für dich. Ich war verknallt in dich. So, und jetzt du."
"Ich weiß es nicht. Das heißt, ich wußte damals nicht, was es ist. Ich konnte das nicht richtig einordnen. Aber irgendwas in dieser Richtung muß es wohl gewesen sein."
"Irgendwas in dieser Richtung. Na schönen Dank auch."
"Meine Güte, bist du manchmal empfindlich."
"Was machen wir heute Abend?"
"Keine Ahnung, Tofa? Gammeln? Party?"
"Wie wäre es mit Gammeln bei mir?"
"Keine schlechte Idee."

Ein Abend mit Nils. Ein Abend mit Nils bei mir.

Freitag, 12. September 1997

12. September

"Nein, laß mal. Ich mache nicht mehr mit."
Max war bei mir und bastelte an meinem Computer rum. Ich hatte ihn gefragt, ob er nicht einfach mal wieder mitkommen will zum Training. Es wäre schön gewesen, wenn er wieder mal dabei gewesen wäre, weil er nicht alles so tierisch ernst nimmt wie die anderen. Aber er wollte nicht. Jedenfalls hat er irgendwelche neuen Chips in meinen Computer eingebaut und das Ding funktioniert jetzt schneller. Wobei ich gar nicht weiß, wieso eigentlich. Aber vielleicht wäre es ja echt eine Idee, mein Tagebuch am Computer zu schreiben. Aber das würde wahrscheinlich ewig dauern, bis ich das getippt hätte. Max scheint es jedenfalls ganz gut zu gehen. Er ist eigentlich wie immer nur noch ein bißchen mehr abgedreht und läßt sich jetzt die Haare lang wachsen. Na, ich finde es ja ein bissele komisch, aber was soll's.
Am Nachmittag Extra-Training mit Nils. "Hast du schon gehört", fragte er mich, "wir bekommen wahrscheinlich einen neuen Trainer?"
"Nein, noch nichts von gehört. Wieso denn? Und wen?"
"Ich weiß es noch nicht, aber es wird schon so erzählt."
"Wer erzählt was?"
"Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht. In der nächsten Woche werden wir es schon noch erfahren."
"Vielleicht wird's ja Werner. Fände ich ganz gut. Auf jeden Fall ist alles besser als Dimitri."
"Ach komm, so schlecht ist er doch nicht. Nur weil du so ein Sensibelchen bist."
"Ich bin kein Sensibelchen", protestierte ich, duckte mich unter ihn und zog ihm die Beine weg.
"Ein Sensibelchen und unfair noch dazu", keuchte er unter mir.
Ich hielt ihn fest und ließ nicht los. Er strampelte mit den Füßen, doch ich hielt ihn nur noch fester.
"Herrgott, ist ja gut", schrie er. Ich ließ ihn los.
"Was soll denn das?"
"Wie? Was das soll? Ich denke, ich bin zu langsam, sagst du doch immer."
"Ich habe das Training noch nicht eröffnet."
"Ich habe das Training noch nicht eröffnet", äffte ich ihn nach. Das hätte ich lieber nicht machen sollen, denn er stürzte sich auf mich und schleuderte mich herum. Ich schaffte es gerade noch mit letzter Kraft, auf den Bauch zu kommen.
"Du wirst mir ein bißchen zu übermütig", sagte er, während er meinen Kopf auf die Matte drückte. Ich hatte Schwierigkeiten, Luft zu kriegen. Gleichzeitig spürte ich seinen Schwanz, der sich an mir rieb. Das war eine total komische Situation. Einerseits haßte ich diese hilflose Lage, daß ich kaum Luft bekam. Und auf der anderen Seite lag da mein Nils über mir, ich spürte ihn, seinen ganzen Körper. Mit einem Ruck drehte er mich um und ich lag auf der Schulter.
