Samstag, 30. November 1996

30. November

"Ganz schön schwache Leistung!"
Ich sah, wie Nils seinen Mund verzog, als ich von der Matte kam. Ok, ich hatte 8:2 verloren. Aber ich habe gar nichts anderes erwartet. Nils meinte, daß ich so viele Chancen vergeigt hätte. Ich kann mich gar nicht erinnern. Ich weiß nur, daß ich mir wieder mal vorkam, wie an einem der ersten Tage. Ich stand wie blöde da und wußte überhaupt nicht, was ich machen sollte. Peng, Kopf leer. Dimitri grunzte nur und sagte gar nichts. Was die ganze Sache nur noch schlimmer machte, war, daß alle anderen von uns natürlich gewonnen hatten. Wenigstens haben wir so Punkte gemacht. Aber mir war es natürlich schon peinlich. Dad fragte schon gar nicht mehr, als er mein Gesicht sah, als ich reinkam. Er meinte nur, es würde so aussehen, als wen es nicht so doll gelaufen wäre. Wie recht er hat. Wie auch immer, ich mache mich jetzt fertig, um zur Party von Rasta zu gehen. Ich habe es sogar geschafft, Nils zu überreden, daß er mitkommt. Ich bin gespannt wie es wird.

Freitag, 29. November 1996

29. November

"Hast du schon gehört?"
Nils kam in der Pause ganz aufgeregt auf mich zu. Ich nickte noch bevor ich überhaupt wußte, was für Neuigkeiten er mir erzählen wollte. Doris' Schwangerschaft war DAS Thema heute an unserer Schule. "Ich weiß", sagte ich, "nicht erst seit heute."
"Warum hast du mir nichts erzählt?"
"Weil ich ihr versprochen habe, es für mich zu behalten. Außerdem glaube ich, daß dich das sowieso nicht interessiert hätte."
"Nun ja, da hast du vielleicht sogar recht." Er grinste. Aber Doris tat mir leid. Ständig waren irgendwelche Mädels um sie rum, die wissen wollten, wie das so ist, wenn man schwanger ist. "Sie finden es alle ganz toll", meinte sie. "Jedenfalls so lange, wie jemand anderes schwanger ist." Das kann ich mir gut vorstellen. Den Jungs in der Klasse ist die Sache eher unheimlich. Nur Silvio mußte natürlich wieder irgendwelche dummen Sprüche ablassen, aber sonst ging es.

Am Abend war ich mit Nils im Kino. Er wollte unbedingt "Cable Guy" sehen. Naja, ich fand den Film ziemlich albern aber er hat sich prächtig amüsiert. Wenigstens waren wir wieder mal zwei Stunden für uns alleine. Wir haben uns sogar getraut Hände zu halten. Eigentlich geht es mir gut.

Donnerstag, 28. November 1996

28. November

"Achtung, eine Durchsage..."
Dann nichts mehr, Schweigen aus den Lautsprechern. "Heeee, hat endlich mal jemand unserem Master of Disaster den Saft abgedreht." Florians Einwurf sorgte für allgemeines Gelächter. Sogar die alte Siewert mußte lachen. Was nun eigentlich durchgesagt werden sollte, da kamen wir nicht mehr dahinter. In der Pause jedenfalls kam die Sekretärin zu uns, oder gebauer gesagt zu Doris und sagte ihr, daß sie sich nach dem Unterricht bei Rieger melden sollte. Ich guckte sie fragend an, aber sie zuckte auch nur mit den Schultern.

Ich war kaum zu Hause, da klingelte das Telefon und Doris erzählte mir, daß Rieger einen Riesen-Terz wegen ihrer Schwangerschaft gemacht hätte. So von wegen Vorbild für die unteren Klassen und so ein Blabla. "Woher weiß er das überhaupt?"
"Na ich mußte doch endlich mal ein Attest bringen, schon so von wegen Sport und so weiter."
"Und, weiß es dann morgen die ganze Schule?"
"Ich habe keine Ahnung, es ist mir auch ziemlich egal."
Das stelle ich mir wirklich total krass vor, was sie im Moment da durchmacht. Wie das wird, wenn das Baby erstmal da ist?

Training war heute eigentlich wie immer. Nichts Neues gelernt, aber ich habe auch nicht völlig blöd dagestanden.

Mittwoch, 27. November 1996

27. November

"Hey, kommst du am Samstag nach dem Wettkampf zu Rastas Party?" Jeder kennt Rasta an der Schule. Er ist in der Oberstufe und DER, wahrscheinlich auch der einzige totale Reggae-Fan in Bergbach. Man erkennt ihn immer schon von Weitem an seinem Reggae-Cap. Naja und außerdem spielt er natürlich in der Schulkombo mit. Er ist so ziemlich der Schwarm von allen Mädels. Wobei ich fand ihn eigentlich auch ganz niedlich, weil er so klein und knuffig aussieht. Auf jeden Fall meinte Max, ich müsse zu dieser Party kommen, weil es da echt cool wird. Na mal sehen, wie ich mich am Samstag nach dem Kampf fühle.

Nils meint, er wird wahrscheinlich nicht hingehen, weil das wieder die totale Kiffer-Session wird. Was ich mir eigentlich nicht vorstellen kann. Hier in Bergbach?

