Samstag, 5. April 1997

5. April

"Das sieht aber gar nicht gut aus für uns."
Dimitri guckte besorgt auf seinen Zettel und zählte Punkte. Aus irgendwelchen Gründen war die halbe Mannschaft heute mies drauf. Silvio hatte haushoch verloren, Florian wurde geschultert. Ich ging zu Doris auf die Tribüne. Sie schüttelte grinsend den Kopf: "Das ist schon ein ziemlich merkwürdiger Sport."
"Wieso merkwürdig? Das ist der ursprünglichste Sport überhaupt."
"Na, ich weiß nicht. Tut das nicht weh, wenn man so auf die Matte geschleudert wird und so durchgewurschtelt wird?"
"Nö, nicht wirklich, man gewöhnt sich dran und außerdem geht das schnell vorbei. Es ist echt so, daß man seinen Körper fühlt, daß man merkt, wie man was damit machen kann."
"Na, daß Schwule darauf abfahren kann ich mir vorstellen."
"Psst, bist du wohl still!"
Zum Glück saß niemand neben uns.
"Nils ist dran", Doris stubste mich an.
"Ach ja?" Ich versuchte so weit wie es ging, nicht zu uninterssiert zu klingen. Also mußte ich zugucken. Nils kämpfte schrecklich schlecht. So schlecht hatte ich ihn noch nie gesehen. Mit Mühe und Not schafte er es mit einem Punkt zu gewinnen. Mit gesenktem Kopf ging er in seine Ecke zurück. Ich erwischte mich bei dem Gedanken "Geschieht ihm recht" und erschrak vor meiner Boshaftigkeit. Dann war ich dran, Doris drückte mich und wünschte mir viel Glück. Auf dem Weg nach unten kam es mir in den Kopf, daß sie es vielleicht ja schon etwas merkwürdig gefunden hat, daß ich die Zeit bei ihr verbracht habe und nicht mit Nils und den anderen Jungs unten.
"Wir brauchen ein Unentschieden, Tim. Wenigstens ein Unentschieden", flüsterte mir Flo zu. Ich blickte zu den anderen und fing einen Blick von Nils auf. Nur für eine Sekunde, doch dieser Blick sagte nichts, überhaupt nichts. Es war, als würde er durch mich hindurchschauen, einen Fremden angucken. Das machte mich wütend. Ich weiß nicht wieso, auf einmal war ich mir sicher, daß ich auf einen Schultersieg schaffen würde. Mein Gegner war kleiner als ich und bestimmt auch leichter. Ich wunderte mich, daß er überhaupt in meiner Gewichtsklasse antrat. Aber genau das war mein Fehler. Ich hatte ihn unterschätzt. Ich dachte, ich würde ihn mit einem Hüftwurf kriegen. Ich war so voll mit Wut und Energie, daß der auch ohne Probleme klappte. Yeah, ich hatte ihn, dachte ich. Doch dadurch war ich für eine Zehntelsekunde unaufmerksam. Blitzschnell wandt er sich aus meinem Griff raus, konterte und war in der Oberlage. Es dauerte einen Augenblick, bis mir klar wurde, was passiert war. Fieberhaft arbeitete es in meinem Kopf. Ich entschloß mich, es einfach mit Aufstehen zu versuchen und es klappte. Punkt. Ich schaffte es, hinter ihn zu kommen und machte noch zwei Punkte. Ich guckte zum Kampfrichtertisch. Einen Punkt war ich noch im Rückstand. Dann Pfiff und Pause.