"Na, endlich zufrieden?", fragte ich bockig.
"Ja, so ist's schon besser. Du sollst Heiko besiegen. Nicht mich."
"Langsam glaube ich, daß dir das wichtiger ist als mir."
"Mir ist es so wichtig, weil es dir wichtig ist."
"Ach komm, das ist doch albern."
"Das ist nicht albern. Habe ich denn irgendeine andere Chance?"
"Was meinst du denn mit Chance?"
Nils guckte sich um, doch in unsere Nähe war niemand: "Gib es doch zu. Er spukt immer noch in deinem Kopf herum. Und welche Chance habe ich, gegen ihn anzukommen?"
"Nils, du brauchst nicht gegen ihn anzukommen. Du bist mein Freund. Verdammt noch mal, verstehst du das nicht?"
"Natürlich verstehe ich das. Und ich glaube dir auch. Aber ich glaube auch, daß du mit Heiko noch nicht fertig bist."
"Was meinst du mit 'noch nicht fertig'?"
"Da kommt noch was. Irgend etwas kommt da noch."
"Na toll, ganz toll." Ich stand auf und begann auf und ab zu laufen. "Weißt du, daß ich ihn schon fast vergessen hatte, bis du mit diesem Scheiß-Video angekommen bist?"
"Das glaube ich dir nicht, Tim. Du hast ihn nicht vergessen. Du hast ihn nie vergessen."
Ich schwieg, drehte mich um, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Was sollte ich ihm denn sagen? Daß es nicht einen einzigen Tag gegeben hat, an dem ich nicht an Heiko gedacht habe? Plötzlich hörte ich Nils Stimme ganz dicht hinter mir: "Du hast es nicht anders gewollt. Da mußt du jetzt durch. Wie soll es denn sonst mit uns weitergehen, wenn du ihn nicht aus deinem Kopf rauskriegst?"
"Wer sagt denn, daß ich ihn dadurch aus meinem Kopf rauskriege?" Ich drehte mich um und sah in Nils' ernsthaftes Gesicht.
"Du sagst das, du glaubst das."
Shit, bin ich ein so offenes Buch? Kann man mir meine Gefühle so deutlich ansehen?
Unser Training war beendet, noch ehe es richtig angefangen hatte. Wir saßen einfach nur da.
"Du redest im Schlaf. Und du redest von Heiko. Denkst du denn, ich mache mir keine Gedanken darüber?"
So eine Scheiße, was sollte ich denn DAGEGEN machen? Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen, ihm sagen, daß es nur ihn für mich gibt. Aber das ging natürlich nicht in der Halle. Und ich weiß auch nicht, ob er mir das glauben würde.
"Du bist mein Freund", sagte er, "mein erster Freund, mein einziger Freund. Und ich will dich nicht verlieren. Und ich werde alles tun, damit wir zusammenbleiben. Aber so lange da noch Heiko in deinem Kopf rumspukt, bist du eben nicht ganz frei."
Es ist seltsam, daß Nils plötzlich solche Dinge sagt. Es scheint so, als wenn er plötzlich so unheimlich erwachsen geworden ist. Die Stimmung war gekippt. Nein, wir waren nicht böse aufeinander, wir waren nur beide total nachdenklich geworden und zottelten schweigend nach Hause. "Ich hab dich lieb", flüsterte er mir zum Abschied zu. Ich drückte ihn.
Er hat recht. Heiko war nie ganz raus aus meinem Kopf. Und ich glaube, das wird er auch nie. Irgendwo wird er immer einen Platz darin haben.