Dienstag, 26. November 1996

26. November

"Du hast gestern gar nicht zurückgerufen."
Miriams Stimme klang vorwurfsvoll, so wie ein kleines Kind, daß sich beschwert, daß man ihm nichts mitgebracht hätte.
"Nein", meinte ich nur kurz angebunden.
Zum Glück kam Doris in diesem Moment rein und ich mußte sie gaaanz dringend was fragen. Nämlich, was ich gegen diese quakende Klette von Miriam machen kann. Aber selbst Doris war keine große Hilfe. "Du könntest ihr einfach sagen, daß du schwul bist", lachte sie. Na toll, super Vorschlag. "Ich könnte mir auch 'ne glühende Gabel in den Kopf stecken."
"Igitt, was hast du denn für Phantasien?" Damit war das Thema abgegessen. Was Frauen angeht, da kann ich bei Doris nicht auf Hilfe hoffen. Vielleicht sollte ich sie ja Max schenken. So wie der im Moment den Mädels hinterhergeiert wäre das doch was.
Das Training war heute Taktiktraining. Ich habe gelernt (oder auch nicht) wie man Hoch-Tief antäuscht. Ich weiß nicht, ob das so einfach klappt wie es aussieht. Aber nun ja, mal sehen.

Montag, 25. November 1996

25. November

"Weißt du, daß du total sexy aussiehst? Ich glaube, ich werde auf dich besser aufpassen müssen."
Wir saßen bei Nils und guckten uns das Video noch mal an.
"Jetzt wird mir klar, warum du das Original-Video behalten wolltest."
Er grinste mich vielsagend an. Wir hatten endlich wieder einmal ein paar Stunden nur für uns alleine. Es ist, als wenn ich nur für diese Momente lebe. Alles andere erscheint mir total unwichtig. Sein Atem auf meiner Haut. Wir brauchen nicht viel zu reden, in diesen Momenten ist alles so selbstverständlich. Und trotzdem hören wir immer mit einem Ohr nach draußen. Wir haben zwar die Haustür abgeschlossen und den Schlüssel von innen stecken gelassen, so daß niemand reinkommt, aber es ist doch immer ein bißchen Angst dabei, daß jemand früher wieder nach Hause kommt. Doch es kam niemand. Hinterher setzten wir gemeinsam das halbe Bad unter Wasser, was wir versuchten mit zig Handtüchern wieder trocken zu bekommen. Wir sind wie eine kleine verschworene Gemeinschaft und entwickeln immer mehr Tricks, damit niemand etwas merkt.

Als seine Eltern nach Hause kamen, saßen wir treu und artig vor dem Fernseher im Wohnzimmer, mampften Chips in uns rein. "Ihr habt ja auch ein tolles Sonntagabend-Programm", scherzte sein Vater. "Was sollen wir machen? Es regnet, die Tofa hat heute zu und im Kino gibt es auch nichts G'scheites." Also zauberten wir alle zusammen ein nettes Abendessen. Nils saß neben mir, sein Knie berührte meines und er zwinkerte mir zu: "Schluß mit Kartoffelsalat, sonst schaffst du nächste Woche nicht die 55kg."
"Nils, bitte." Das war seine Mutter, die da stöhnte. "Dieser Junge ist grauenhaft. Da koche ich die tollsten Sachen und er, er fängt an, die Kalorien zu zählen, ißt nur die einen Happen, da eine Winzigkeit. Das macht ja überhaupt keinen Spaß."
"Mutti, bitte, wen die Saison vorbei ist, dann esse ich wieder alles, was auf den Tisch kommt. Versprochen."
"Ich hoffe", seine Mutter wandte sich mir zu, "du wirst nicht genauso wie er, sonst muß ich mit deiner Mutter mal ein ernstes Wort reden."
"Keine Angst", beruhigte ich sie lachend, "ich ringe dann einfach in der nächsthöheren Klasse." Nils buffte mich in die Seite.

Er brachte mich noch bis zu unserer Ecke. Dort lagen wir uns noch einmal in den Armen. Ich weiß, ich werde heute Nacht von ihm träumen.

Sonntag, 24. November 1996

24. November

"Wo warst du denn gestern?"
"In der Halle."
"Nein, warst du nicht", meine Stimme war gereizt. "Ich habe überall geguckt und niemand hat dich gesehen."
"Ich bin nach dir da gewesen. Was soll überhaupt die Fragerei?"
"Ach naja, ich dachte wir können noch was zusammen machen."
"Verdammt, das dachte ich auch. Deshalb bin ich ja auch zu Miriam gefahren, um dich abzuholen. Aber dein Rad stand nicht mehr vor der Tür."
"Was hast du gemacht? Nee, ich war gar nicht mit dem Rad unterwegs. Ich bin gelaufen. Und von Miriam zu dir und deine Mutter hat gesagt, du bist in der Halle...ach Shit, ist ja auch egal. Warum hast du nicht angerufen?"
"Ich war noch mit Max in der Tofa."
"Aha."
"Hör bloß auf, hier die beleidigte Leberwurst zu spielen. Schließlich hast DU gestern den halben Tag bei Miriam verbracht." Was sollte denn diese Scheiße? Ich hätte ihm so gerne erzählt, was gestern passiert ist und wie ich mich hinterher gefühlt habe. Aber wie soll ich denn da noch irgendwas erzählen? Wir standen wieder da und starrten uns an. Es dauerte eine halbe Minute und dann waren wir beide wieder dahingeschmolzen. Eine Umarmung wäre das Schönste gewesen. Doch das ging nicht, Nils mußte gleich auf die Matte.

Erst auf dem Heimweg konnte wir uns endlich wieder in den Arm nehmen. Es ist schön, ihn zu spüren und zu wissen, er ist da.