"Einen Punkt noch und dann halten", raunte mir Dimitri zu. Es klang richtig flehend. Dieser Riesenmann flehte mich darum an, einen Punkt zu machen. Ich ging wieder auf die Matte. "Unterschätze nie deinen Gegner", hämmerte es in meinem Kopf. Shit, und das ging mir nicht raus aus dem Gehirn. Ich handelte mir eine Verwarnung wegen Passivität ein und mußte in die Bank. Pfiff! Mein Gegner machte eine Rolle mit mir und hielt mich eisern auf dem Boden fest. Shit, ich war wieder im Rückstand. "Die Arme nach vorne, die Arme", hörte ich Dimitri. "Aufstehen, aufstehen!" Das war Florian. Ich versuchte, mich freizukämpfen aber es war sinnlos. Ich wunderte mich, wie so ein kleiner Typ es tatsächlich schaffte, einen Hammerlock anzusetzen und mich langsam herumzudrehen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Es rauschte in meinen Ohren, ich hörte nur noch ein diffuses Rauschen aus der Halle. Ich landete fast auf dem Rücken, ging in die Brücke. "Halten, halten!" schrie Dimitri. Mein Gegner versuchte meinen Kopf hochzuheben, die Brücke einzudrücken. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf meinen Brustkorb. Es war merkwürdig, ich spürte keinen Schmerz. Ich wollte nur nicht, daß er mich pinnte, ich wollte durchhalten. Ich zählte jede Sekunde, wie lange würde es noch dauern, bis der Kampf vorbüer war? Eine Ewigkeit, es schienen mir Stunden, ich wartete auf den erlösenden Gong. Und wieder dieses Licht der Deckenstrahler, daß mich blendete, mir in den Augen brannte.
"Gib schon auf", zischte mir mein Gegner zu.
Ich biß die Zähne zusammen, doch ich merkte, wie meine Brücke immer schwächer wurde. Warum das Ganze, warum eigentlich?
Dann hörte ich plötzlich diese Stimme, glasklar und deutlich, kein anderes Geräusch, nur diese Stimme, SEINE Stimme: "Hüfte! Und dann drehen!"
Es war Nils. Zum ersten Mal an diesem Tag drang etwas von Nils tatsächlich zu mir vor. "Tiiiim!"
Ich brauchte nicht mehr nachzudenken. Alles ging ganz automatisch. Und es ging ganz wie von selbst. Ich griff um seine Hüfte und zog den Griff enger. Ich hörte wie er keuchte. Mit meiner ganzen Kraft bäumte ich mich nochmals auf und dreht mich zur Seite, wirbelte ihn herum. Die Bewegung war ein Fluß, meine Hand in seinem Nacken, drehen, zu Boden drücken, es war alles eins. Ich hatte ihn geschultert. Der Kampfrichter pfiff. Es dauerte einen Moment, ehe ich begriff, was passiert war, daß ich tatsächlich gewonnen hatte. "Du kannst ihn jetzt loslassen", meinte der Schiedsrichter. Ich stand auf. Die Halle tobte, ja tatsächlich, sie grölten und jubelten. Dimitri zeigte mit seinem Daumen nach oben, die andere klatschten mir zu. Es war einfach ein tolles Gefühl. Der Kampfrichter ergriff meinen Arm und hob ihn hoch: "Sieger durch Schultersieg, Tim Berger!" Ich sah Doris auf der Tribüne stehen. Sie stand tatsächlich auf der Bank und jubelte mir zu. Die Gute, die keine Ahnung vom Ringen hat, die damit gar nichts anfagen kann, sie stand da und applaudierte und freute sich. Und dann sah ich etwas, das mir die Tränen in die Augen trieb: Ganz alleine stand er da, an der Stirnseite der Halle, während alle um mich herumwuselten und mir auf die Schulter klopften. Da stand er und in dem ganzen Gewühl, in dem Durcheinander von Stimmen und Armen, stand er einfach nur da. Wie ein Engel, der über allem schwebte. Alles um mich herum versank in weiter Ferne. Ich sah nur noch ihn und er schaute mich an, blickte mir in die Augen. Ich sah seine Augen leuchten und gleichzeitig waren sie voller Tränen. Und ich versank in diesen Augen, wie ich schon schon so unzählige Male zuvor in ihnen versunken war.