Donnerstag, 11. September 1997

11. September

"Was machst du gerade?"
"Nichts, ich gucke aus dem Fenster."
Das war gelogen. Das war absolut gelogen. Ich saß vor dem Fernseher und guckte mir das Video mit Heiko an. Immer und immer wieder. Warum hatte ich mich nur so in ihn verknallt? Natürlich sieht er niedlich aus. Natürlich sieht er geil aus. Aber es gibt Jungs, die sehen viel niedlicher aus als er, viel geiler und in die habe ich mich nicht verknallt. Ich weiß es nicht, was es ist. Es muß irgendwas geben, eine merkwürdige, magische Ausstrahlung, die daran schuld ist, daß man sich in jemanden verknallt. Wieso hat sich Doris in Clemens verknallt? Der Typ ist doch nun so was von uninteressant. Und trotzdem hat sie sich in ihn verliebt? Wieso hatte sich Max in Melanie verknallt? Wieso ich mich in Nils? Wieso in Heiko?
Warum verliebt man sich in jemanden? Ich weiß es nicht.
Ich sah Heiko auf dem Video und auf eine komische Art kam mir alles vertraut vor, was er machte, wie er sich bewegte. Nicht beim Ringen, das andere dazwischen. Ich kenne ihn kaum. Nur ein paar Mal haben wir uns bisher gesehen, ein paar Mal miteinander gesprochen. Es ist seltsam. Ich zwinge mich, den Videorecorder auszuschalten. Nein, nicht noch mal in Heiko verknallen. Nicht noch mal das alles durchmachen. Weiß Nils eigentlich, was er da macht mit dem Video? Hat er das absichtlich gemacht, um mich zu testen? Oder macht er das tatsächlich nur, um mir beim Training zu helfen?