Jetzt sitze ich zu Hause an meinem Schreibtisch. Ich habe das Fenster aufgemacht und spüre die Kälte. Doch es ist schön, etwas zu spüren. Ich rieche die Wiesen, den nahen Wald. Und obwohl es dunkel ist, ist es, als wenn ich alles sehen kann. Ich atme tief durch und ich weiß, daß es mir eigentlich ganz gut geht. Nein, mir geht es sogar ganz, ganz toll. Wenn ich überlege, was in dem letzten halben Jahr alles passiert ist, dann glaube ich, daß es mir noch nie so gut gegangen ist. Und ich hoffe, daß es ewig und immer so bleibt.

Samstag, 23. November 1996

23. November

"Oh, schön, daß du da bist. Und so püüünktlich."
Miriam öffnete die Tür und flötete in ihrer albernsten Tonlage: "Komm doch rein. Meine Eltern sind nicht da."
Als wenn DAS mich interessieren würde. Welcher Teufel hatte mich eigentlich geritten, hierher zu kommen? Schon aus dieser Entfernung roch ich ihr Parfum und hätte beinahe angefangen zu kotzen. Na toll, das konnte ja was werden. Die Tür fiel hinter mir ins Schloß. Wieder mal wünschte ich mir die Gentlemanerziehung meiner Mutter zum Teufel. Warum hatte ich nicht einfach 'nein' gesagt und basta? Ihr Zimmer sah so aus wie ich mir ein typisches Jungmädchenzimmer vorstelle. Nicht daß ich viele Jungmädchenzimmer kennen würde. Eigentlich kenne ich gar keines. Aber wenn, dann wäre DAS der Prototyp: weiß, rosa, hellgrün. Es sah aus wie kitschiges Eis. Ergänzt wurde das alles durch allen möglichen Kram, der sich auf jedem freien Platz breitmachte: Plüschtiere, ein lila Porzellankerzenhalter, ein Glasschwan, alles unnütze Staubfänger. Und natürlich, Pferdebilder. Pferderbilder? Ich dachte bisher immer, daß so was für Mädchen aus der Grundschule wäre. Als Gegengewicht gab es Bilder von Take That an der anderen Wand.
"Möchtest du etwas trinken?"
"Himmel nein!" rutschte es mir raus.
Verzweifelt starrte ich auf ihren Plüschtierzoo. Ich kramte meinen Matheordner raus. Wir setzen uns nebeneinander. "Also, paß auf, das Wichtigste ist...", ich begann mit meinem Redeschwall. Vielleicht, so dachte ich mir, wenn ich ihr so viel wie möglich erkläre und das auch noch ganz kompliziert, verliert sie die Lust.
"Und was kommt dann auf dieser Seite der Gleichung raus?"
Statt zu antworten guckte sie mich verträumt an. Shit, ich kam mir vor wie in einem schlechten Film. "Sag du es mir."
Unsere Arme berührten uns. Ich rutschte zum äußersten Ende des Schreibtischs. "Das kann doch nicht so schwer sein!" Ich kam mir vor wie ein Lehrer vor einer Klasse mit lauter Dumpfbacken.
"Ach, warum kannnst du das so gut?"
"Was weiß ich."
Ruckartig stand ich auf und ging zum Fenster. Was machte ich hier eigentlich? Bin ich denn schon völlig verblödet? Ich sitze hier bei einem Mädel mit klimpernden Augen in einem Waldmeister-Eis-Zimmer und erkläre Mathe-Formeln. Und ein paar Ecken weiter sitzt der Junge meiner Träume! Warum war ich bloß in diese Falle gegangen? Ich starrte hinaus. Es hatte zu regnen begonnen. Und sie fing an zu reden. Ich stand da am Fenster, blickte auf die trübe Straßenlaterne und brummte vor mich hin. Ich ging alle möglichen Entschuldigungen durch wie ich mich davon machen konnte. Plötzlich verstummte sie: "Tiiim, du sagst ja gar nichts!"
"Ich höre halt zu!" Das war glatt gelogen.
"Ach endlich mal ein Junge, der zuhört", seufzte sie. Ich merkte schon, daß hier schwereres Geschütz her mußte, nur was?
"Ich hole uns was zu trinken", flötete sie. Ja, ja, mach nur, dachte ich. Und dann, fast wie die Kavallerie in letzter Minute hörte ich unten die Tür klappen: "Miriam, wir sind wieder da!" Ah, Jubel, ihre Eltern kamen. Ich hörte sie so was murmeln wie: "Wieso seid ihr denn jetzt schon da. Ach ja, ihr wißt ja ich habe Besuch." Die Antwort bekam ich nicht mit. Wenn das nicht die ideale Gelegenheit war, um zu gehen. Ich griff meinen Rucksack, stopfte meinen Ordner rein und ging nach unten. "Das ist Tim aus meiner Klasse, wir haben Mathematik gelernt. Er ist nämlich der absolute Spezialist." Ach ich war ihren Eltern ja so dankbar und deshalb war ich natürlich der Charme in Person. Dummerweise sezten sie dieses typische 'Das-ist-aber-ein-netter-Junge-den-hätten-wir-gerne-als-Schwiegersohn-Lächeln' auf.
"Willst du schon gehen?"
"Ja, ich muß. Ich habe meiner Mutter versprochen, noch, äh, den Rasen zu mähen."
"Junge, es regnet doch."
Kein Mensch mit Sinn und Verstand, käme wahrscheinlich auf die Idee, im November Rasen zu mähen.
"Wir haben so einen skandinavischen Rasen, den kann man nur mähen, wenn es regnet." Ich log das Blaue vom Himmel herunter.
"Schade, daß du schon gehen mußt. Aber wir können uns ja in den nächsten Tagen noch mal treffen."
Ich lächelte gequält. Miriam lächelte zurück. "Also Tschüß." Noch ehe ich mich versah, hatte sie mir einen Kuß gegeben. "Ich hab dich gern", hauchte sie. Ich griff panisch zu Türklinke. Endlich ich war draußen. Miriams Gequake war endlich verstummt, doch WAS war passiert? Ich trat in den Regen und öffnete meinen Mund. Wie konnte ich diesen entsetzlichen Geschmack von Vanille und Lippenstift wieder wegbekommen? Ich rannte los. Einfach durch den Regen, um jeden Gedanken an dieses Mädel aus meinem Kopf zu verbannen. Als ich völlig außer Atem anhielt, bemerkte ich, daß ich genau vor Nils' Haus stand. Nils, mein Nils, jetzt, genau jetzt brauche ich dich, dachte ich, als ich klingelte. Seine Mutter öffnete: "Hallo Tim. Willst du zu Nils? Der ist nicht da."
"Wo ist er denn?" ich merkte wie meine Stimme merkwürdig schrill klang.
"Er wollte noch mal zur Halle, glaube ich."
Ich nickte und rannte wieder los. Ich rannte mir die Lunge aus dem Leib. Ich meine, ich kann schon laufen, wenn es sein muß eine ganze Stunde. Aber das Tempo, was ich jetzt rannte war zu heftig. Völlig kaputt und durchnäßt kam ich an der Trainingshalle an. Doch Nils war nicht da, weder in der Halle noch in der Umkleide. Niemand konnte sich erinnern, Nils heute schon dort gesehen zu haben. Ich setzte mich auf den Treppenabsatz und begann zu heulen. Ich begann tatsächlich zu heulen. Ich weiß überhaupt nicht wieso eigentlich. Vielleicht war das alles zu viel für mich. Alles was im Moment passiert.