Alles um mich herum verschwand, wurde unscharf. Die Stimmen und Geräusche schienen nur noch aus weiter Ferne zu kommen. Ich sah nur noch Nils. Mir war als würde ich schweben. Ich weiß nicht, wie lange ich einfach nur so da stand. Ich wurde aus meinem Traum zurück in die Wirklichkeit gerissen, als ich an Armen und Beinen gepackt wurde und in die Luft geworfen wurde. Soviel Jubel um einen einzigen Schultersieg. Ich freue mich ja auch, vor allem, weil wir dadurch in der Mannschaftswertung gewonnen haben, aber etwas übertrieben war das alles schon, finde ich. Als die Jungs mich genug in die Luft geworfen hatten und wieder runter ließen, war Nils verschwunden. Ich taperte in die Umkleide, um mich einen Moment auszuruhen, denn ich merkte, wie mich der Kampf ganz schön geschlaucht hatte. Ich bin stolz. Ja, ich bin wirklich zufrieden mit mir, daß ich das durchgehalten und geschafft habe. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Die Geräusche aus der Halle klangen dumpf. Die Tür ging auf, für einen kurzen Augenblick war der Lärm wieder deutlicher zu hören. Die Tür schloß sich wieder. Als ich meine Augen öffnete, stand Nils vor mir. Er blickte zu Boden, so daß ich seine Augen nicht sehen konnte. Es war eine seltsame Stimmung. Auf der einen Seite kam er mir so fremd vor, so ganz weit weg. Auf der anderen Seite mußte er nichts sagen, mußten wir beide gar nicht sprechen und doch wußte jeder von uns, was in dem anderen vorging.
"Du warst gut", murmelte er und stubste dabei mit seinem Fuß gegen meinen, "richtig gut, obwohl ich ein paar Mal wirklich Angst um dich hatte."
"Angst um mich oder Angst um den Kampf?" rutschte mir heraus und dafür hätte ich mich ohrfeigen können. Warum reagiere ich so aggressiv?
"Angst um dich!" Er blickte auf und ich sah, daß er Tränen in den Augen hatte. "Ich liebe dich."
Ich weiß nicht mehr, was dann genau passierte. Ich weiß nur noch, daß wir uns in den Armen lagen und küßten. Seine Tränen schmeckten salzig. Ich hielt in so fest wie noch nie. Es war uns egal, wo wir uns befanden. Dann sahen wir uns in die Augen und es war wie früher, dieses Feuer im Bauch, dieses endlose Versinken. Alles für diesen Augenblick. Kein Wort. Ihr nur spüren, seine Nähe, seinen Atem. Wir ließen uns los. Und wahrscheinlich gerade rechtzeitig, denn einen Moment später ging die Tür auf. Florian rief uns zur Siegerehrung.
Davon bekam ich nicht besonders viel mit. Meine Gedanken kreisten um Nils, um meine Gefühle für ihn. Eigentlich war ich glücklich, war ich der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich weiß nicht, wieso ich mich nicht einfach fallenlassen konnte, in dieses Glück. Irgendwo in meinem Kopf sitzt ein kleiner Teufel, der sagt "Paß auf, verliebe dich nicht zu viel." Ich versuche ihn zu verscheuchen, aber er verhindert eben, daß ich mich völlig fallenlasse.
Doris kam auf mich zu und drückte mich: "Du bist ja ein richtiger Derwisch auf der Matte."
Ich glaube, ich wurde rot. Was sollte ich darauf sagen? Zur Feier des Tages gab es dann noch ein riesiges Pizzabuffet im Vereinshaus. Ich habe mir total den Bauch vollgeschlagen. Irgendwann zwinkerten Nils und ich uns an: unser Zeichen zum Gehen. Wir liefen eine ganze Weile schweigend nebeneinander her. Bis er irgendwann ganz zögernd meine Hand nahm. Es gab eigentlich so viel, was wir uns hätten sagen können, so viel zum Erklären. Aber wir schwiegen. Vielleicht wußten wir auch, was der Andere sagen wollte. Vielleichten mußten wir gar nicht reden. Vielleicht reichte der lange und unendlich schöne Kuß zum Abschied, der doch eigentlich alles sagte. Ich freue mich auf morgen, wenn wir uns wiedersehen.

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