Na klar. Ab sofort sind Beinangriffe angesagt. Als wenn wir das nicht sowieso schon bis zum Umfallen geübt hätten. Aber ich merke, wie ich besser werde. Zweimal habe ich es geschafft, schneller als Nils zu sein. Dann holte er Flo und ich war wirklich gut. "Respekt", sagte er, "wenn man nicht damit rechnet, dann hat man keine Chance."
"Dann hoffe ich mal, daß hier niemand ein Video dreht."
"Ein Video?" Flo guckte mich fragend an.
"Vergiß es, Insidertalk."
"Du hast ein, vielleicht zwei Chancen, das durchzuziehen. Danach wird er damit rechnen", sagte Nils.
"Oder vielleicht ja auch nicht, weil er glaubt, ich mache das nicht noch ein drittes Mal."
"Oder vielleicht ja doch, weil er glaubt, daß du glaubst, daß er glaubt..."
"Ja, danke. Und was mache ich jetzt?"
"Beinangriffe. Und Hebel. So offen, wie er die Arme anbietet."
"Und er?"
"Er macht aus allen Situationen was. Er macht die Griffe total korrekt. Wenn er erstmal einen angesetzt hat, hast du wenig Chancen. Also mußt du das verhindern."
"Jaaaaaa."
Ich schloß die Augen und legte mich lang auf die Matte. Ich sog die Geräusche um mich herum auf. Den Geruch, die Atmosphäre. Das war meine kleine Welt. Seit über einem Jahr war das wirklich meine Welt. Oder wenigstens ein Teil davon. Ich erwische mich dabei, daß ich ernsthaft mit dem Gedanken spiele, die Sache mit Leipzig sausen zu lassen. Was soll dieser Unsinn überhaupt? Habe ich das nötig? Gewinnen gegen Heiko? Warum? So eine blöde Idee. Was ist, wenn ich es schaffe? Was, wenn nicht? Es wäre schön, wenn ich so einfach sagen könnte, ich fahre nicht. Doch jetzt ist es zu spät. Und natürlich will ich Heiko wiedersehen. Ich würde lügen, mich selber anlügen, wenn sich sage, daß ich das nicht will. Nur irgendwie ist das mit dem Gewinnen nicht mehr so stark. Jedenfalls im Augenblick nicht.
"Was will DER denn hier?"
Ich öffnete die Augen und setzte mich hin. Benji kam auf uns zu gehüpft.
"Na? Wie geht's? Sieht so das Bergbacher Training für Leipzig aus? Faul auf der Matte rumliegen?"
"Ich zeige dir gleich, wie das aussieht bei uns", sagte ich, sprang auf, erwischte seinen Arm und zog ihn nach unten. Ich schaffte es, seinen Knöchel zu packen und kippte den ganzen Benji vornüber, so daß er fast einen Kopfstand machte und hielt ihn in dieser Stellung fest: "Noch Fragen, Hauser?"
Er kicherte: "Ja Kienzle! Werden Sie das auch im Wettkampf so machen?"
Ich ließ ihn los. Er boxte mich in die Seite: "Nicht schlecht. Hat er dir das gezeigt?"
"Oh, wir verraten nie unsere Geheimnisse."
Nils schien das alles nicht lustig zu finden: "Was machst du denn hier?"
"Wir wollen uns eine von euren Ringerpuppen ausleihen, weil unsere große kaputt ist. Kalle hat schon mit Werner gesprochen."
"Wofür braucht Degendorf einen Ringerpuppe? Ihr schafft es doch nicht mal in die Bezirksliga. Außerdem haben sie dich ja."
"Witzbold", sagte Benji und zottelte davon.
"Warum bist du so gemein zu ihm?"
"Ich kann ihn nicht leiden. Er ist so ein Dauergrinser."
"Ich finde ihn ganz nett."
"Aha."
"Mein Gott. Nur nett. Mehr nicht. Echt nicht. Er ist absolut nicht mein Typ. Und außerdem ist er nicht schwul."
"Woher weißt du das? Schon mal ausprobiert?"
Ich weiß echt nicht, was Nils hat, wenn es um Benji geht.
"Natürlich nicht. Ich weiß es einfach. Manche Sachen kriegt man eben mit. Ok?"
"Ok. Und jetzt los, Kevin wartet auf dich."
"Kevin?"
"Na klar. Muß ich noch was sagen?"
Mußte er nicht. Warum auch. Na klar, Kevin eben. Wenn es nicht Silvio ist, geht es ja noch.
Es ist aber wirklich so. Benji finde ich nett. So wie Flo, wie Max. Einfach nur so. Ohne daß ich mich in einen von ihnen verknallen würde. Ohne daß ich mit einem von ihnen ins Bett hüpfen würde. Vielleicht glaubt ja Nils, daß ich was mit Benji gehabt habe. Oder vielleicht gerne haben würde. Ich weiß nicht, wie ich ihm wirklich beweisen kann, daß da nichts war, nichts ist. Und jetzt habe ich ihn nicht einmal gefragt, ob er auch nach Leipzig kommt, ob er wirklich antritt. Gegen Benji, das ist mir klar, habe ich keine Chance. Nicht mal mit Kraft.