"Was sitzt du denn hier draußen im Regen?" Das war Werner. "Du bist ja völlig durchnäßt!"
Ich erzählte ihm, daß ich einfach ein bißchen gelaufen wäre und daß es dann angefangen hätte zu regnen. Er bot mir an, mich nach Hause zu fahren, was ich dankbar annahm.
"Ich habe gehört, du kämpfst nächste Woche."
Ich nickte. Wo hat er denn das gehört? Dieser Verein ist wirklich ein offenes Buch. "Ja und hinterher kann ich mich einsargen lassen."
"Wieso?"
"Naja ich glaube ich bin einfach noch nicht so weit."
"Wann glaubst du denn, daß du so weit bist? Du brauchst Erfahrung und Erfahrung bekommst du nur im Wettkampf. Nicht im Training. Wenn du die ersten Kämpfe verlierst, was soll's? Irgendwann gewinnst du."
"Das sieht Dimitri bestimmt anders."
"Das sieht er nicht anders. Würde er dich sonst aufstellen? Er ist halt manchmal wie ein roher Klotz. Aber im Grunde ist er ein feiner Kerl."
Ich schwieg. Mochte ja sein, aber mir war nicht danach, immer den feinen Kerl hinter einem rohen Klotz zu suchen. Wir waren angekommen. "Ich drücke dir jedenfalls die Daumen."

"Eine Miriam hat für dich angerufen", rief mir Mom als ich noch nicht mal richtig drin war.
"Sie wollte nur wissen, ob du gut angekommen bist."
"Hat sonst noch jemand angerufen? Nils vielleicht?"
"Nein, aber vielleicht kannst du und dein Vater ja mal diese ISDN-Anlage richtig programmieren, daß die Gespräche auch da ankommen, wo sie sollen. Ich habe auch was Besseres zu tun, als ständig die Telefonsekretärin für dich zu spielen."
Ich warf die Zimmertür hinter mir zu. Ich starre auf das Telefon und warte, daß er anruft. Doch nichts, nichts passiert. Nils, wo bist du?

Freitag, 22. November 1996

22. November

"Tiiiim!"
Wenn es etwas gibt, was ich hasse (ok, es sind eigentlich eine ganze Menge Dinge, die ich hasse), dann ist es, wenn mein Name mit diesem langgezogenen i ausgesprochen wird. Miriam mit ihrer Babystimme erinnerte mich schmerzhaft daran, daß wir uns ja in dieser Woche zum Lernen treffen wollten. Ich bin aber auch ein totaler Idiot. Warum habe ich nicht gleich von Anfang an gesagt, daß sie mich in Ruhe lassen soll? Aber nein, Tim ist wieder mal zu feige. Ich schlug Doris vor, sie solle mich doch einfach mal vor der ganzen Klasse küssen, was sie leider kategorisch ablehnte. "Ich bin doch nicht deine Ali-Biene", protestierte sie, "da mußt du schon alleine durch." Na toll. Da ich wußte, daß auch Nils nicht bereit war, mich vor der versammelten Klasse abzuknutschen (nein, ich will jetzt nicht darüber nachdenken, ob ich das machen würde!), blieb mir nichts anderes übrig als mich für morgen mit diesem Monster zu verabreden. Ich hätte sie ja so gerne an Max oder jeden anderen Jungen in der Klasse weitergereicht, aber ich glaube zum Zuhälter fehlt mir noch Einiges. Sicherheitshalber erzählte ich Nils von der ganzen Sache. Der war wieder mal total amüsiert. Komisch, alles was mich eventuell berührt, macht ihn entweder sauer, eifersüchtig oder er findet es lustig. "Vielleicht sollte ich wirklich FFF machen."
"FFF?"
"Find them, fuck them, forget them."
Blöderweise machte ich diesen Vorschlag mitten im Training, was zur Folge hatte, daß er mich blitzschnell auf die Matte warf und mich so hart festhielt, daß ich tatsächlich für einen Moment richtig Angst bekam. "Wage es ja nicht", zischte er. Was mich so verwirrte, ja ängstlich machte, war, daß in seiner Stimme und seinem Gesicht nicht die Spur von Scherz oder Blödelei war. Es war eiskalt. Es dauerte einen Augenblick, bis ich mich wieder gerappelt hatte. Dimitri pfiff: "Kreis!" Wir versammelten uns für die taktische Besprechung.

