Samstag, 26. April 1997

26. April

"Das kommt von deinem blöden Biertrinken gestern", meinte Nils vorwurfsvoll. Ich hasse es, wenn er so redet wie Mom und dann auch noch recht hat. Mein Kopf dröhnte den ganzen Tag. Und er dröhnte auch noch vor dem Wettkampf. Ich weiß ja auch nicht. So viel habe ich doch gar nicht getrunken. Ich kann mich jedenfalls noch an alles erinnern was gestern war. Aber trotzdem fühlte ich mich den halben Tag, als wäre ich in Watte. Florian gab mir zwei Tabletten: "Das eine ist was für den Kopf, das andere ist as zum Munterwerden von Max."
Ich wollte gar nicht wissen, was es genau war und schluckte die Dinger runter. Und tatsächlich wirkten sie. Nach einer Viertelstunde war mein Kopf wieder klar und ich war putzmunter. Mehr noch, ich wurde total hibbelig. Sprang auf und ab und hatte Mühe stillzusitzen.

Mein erster Kampf kam und seltsamerweise klappte alles total easy. Ich wirbelte herum, war an seinen Armen, an den Beinen und als der Kampf zu Ende war, lag ich mit sechs Punkten vorne.
"Was ist denn mit dir los?" fragte mich Nils, als ich von der Matte kam. "Du fegst ja wie ein Wahnsinniger über die Matte."
"Ich weiß auch nicht, das kommt ganz automatisch."
"Paß bloß auf, daß du nicht zu sehr überdrehst. Konzentrier dich lieber und mache etwas langsamer. Sonst machst du zu viele Fehler."
Borrh, und ich dachte, er würde sich freuen, wenn ich ein paar Punkte mache. statt dessen spielt er den großen, vernünftigen Coach. Ich setzte mich in eine Ecke und versuchte mich wieder zu sammeln. Ich weiß nicht woran es lag, daß ich auf einmal so hibbelig und voller Energie war. Ob das vielleicht doch an dem Zeugs von Flo gelegen hat? Wobei, das kann ich mir nicht vorstellen, daß gerade er so ein Zeugs zum Wettkampf mitbringt. Andererseits, wenn das von Max kommt. Ach Shit, ich will gar nicht darüber nachdenken.

Mein zweiter Kampf war nicht mehr ganz so easy. Ich hatte den Eindruck, daß mein Gegner gar nicht in meine Gewichtsklasse gehörte sondern mindestens eine höher. Wenn ich ihn tatsächlich mal auf dem Boden hatte, schien er da wie festgeklebt zu sein. Was ich auch versuchte, ich bekam ihn keinen Millimeter bewegt. Blöderweise erwischte er dann auch noch einen Arm von mir und klemmte ab, so daß ich fast auf der Schulter landete. Nur durch einen großen Zufall und mit jeder Menge Glück kam ich da raus und konnte sogar noch kontern und mit einem winzigen Punkt in Führung gehen. "Das nächste Mal bist du dran", knurrte er mich danach an. Was sollte denn das? So eine bekloppte Reaktion hatte ich ja noch nie erlebt. Ich ging wieder in meine Ecke: "Gut gekämpft, Kleiner", Nils klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Kleiner hatte er gesagt. Von einer Sekunde auf die andere war Heiko wieder in meinem Kopf. Sein "Na Kleiner?" von dem Abend kam mir wieder in den Sinn. Und plötzlich war wieder alles da, als wäre es vor ein paar Minuten passiert. Ich raste in die Umkleide, hielt wieder mal meinen Kopf unter eiskaltes Wasser. Mein Herz raste, ich schnappte nach Luft. Was mache ich hier? Was ist das alles für eine Scheiße? Ich ging nach draußen, kein Wind, es war stickig, die Luft war wie Blei. Wie schön wäre es, jetzt irgendwo am Meer zu sitzen und den Wind zu spüren. Ich riß mich zusammen und ging wieder zu den anderen, gerade noch rechtzeitig zur gemeinsamen Verabschiedung. Ich glaube den Rest des Abends war ich ziemlich schweigsam. Wir waren alle noch Pizza Essen und ich habe mir den Bauch vollgestopft. Ich weiß nicht, ob es mir dadurch besser ging, jedenfalls wurde ich im Kopf wieder ein klein wenig klarer.
Der Bus setzte Nils und mich an "unserer" Kreuzung ab. "Ciao ihr zwei", meinte Flo und grinste mich unverschämt an. Ich glaube er weiß es, oder er ahnt was. Aber im Moment ist es mir so ziemlich egal. Im Moment ist mir so ziemlich alles egal. Wir taperten noch ein bissele in Richtung Eichelberg (was für ein schräger Name). Nils wollte wissen, was mit mir los ist: "Du bist so komisch in der letzten Zeit."
"Wieso denn komisch?" wollte ich wissen.
"Ich weiß auch nicht. Mal bist du so total depri drauf und dann bist du wieder so überdreht. Irgendwas ist doch mit dir."
"Ich weiß es doch auch nicht." Ich blieb stehen und drückte ihn an mich. "Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich bin nur einfach so, so komisch durcheinander. Ich kriege das alles einfach nicht mehr auf die Reihe."
"Was alles?"
"Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Aber es hat nichts mit dir zu tun, echt nicht."
Nils guckte mich an. Seltsam ernst, seltsam erwachsen. "Und womit hat es dann zu tun?"
Ich zuckte hilflos mit den Schultern: "Mit mir, ich weiß auch nicht. Das ist es ja eben. Wenn ich es wüßte, würde es mir besser gehen."
"Man könnte ja fast sagen, du bist verliebt."
In mir schrillten sämtliche Alarmglocken. Ruhig bleiben, ganz langsam, dachte ich mir, nur jetzt keinen Fehler machen. Ich guckte Nils in die Augen: "Vielleicht hast du mir ja das Herz gebrochen", sagte ich. Und ich fühlte mich wie ein Schwein in dem Moment. Daß ich ihn so anlog, daß ich ihm nicht die Wahrheit sagte, nicht sagen konnte, nicht sagen wollte. statt dessen log ich ihn an, spielte ihm irgendas vor. Obwohl, natürlich liebe ich ihn, ich lieber ihn wirklich. Verdammt noch mal, genau das ist ja das Problem. Nils zog mich an sich und drückte mich ganz fest. Er gab mir einen ganz langen Kuß: "Ich liebe dich auch", flüsterte er. Wir gingen zurück. Schweigend. Ein schöner Kuß zum Abschied.

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