Nils und ich radelten nach Hause und quatschten noch ein halbe Ewigkeit an unserer Kreuzung. Was spannend war: Nichts über Ringen. Wir quatschten einfach nur so, irgendwelche Sachen. Auf dem Restweg nach Hause begann ich zu frieren. Es ist Herbst. Samstag kaufen wir Winterklamotten.

Mittwoch, 10. September 1997

10. September

"Damit du deinen Gegner auch genau studieren kannst."
Nils schob die Kassette in den Recorder. Er hatte mich angerufen und meinte, ich soll vorbeikommen. Seine Eltern sind nicht da und wir sollten uns etwas auf Video angucken. Zuerst bekam ich gar nicht mit, was ich da sah. Aber als die Kamera ranzoomte, bekam ich einen Schreck: "Das ist ja Heiko!"
"Na klar. Du mußt schließlich deinen Gegner kennen. Mußt wissen, wie er kämpft. Was er für Lieblingsgriffe hat, was seine Stärken sind, welche Schwächen er hat."
Ich war total durch den Wind: "Woher hast du das Video? Woher hast du ein Video mit Heiko drauf?"
Nils tat so, als würde er mich nicht hören und redete über zu weit abgewinkelte Arme, über zu ausfahrende Bewegungen.
Ich stellte mich vor den Fernseher: "Woher hast du ein Wettkampf-Video mit Heiko?"
"Oh, es ist nicht nur ein Wettkampf-Video, Training ist auch drauf."
"Woher?"
"Ich habe so meine Kontakte. Was denkst du denn?"
"Was denn für Kontakte? Was soll das denn heißen? Bist du jetzt völlig bekloppt? Ich will wissen, woher du das hast und was du gesagt hast, damit du es kriegst."
"Mein Gott. Beruhige dich doch endlich mal. Da ist nicht nur dein Heiko drauf. Da sind auch jede Menge anderer Leute. Und ich habe niemandem etwas von Heiko gesagt. Ich kenne Hans, der ist auch bei Worringen und ich habe ihn eben gefragt, ob er nicht ein paar Videos von Wettkämpfen hat und vom Training von seinem Verein."
"Einfach so?"
"Einfach so. Und er hat mir die zwei Kassetten geschickt."
"Wer ist Hans?"
"Den kenne ich schon seit ein paar Jahren. Der war mal hier beim Regio-Turnier. Nein, bevor du fragst: Er ist nicht schwul."
Nils hatte dieses Wort ganz automatisch, ganz locker und easy rausgebracht.
Mir war nicht wohl. Mir ging es überhaupt nicht gut. Wir saßen vor dem Fernseher und guckten ein Video, auf dem Heiko zu sehen war. Und ich glaube, ich wurde rot. Plötzlich sitze ich da und gucke mir mit Nils ein Video an, auf dem Heiko zu sehen ist. Es war eine total komische Situation. Nur Nils schien das alles nichts auszumachen. Er stoppte das Band, spulte zurück, zeigte mir Szenen in Zeitlupe. Ich bekam nichts richtig mit. Jedenfalls nichts ringerisches. Ich sah nur Heiko. Sah sein unverschämtes, selbstsicheres und gleichzeitig so niedliches Gesicht. Mir war, als könnte ich seine Stimme hören. Was natürlich absoluter Unsinn war, angesichts der Geräuschkulisse in der Halle.
"Er hat eine miserable Deckung. Mit einem schnellen Beinangriff hast du die besten Chancen."
"Ach was. Meinst du?"
"Na klar. Guck dir das an. Seine Beine sind viel zu weit vorne. Und wenn du darauf achtest, dann siehst du hier...", Nils stoppte und spulte zurück, "er stellt die Beine nicht nach hinten."
Aha, er stellt also die Beine nicht nach hinten. Ja toll.
"Das ist unfair."
"Was ist unfair?"
"So was. Das mit dem Video."
"Wieso ist das unfair? Das machen alle so. Wir haben doch oft genug Videoanalyse von unseren Kämpfen gemacht."
"Von unseren Kämpfen, ja. Aber sich heimlich ein Video von seinem Gegner zu besorgen...ich finde das nicht fair."
"Du bist komisch."
"Vielleicht."
"Er sieht niedlich aus."
"Wer?"
"Tu doch nicht so. Dein Heiko."
"Das ist nicht MEIN Heiko."
"Aber niedlich ist er doch."
Es gefiel mir nicht, daß Nils so von ihm redete.
"Wieso findest du ihn auf einmal niedlich?"
"Weiß nicht."
Was ist denn auf einmal mit Nils los? Plötzlich sagte er, daß er jemanden niedlich findet? Plötzlich benutzt er ganz selbstverständlich das Wort 'schwul'.
"Er ist ja sonst ein wirklich guter Techniker, aber er hat, glaube ich, keine Kraft. Ich denke mal, du hast eine gute Chance, wenn du Beinangriffe machst und auf Kraft trainierst."
"Das gefällt mir nicht. Auf Kraft zu trainieren, um ihn damit zu besiegen."
"Aber sonst geht es dir noch ganz gut, ja? Also, was WILLST du denn? Ich dachte immer, du willst gewinnen? Ok, keine schmutzigen Tricks, keine unfairen Sachen, das kann ich ja noch verstehen. Daß du schon austickst, nur weil ich ein Video von seinen Kämpfen habe, das ist schon ein bissele komisch. Aber daß du jetzt sagst, daß du nicht auf Kraft trainieren willst, um gegen ihn zu gewinnen, das verstehe ich absolut nicht."
"Verdammt noch mal, ist das so schwer zu verstehen? Ich will im Ringen gegen ihn gewinnen. Technisch."
"Ringen ist AUCH Kraft. Nicht nur Technik, nicht nur Koordination, nicht nur Kondition. Und technisch, mein lieber kleiner Tim, technisch schaffst du das niemals. Du ringst seit einem guten Jahr. Was denkst du denn? Ich habe mich mal bei Hans erkundigt. Heiko ringt seit fünf Jahren. Denkst du denn, du hast dagegen irgendeine Chance, wenn du nur auf Technik machst? Vergiß es! Was dir bleibt ist Glück, Kondition und Kraft."
"Na toll."
Nils beugte sich zu mir: "Du hast komische Vorstellungen vom Ringen. Richtig engstirnig. Denkst du denn, ohne Kraft, ohne Kondition kommt man dabei weit? Die beiden Sachen gehören doch auch dazu. Der Eine ist eben in der Technik besser, der Andere in der Kraft."
Er hatte ja recht. Ich weiß, daß er recht hat. Ich nahm seinen Kopf und küßte ihn auf die Stirn. Ich war geil und er merkte es. "Meine Eltern kommen bald zurück."
"Bald oder gleich?"
"Bald", grinste er und zog sich sein T-Shirt aus