Donnerstag, 21. November 1996

21. November

"Wieviele Schwule kennst du eigentlich?"
Nils und ich waren auf dem Weg vom Training nach Hause. Diese Frage kam so aus heiterem Himmel, daß ich einen Augenblick stehenbleiben mußte und überlegte.
"Was meinst du mit 'kennen'?"
"Richtig kennen, also nicht deine Schwimmbad-Quickies, sondern Schwule mit den du dich richtig unterhalten hast?"
"Das sind nur zwei: Du und ein Typ aus der ehemaligen Oberstufe."
"Von unserer Schule? Wer war denn das?"
"Den kennst du bestimmt nicht. Boris heißt der, aber der hat im Sommer Abi gemacht."
"Und wie gut kennst du ihn? Habt ihr etwas miteinander gehabt?"
"Meine Güte, nein!" Ich verstand nicht recht, was er mit seiner Fragerei rausbekommen wollte. "Und damit du es gleich weißt", ich merkte, wie ich langsam bockig wurde, "ich habe ihn schon seit mindestens einem halben Jahr weder gesehen noch gesprochen. Weil das absolut nicht mein Typ ist und es eigentlich nur Zufall war, daß wir uns kennengelernt haben."
"Ist ja schon gut, du brauchst dich doch nicht gleich aufzuregen."
"Was soll eigentlich deine Fragerei."
"Ich weiß nicht. Vielleicht... ach ich weiß nicht."
"Komm, raus damit. Da ist doch was."
"Es ist nur", ich sah, wie er sich quälte, "ich habe einfach nur Angst, dich zu verlieren. Ich glaube du bist schon viel weiter, mit dem, naja, mit dem wie wir sind." Ich merkte, wie schwer es ihm viel, das Wort 'Schwulsein' oder 'schwul' auszusprechen. Ich merkte, wie mich ein Gefühl von Wärme durchströmte. Er schien mir auf einmal so verletzlich, so zerbrechlich, als wenn ich ihn vor der ganzen Welt beschützen müßte. Meinen Nils, der normalerweise immer der coole Macher war. Ich wartete ab, bis die Leute, die uns entgegenkamen, vorüber waren und dann drückte ihn ihn ganz kräftig an mich: "Ich werde dich nie wieder loslassen. Du bist mein Lieblings-Nils. Und für mich ist das alles doch genauso neu wie für dich."
"Aber für dich scheint alles viel leichter zu sein."
"Was meinst du mit leichter?"
"Na du redest so einfach davon, daß du schwul bist. So als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Verdammt noch mal, ich habe einfach Angst. Angst, daß das jemand erfährt."
Ich rede selbstverständlich vom Schwulsein? Ich war völlig baff. Ich versuchte ihm zu erklären, daß er keine Angst haben braucht. Daß ich es bestimmt niemandem erzählen werde und daß ich das vielleicht einfach nur für mich selbstverständlich finde, weil ich weiß, daß ich gar nicht anders kann, als den Jungs hinterherzugucken.
"Wann hast du es das erste Mal gemerkt?"
"Uff, vielleicht so mit 11 oder 12."
"Und wie?"
"Naja, ich merkte einfach, daß ich immer nur den Jungs hinterherguckte oder sie anstarrte. Und irgendwann, als ich mit dem Wichsen anfing, waren es eben immer nur Jungs oder Männer an die ich dabei dachte. Wenn irgendwo in der Zeitung ein Bild von einem nackten Typen war, oder wenn der einfach nur cool aussah, dann habe ich mir die Zeitung aufgehoben und das Bild ausgeschnitten. Oder wenn irgendwas in der Art im Fernsehen war."
"Und da wußtest du schon, daß du schwul bist?"
"Nein, zu der Zeit noch nicht, jedenfalls nicht richtig. Ich dachte immer, das geht irgendwann vorbei. Ich habe eigentlich zu der Zeit gar nicht darüber nachgedacht. Es war eben so. Peng! Aus! Nur wenn ich jetzt an die Zeit denke, dann wird mir das klar."
"Und wann weißt du es nun richtig?"
"Seit diesem Frühjahr. Also da habe ich wirklich zu mir gesagt: 'Ja, ich bin schwul.' Aber glaube bloß nicht, daß damit alles leichter geworden ist. Eigentlich genau umgekehrt. Plötzlich war mir klar, daß ich eben nicht so bin, wie alle anderen um mich herum." Ich zwinkerte ihm zu: "Mit Ausnahme von dir."
"Wie? Wie konntest du denn das wissen?"
"Mensch, das war ein Joke." Es begann zu nieseln.
"Wieso gerade im April?" Ich wunderte mich über seine Hartnäckigkeit. Längst waren wir an der Kreuzung angekommen, wo wir uns eigentlich trennen mußten. Es war kalt, naß, aber wir standen da und redeten über unser Schwulsein, als würde es keinen angenehmeren Ort auf der Welt geben.
"Ach ja, vielleicht war es die neue Schule, die neuen Leute. Und außerdem war ich verliebt."
"Damals schon?"
Ich nickte. Wir sahen uns um. Weit und breit war niemand in Sicht. Eine kurze, heftige Umarmung, ein heißer Kuß und dann trennten sich unsere Wege. Es muß schon ein seltsames Bild gegeben haben. Da umarmen sich zwei Jungs im Regen, küssen sich und dann trennen sich ihre Wege, immer wieder unterbrochen von stummen Blicken zurück.