Dienstag, 9. September 1997

9. September

"Das ist zu kompliziert für dich."
"Das ist nicht zu kompliziert für mich."
"Ich habe gesagt, wir trainieren nur die Basics."
"Die Basics, die Bascis. Zeig' mir endlich, was ich gegen den Crossface machen kann."
Nils seufzte, legte sich auf die Matte und ließ mich den Griff probieren.
"Arme auseinander, breit machen, nicht elf und zwei Uhr sondern elf und drei Uhr. Vielleicht vier."
"Aha, und wenn ich das nicht schnell genug schaffe?"
"Abwarten, ob er einen Fehler macht und du ihn bei der Drehung übertragen kannst."
"Na toll."
"Bewege halt deinen Arm. Du mußt schnell sein. Ich weiß, das liegt dir nicht. Jedenfalls nicht außerhalb vom Bett."
"Du Arsch!"
Zur Rache ging ich an seine Beine und probierte einen Crotch Lift: "Geht auch so."
"Wenn du Glück hast."
"Bist du eigentlich irgendwann mal zufrieden?"
"Nein, wieso auch? Aber vielleicht läßt du mich jetzt einfach los."
"Nö, wieso denn? Mir gefällt das ganz gut. Wehr' dich doch."
Nils wand sich unter mir, doch ich legte mein ganzes Gewicht auf ihn.
"Ist ja gut jetzt!"
Ich ließ ihn los. Er grinste. "Vielleicht sollte ich dir noch ein paar Dirty Tricks zeigen?"
"Was sind Dirty Tricks?"
"Sachen, die man macht und die der Schiedsrichter nicht sieht."
"Was für Sachen?"
"Muß ich dir das erklären oder vielleicht vorführen?"
"Nein, laß mal. Wenn ich gewinne, dann will ich richtig gewinnen und nicht mit solchen Tricks."
"Du mußt aber damit rechnen, daß dein Gegner so was macht."
"Nein, ich will gar nicht daran denken. Es ist bisher ohne gegangen und es wird weiter ohne gehen."
Nils guckte mich mitleidig an: "Politisch und sportlich korrekt, der Tim."
"Mensch, wenn ich erst mal mit so was anfange, dann kann ich gleich einpacken. Ich ringe, weil es mir Spaß macht. Natürlich auch, weil ich gewinnen will. Aber wenn ich nur deshalb gewinne, weil ich irgendwelche unerlaubten Sachen mache, dann würde ich mir irgendwie total hinterhältig und verlogen vorkommen. Und ich glaube, ich würde mich nicht darüber freuen, wenn ich gewinne."
"Nicht mal gegen Heiko?"
"Erst recht nicht gegen Heiko."

Die anderen Jungs kamen in die Halle zum Training. Flo zwinkerte mir zu: "Na? Leipzig kommt immer näher, was?"
"Hör bloß auf. Vielleicht fahre ich ja gar nicht."
"WAS?" Nils und Flo gleichzeitig wie aus der Pistole geschossen.
Ich grinste. "Nee, ich fahre ja schon. Aber macht euch nicht zu große Hoffnungen. Einen Pokal hole ich bestimmt nicht."
"Mir würde es ja schon reichen, wenn du uns nicht total blamierst", meinte Nils.
So ein Penner. Ich weiß doch genau, daß es ihm völlig egal ist, wie ich im Gesamtergebnis abschneide. So lange ich nur gegen Heiko gewinne.
Fünf Stunden Training. Ich war fertig und sogar Nils zeigte leichte Ermüdungserscheinungen.
"Zum Donald?"
Er nickte. Wir schlugen uns den Bauch voll und ärgerten das Mädel am Counter, weil wir immer gerade das nachbestellten, was sie nicht da hatten. Die Kuh war aber auch total blöde und tippte Sachen ein, die wir gar nicht bestellen wollten: "Storno! Der Kunde will das Produkt nicht!"
"Der Kunde will das Produkt, was er bestellt hat und nicht eine Kirsch- anstatt einer Apfeltasche!", schrie ich.
"Ich glaube, wenn du überall jobben würdest, bei McDo bestimmt nicht, oder?"
"Vielleicht doch. Aber ich würde mich nicht so dusselig anstellen."
"Ich befürchte, du würdest den ganzen Laden umkrempeln."
Ich lachte: "Schon möglich. Als erstes würde ich diese leidige Baustelle vor der Tür beseitigen."
"Immerhin, das hat ewig gedauert, bis die Umgehung durch war."
"Na toll, wenn diese Umgehungsbrezel fertig ist, dann kommst du nur noch mit einem Auto hier her."
McDo ist so was von unromantisch. Doch ich lehnte mich zurück und schaute Nils einfach nur an und er strahlte. Ich glaube, wir können überall zusammen glücklich sein. Sogar an so einem bonbonfarbenen Plastik-Ort.
"Wollen wir morgen Vormittag ein bissele Einkaufen gehen?"
"Einkaufen? Was denn einkaufen? Und wo?"
"Na hier, in Bergbach. Winterklamotten und so."
"Winterklamotten? Winterklamotten?" Ich schrie wohl so laut, daß uns die anderen Gäste komisch anguckten.
"Winterklamotten braucht man im Winter. Jetzt ist Sommer. Naja, jedenfalls fast Sommer. Aber bestimmt nicht Winter."
"Wenn Winter ist, ist es zu spät, Klamotten einzukaufen."
"Ich gehe doch nicht im September los und kaufe Winterklamotten ein. Und erst recht nicht in Bergbach."
Nils seufzte: "Du bist unverbesserlich. Du bist so überhaupt nicht von hier."
"Natürlich bin ich nicht von hier, ich bin aus Hamburg."
"Braucht man da keine Sachen für den Winter?"
"Menno! Natürlich braucht man da auch Sachen für den Winter. Ach, du verstehst das nicht."
"Doch, ich verstehe das schon. Tim lebt von einen Tag auf den anderen. Nur nichts planen, nicht vorsorgen."
"Was heißt denn vorsorgen? So ganz schwäbisch? Schaffe, schaffe, Häusle baue?"
"Immerhin geht es UNS gut in Bawü."
"Nils, bitte, was soll denn DAS jetzt? Ok, wir können einkaufen gehen. Aber bitte, bitte nicht hier in Bergbach. Laß uns wenigstens nach Stuttgart fahren."
Nils grinste. "Ich glaube, du wirst nie ohne eine Großstadt leben können, oder?"
"Ganz bestimmt nicht."
"Gut, dann tapern wir am Samstag nach Stuttgart zum Einkaufen." "Tapern. Du hast 'tapern' gesagt."
"Ja und?"
"Ach nichts." Ich grinste in mich hinein.
"Willst du noch was, oder wollen wir fahren?"
"Was ich noch will, kriege ich hier nicht", meinte ich.
"Ferkel."
"Wieso?" fragte ich und setzte mein unschuldigstes Lächeln auf.

Montag, 8. September 1997

8. September

"Gehen wir uns vielleicht manchmal gegenseitig auf die Nerven?"
"Vielleicht. Ich weiß es nicht."
"Ich will aber nicht, daß du mir auf die Nerven gehst. Tim, ich habe dich lieb."
"Ich dich doch auch."
Ich umarmte ihn ganz fest.
"Warum waren wir plötzlich so komisch?"
"Keine Ahnung. Ich weiß es echt nicht."
Wir hielten uns fest wie zwei Ertrinkende. Und dann fingen wir plötzlich an zu heulen. Einfach so, ohne Grund. Langsam strich ich ihm durch seine strubbeligen Haare, küßte seine Tränen weg.
"Nicht weinen. Bitte nicht weinen, Nils. Was ist denn los mit dir? Was ist denn los mit uns?"
Er schluckte und schluchzte: "Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch auch nicht. Ich hab dich lieb. Das ist einfach alles."
Wir hielten uns eine halbe Ewigkeit fest. Und es tat gut. Ganz langsam beruhigten wir uns wieder. Es muß eine sehr seltsame Situation gewesen sein. Zwei Jungens stehen eine Ewigkeit mitten im Zimmer, umarmen sich und heulen.
"Alles wieder ok?"
Nils nickte und lächelte: "Wir sind ganz schön dumm, oder?"
"Ich weiß nicht. Ich habe die Gebrauchsanleitung noch nicht gelesen."
"Welche Gebrauchsanleitung?"
"Die von Nils und Tim."
"Vor Gebrauch schütteln?"
"Um Gottes Willen nicht schütteln!"
Wir prusteten beide los. Und auf einmal war dieser Schleier aus Blei weg. Plötzlich war alles wie immer. Nils und ich waren wieder wir beide.
Als ich unseren Wagen die Einfahrt rauskommen hörte, küßten wir uns heftig zum Abschied und guckten uns tief in die Augen. Nils, mein Nils!

Wir gingen runter. Dad trug die schlafende Lisa ins Haus und nickte Nils zu. Phil grinste mich unverschämt an und Mom war damit beschäftigt, den Wagen auszuräumen. Mein Nils schwang sich aufs Rad, drehte sich noch mal in der Kurve um und verschwand.
"War's schön?", flüsterte mir Phil grinsend zu.
Ich boxte ihm in die Seite. "Halt bloß den Mund", zischte ich.