Mittwoch, 20. November 1996

20. November

"Ich mag den November nicht."
Doris und ich saßen am Fenster und malten an den beschlagenen Scheiben des Klassenzimmers herum. "Vielleicht könnte man ihn abschaffen, oder das so machen, wie mit der Sommerzeit. Wir lassen den Juli und August statt aus 31 Tagen aus 62 Tagen bestehen. Dann gibt es nicht mehr diesen blöden November." Doris fand meine Logik nicht so überzeugend. Aber mir fiel auch nix besseres ein. Und so lief dieser ganze Tag ziemlich öde dahin. Das Training war auch wieder die übliche Schinderei. Und eigentlich ich möchte endlich Nils mal wieder im Arm halten. Also zusammenfassen ist dieser Tag eigentlich völlig daneben und man könnte ihn wirklich abhaken. Ok, ich habe Matteo geschrieben, aber wenn ich ehrlich bin, war es nur ein ziemlich belangloses Blabla. Was soll ich ihm auch schreiben? Soll ich ihm von Nils erzählen. Obwohl, das wäre vielleicht ja eine ganz witzige Sache. Mal zu testen, was er für eine Reaktion zeigt. Ach nee, ich mache das ja sowieso nicht.


23:35
Ich kann nicht einschlafen. Ich weiß nicht wieso. Mir gehen alles möglichen Sachen durch den Kopf. Keine Probleme oder so was. Ich denke nur über eine Sache nach und denke und denke und komme vom Hundertstel ins Tausendstel. Ich bin aufgestanden und habe allen Ernstes angefangen, einen Brief an Phil zu schreiben, in dem ich ihm die Sache mit mir und Nils erzähle und erkläre. Nach einer Seite habe ich alles wieder in klitzekleine Stücke zerrissen und im Klo runtergespült. Bin ich feige oder bin ich klug? Ok, ich versuche jetzt noch mal zu pennen.

Dienstag, 19. November 1996

19. November

"Kann ich heute zu dir kommen und Emails abholen?"
"Von mir aus. Aber ich bin um vier beim Krafttraining."
Max kniff die Augen zusammen: "Du bist zu viel mit Nils zusammen."
"Wieso?" brauste ich auf.
"Du wirst genau so ein Ringerstreber wie er."
Ich redete auf ihn ein, daß das ja wohl ganz was anderes wäre, und daß wenn ich was mache es auch richtig mache. Beinahe hätte ich auch gesagt, daß ich nicht wie er zwischendurch aufhört. Aber das verkniff ich mir. Eigentlich beneide ich ihn etwas, daß er einfach so aufhört.

Diesmal habe ich Nils gleich Bescheid gesagt, daß Max am Nachmittag bei mir ist, damit er nicht wieder eine Szene macht, wenn er davon erfährt. Er war irgendwie ganz erstaunt und meinte nur, das wäre doch ok. Aber dann fand er es wohl doch ganz nett, daß ich es ihm gesagt habe.

Am Nachmittag hat sich dann Max entschuldigt, wegen heute Morgen. Ich habe ihm gesagt, daß es nicht so schlimm ist. Ich meine, er hat es ja nun auch nicht leicht. Dann fragte er mich nach Miriam aus. Aber ich konnte ihm ja nun auch nicht viel sagen. Aber ich habe ihm das gesagt, was bisher war. Weil, wenn sie schon alle möglichen Sachen rausposaunt, dann darf sie sich nicht wundern, wenn ich das genauso mache.
"Wie hast du das gemacht?"
"Was?"
"Daß sie dich angequatscht hat?"
"Ganz klar: Schönheit, Intelligenz und Charme."
"Blödmann, dann hätte ich sie schon längst haben müssen." Ich guckte ihn an und konnte ihm eigentlich in keinem der Punkte recht geben, also schwieg ich. Aber er war unheimlich scharf darauf, noch mehr Details zu erfahren: "Und wie ist sie so?"
"Ich habe keine Ahnung."
"Ach komm schon, du willst doch nicht sagen, daß du sie noch nicht in der Kiste gehabt hast."
Ich wurde stinkig: "Auch wenn es dich überhaupt nichts angeht: Ich hab sie noch nicht in der Kiste gehabt und hab' es auch net vor." Ich merke, daß ich, wenn ich mich aufrege, allmählich diesen bekloppten schwäbischen Sprachstil annehme. Max guckte mich an als würde er mich nicht glauben. Aber wenigstens hatte ihn meine Antwort dazu gebracht, wieder das Thema zu wechseln. Ich kriege echt zu viel manchmal. Als wenn sich alles in der Welt nur um Mädels dreht für Jungs. Das Dumme ist, daß ich nicht mal mit Nils darüber sprechen kann, weil ich glaube, daß er das sowieso nicht versteht. Ach ja...er hat natürlich gleich als ich beim Krafttraining ankam gefragt, wie es mit Max war. Ich habe ihm gesagt, daß er nur seine Emails abgeholt hat und fertig. Es wäre ja vieles viel leichter, wenn er nicht so entsetzlich eifersüchtig wäre. Aber dafür war er trotzdem wieder soooo lieb. Ach ja, ich möchte so gerne wieder eine ganze Nacht nur mit ihm alleine sein.