Montagmorgen. Mom, Dad und Lisa gehen aus dem Haus. Phil und ich sitzen noch am Frühstückstisch.
"Willst du noch ein Brötchen?"
"Ja."
"Dann nimms dir doch und schneide es dir selber auf. Oder schaffst du das nicht mit deinem Gipsarm."
"Penner."
"Das ist die Rache für deine dumme Bemerkung gestern."
Phil grinste. "Ich hab's doch nicht böse gemeint."
"Schon klar. Aber so was fragt man nicht."
"'So was fragt man nicht'", äffte Phil mich nach, "du klingst schon fast so wie Mom. Und überhaupt. Wieso fragt man so was nicht?"
"Weil das intime Sachen sind, die niemanden was angehen."
"Du hast intime Geheimnisse? Erzähl!"
"Ich glaube nicht, daß DU die hören willst. Oder willst du etwa wissen, was Nils und ich im Bett so treiben?"
"Verschone mich, bitte", meinte Phil lachend.
"Du hast mir auch nie erzählt, was du mit deinen Mädels so im Bett anstellst."
"Das hätte dich doch gar nicht interessiert, oder?"
"Nee, nicht wirklich. Aber damals wußtest du ja noch gar nicht, daß mich das gar nicht interessiert."
Phil warf einen leeren Joghurt-Becher nach mir, doch ich wich zur Seite aus und er landete auf der Anrichte.
"Wer weiß", sagte ich, "vielleicht bin ich ja genau DESHALB schwul geworden? Du hast mir keine Sex-Stories erzählt."
"Du bist unmöglich."
"Ich weiß."
"Hast du dir schon mal Gedanken über AIDS gemacht? Ich meine, hast du mal einen Test gemacht?"
"Nein. Wieso?"
"Naja, man hört das doch so, ok ich will dir ja jetzt nicht zu nahe treten. Aber es ist doch noch so, daß AIDS bei Schwulen öfter vorkommt als in der normalen Bevölkerung."
Eigentlich sollte mich das ja mit der "normalen Bevölkerung" aufregen. Stattdessen antwortete ich: "Ich wüßte nicht, wo ich mir das geholt haben sollte."
"Hast du bisher immer Safer Sex gehabt?"
"Ja."
Was sollte ich ihm sagen? Sollte ich sagen, daß Nils und ich einmal ohne Gummi miteinander geschlafen haben? Was würde das ändern?
"Respekt. Ich habe einen verantwortungsvollen Bruder."
Ich kam mir mies vor. Mies und verlogen.
"Können wir das Thema wechseln?"
"Von mir aus. Gehst du heute wieder zum Training?"
"Na klar."
"Schon seltsam. Ich habe dich noch nie so begeistert von einer Sache gesehen. Du warst noch nie irgendwo so dabei wie jetzt beim Ringen. Ist das wegen Nils?"
"Ich weiß es nicht. Es macht mir eben Spaß."
"Ich finde, es sieht gefährlich aus."
"Nicht gefährlicher als zum Bund zu gehen", ich deutete auf seinen Arm. "Kriegst du wenigstens Rente? Oder Schmerzensgeld? Vielleicht kann man sie ja auf Schadensersatz verklagen? Eine Million Mark?"
Phil lachte: "Schön wär's. Wenn ich Glück habe, muß ich nicht nochmal zurück. Vielleicht sollten wir Dads alte Kontakte zum UKE wieder aktivieren."
"Ich dachte, du bist so begeistert vom Bund? Und jetzt willst du nicht mehr hin."
"Ich war nie begeistert von dem Haufen. Ich wußte bloß nicht, was ich sonst machen sollte."
Ich seufzte. Irgendwann würde meine Musterung kommen. Und ich weiß noch nicht einmal, was ich da machen muß. Ich muß mir dringend ein paar Informationen besorgen.
Ich räumte die Spülmaschine ein, während Phil mit seinem einem Arm die Reste in die Küche jonglierte. Dann noch ein bißchen Sonne. Nils ruft an. Wir treffen uns zwei Stunden vor dem Training in der Halle. Ok, soit-il, heißt das so? Ich weiß, was mich erwartet, aber ich will es ja.