Montag, 18. November 1996

18. November

"Willst du über Weihnachten und Neujahr mitkommen zu Oma?"
Huch! Mom und Dad haben mich GEFRAGT? Tatsächlich gefragt und keinen Befehl gegeben? Ich bin ja völlig baff. Vielleicht kapieren sie langsam, daß ich erwachsen werde. Ich habe einen Augenblick überlegt. Ich denke, das ist gar nicht so schlecht. Was soll ich hier, wenn Nils nicht da ist? Wenn er nicht in die Skiferien fahren würde, würde ich ja hier bleiben, aber so würde ich bestimmt wieder die totale Depression kriegen. Also habe ich zugesagt. Ich freue mich auch darauf, Phil und Oma wiederzusehen. Und vielleicht sind ja einige von den Leuten vom Gysue auch noch da.

Beim Training habe ich inzwischen den Eindruck, daß ich auf der falschen Veranstaltung bin. Ich habe irgendwann mal einen Film über so eine Army-Ausbildung gesehen. So komme ich mir echt inzwischen vor, nur daß ich (noch) nicht durch den Schlamm robben muß. Ich frage mich echt, warum ich das Ganze mache. Vielleicht sollte ich ja doch wieder mit Tennis anfangen.

Sonntag, 17. November 1996

17. November

"Hi Brüderchen, wie geht's?"
Wow, Phil hat angerufen. Er ist tatsächlich beim Bund und mitten in der Grundausbildung. Er meint es geht eigentlich ganz gut. Shit, das kann doch wohl nicht wahr sein. Mein eigener Bruder mein es geht eigentlich ganz gut beim Bund. Das ist doch wohl voll daneben. Wie auch immer, wir haben eine halbe Ewigkeit gequatscht. Ich fand es toll, wieder mal seine Stimme zu hören.

Spannenderweise war das Wetter heute ganz gut, so daß ich mich mit Nils noch auf eine große Runde Fahrradfahren verabredet habe. Dummerweise hat er das gleich als willkommene Gelegenheit genutzt, mich bis zum Umfallen durch die Gegend zu treiben. Das wäre gut für die Kondition meint er. Als wenn ich das nötig hätte. Naja auf jeden Fall ist er ganz der Alte.

Samstag, 16. November 1996

16. November

"Wir müssen aufpassen, daß ihn nicht irgendein anderer Verein uns wegschnappt."
Das war Werner zu Dimitri und es ging um Nils. Ich bekam das Gespräch am Rande mit, als es um die Bundesligamannschaften und den Nachwuchs ging. Ach ja, Nils ist schon der große Champ. Beinahe jeden Kampf gewinnt er klar. Und ich freue mich für ihn. Es ist jedesmal toll, sein strahlendes Gesicht zu sehen, wenn der Schiedsrichter seinen Arm hochhebt. Und obwohl es eigentlich immer so klar ist, daß er gewinnt, sitze ich auf der Tribüne, sitze ich am Rand und zittere mit, kaue an meinen Fingernägeln. Ich spüre seinen Schmerz in meinem Körper. Daß da ist mein Junge und wir sind Eins!

Auf der Rückfahrt saßen wir ganz hinten im Bus, ich durfte mitfahren, weil ich ja sowieso bald zur Mannschaft gehöre. Wir haben (wieder mal) gewonnen. Aber nach dem gemeinsamen Essen sind alle ziemlich müde und so ist nichts mehr von dem allgemeinen Gegröle da. Man sitzt nur da, Walkman im Ohr oder schläft. Nils und ich nebeneinander und ganz heimlich, so daß es niemand sieht, hält er meine Hand und drückt sie, so als will er sagen: Wir gehören zusammen. Ankunft am Vereinsheim, die Jungs verabschieden sich. Nils und ich gucken uns fragend an. Wir wissen nicht so recht, was wir machen sollen. Auf die Tofa haben wir beide keinen Bock und so gehen wir einfach ein bißchen spazieren. Als wir am Kochertalweg sind, nimmt er wieder meine Hand. Wir gehen einfach nur so daher, schweigend und brauchen nichts zu sagen. Ab und zu ein heftiger Kuß, eine Umarmung. Es ist kalt, der Winter kommt, doch das stört uns nicht. Ich fühle die Wärme seiner Hand, sein Gesicht, seinen Atem. All das hält mich warm. Über zwei Stunden lang sind wir so durch die Gegend gelaufen, ehe wir uns trennen mußten, jeder wieder zu sich nach Hause. Jeder in sein eigenes Bett.

Freitag, 15. November 1996

15. November

"Du triffst dich nächste Woche mit Miriam?"
Nils' Stimme war irgendwas zwischen vorwurfsvoll und eifersüchtig.
"Ja, leider", seufzte ich.
"Wieso DAS denn?"
"Sie hat es irgendwie geschafft, mich rumzukriegen, mit ihr Mathe zu lernen."
Sein Gesicht verdüsterte sich: "Mathe lernen? Mit dir?"
"Ja meine Güte, ich finde das auch nicht so toll. Ich werde mich einmal mit ihr treffen und dann irgendeine Ausrede finden, warum das nicht mehr geht." Nils guckte mir lange in die Augen, so als wollte er meine Gedanken lesen. Dann verzog er den Mund, seufzte und meinte: "Na gut, Hauptsache du paßt auf." Eigentlich wollte ich ihm sagen, daß er sich überhaupt keine Sorgen machen braucht. Daß es es gar keinen Grund gibt, eifersüchtig zu sein. Aber das erschien mir so überflüssig, weil so selbstverständlich, daß ich also lieber gar nichts sagte.

Was mich eigentlich viel mehr wundert, ist die Frage, woher er das überhaupt weiß? Wobei es ja eigentlich klar sein dürfte. Ich habe nix gesagt, also muß Miriam, diese dumme Ziege das rausposaunt haben. Ich wollte ihn fragen, aber mir war etwas anderes wichtiger: "Was machen wir denn heute Abend?"
"Nichts, mein Vater hat Geburtstag und wir feiern heute."
"Oh, ich könnte dazukommen", blödelte ich, "und du stellst mich deiner Familie als den neuen Schwiegersohn vor."
"Hast du ein Rad ab?" Er hatte den Scherz nicht verstanden. Vielleicht wollte er ihn auch gar nicht verstehen. Vielleicht war er auch immer noch sauer wegen der Sache mit Miriam. Es war mir egal. Ich wollte endlich, daß er sich endlich wieder normal benimmt. Wir waren gerade auf dem Weg zum Hof und ich zog ihn aufs Klo, drückte ihn an die Wand und küßte ihn. "Damit du endlich kapierst, daß ich nur dich liebe", sagte ich. In diesem Moment war mir alles egal. Ob jemand noch auf dem Schulklo war, ob jemand reinkommt, es war mir egal. Aber zum Glück waren wir alleine. Ich sah Tränen in seinen Augen, zum ersten Mal: "Es tut mir leid. Es ist doch nur, weil ich dich so liebe." Dann riß er sich los und rannte davon. Den ganzen Rest des Tages wich er mir aus, guckte mich nicht mehr an und am Ende der letzten Stunde rannte er aus der Klasse und war schon weg, ehe ich überhaupt verstand was los war. Verdammt noch mal, was sollte das? Nils fährt mit meinen Gefühlen Achterbahn und ich weiß nie, woran ich bin, oder was gerade los ist. Am liebsten hätte ich ihn angerufen, aber ich wußte ja, daß er mit seiner Family Geburtstag feierte. Ich habe solche Angst, ihn zu verlieren, aber was kann ich denn machen? Ich will doch gar nicht, daß jemand anderes über uns Bescheid weiß. Ich will doch nur, daß wir zusammen sind. Ich lief in meinem Zimmer den halben Abend auf und ab. Jedesmal wenn ich irgendwas anfangen wollte, sprang ich auf und machte wieder etwas anderes. Beim Abendbrot war ich mit den Gedanken natürlich wieder ganz woanders, ich bekam gar nicht mit, daß alle ganz erstaunt waren, daß ich an einem Freitagabend zu Hause blieb.

Dann, kurz vor halb zwölf Telefon. Nils! Er flüstert in den Hörer. Er entschuldigt sich, sagt es tut ihm leid. Ich sage, er braucht sich nicht zu entschuldigen. Verdammt, eigentlich kann ich ihn so gut verstehen, und dann wieder doch nicht. "Sehen wir uns morgen, nach den Wettkämpfen?" fragt er fast schüchtern.
Mein Herz macht wieder einen Sprung: "Natürlich!" Ich merke, wie ein Felsen von meinen Schultern genommen wird. Nils, mein liebster Nils!

Donnerstag, 14. November 1996

14. November

"Wann treffen wir uns denn nun mal?"
Miriam hatte mich erwischt. In einem unvorsichtigen Moment als ich allein auf dem Weg zum Chemiesaal war, hatte sie mir aufgelauert. "Ja, äh, keine Ahnung."
Sie klimperte mit ihren Wimpern. Ich versuchte, durch sie hindurch zu gucken.
"Also?"
"Warum fragst du nicht Tobias, der ist doch auch gut in Mathe."
"Warum willst DU mir denn nicht helfen?" Himmel hilf! Wie kann man nur so eine quakige Babystimme haben?
"Ich?"
"Ja, du."
Das war aber auch eine tolle Unterhaltung. Wobei ich nicht verstand, wieso sie nicht endlich kapierte, daß mich die ganze Sache nur nervte.
"Bitte", flehte sie mit hilfloser Stimme.
Erwischt! Scheiße. Was hatte ich getan? Dieses jammernde flehende Bitten hatte mich in einer Zehntelsekunde weichgemacht und ich stimmte zu, daß wir uns in der nächsten Woche treffen. Sie kicherte und verschwand Richtung Chemiesaal.
Die Klausur war ziemlich katatrophal ausgefallen. Ich hab eigentlich Glück und noch ne 3- geschafft. Dementsprechend war die Stimmung.

Und dann noch Training und wieder Einzeltraining. Ach ja, wenigstens mit Nils. Er ist wirklich unerbittlich als Trainer. Ein einziger Griff und das drei Stunden lang! Aber wenigstens können wir uns in die Augen gucken, zuzwinkern und uns tatsächlich spüren.

Mittwoch, 13. November 1996

13. November

"In zwei Wochen bist du dran."
Shit, ich wußte, daß das kommen würde. Aber ich habe gehofft, daß das noch wirklich eine Weile dauert. Aber Dimitri meint, es wäre so weit. Außerdem sagt er, er hätte keinen, der in der 55 kg ringen könnte. Ich eigentlich auch nicht. Weil, ich bin zu schwer. Ein Kilo muß ich mindestens noch abnehmen, aber ob ich das schaffe in den zwei Wochen. Dimitri meint, daß das kein Problem ist und Nils grinst natürlich wie ein Hongikuchenpferd. Krönung der ganzen Sache: Ich bekomme ab sofort eine Sonderbehandlung beim Training, was soviel heißt wie Einzeltraining. Mit dem Erfolg, daß ich mit so gut wie gar nicht bewegen kann und ich mich fühle wie nach meinem allerersten Training.
"Beim Ringen gewinnst du entweder oder du verlierst", meinte Nils.
"Wow, tolle Weisheit."
"Und wir wollen, daß du gewinnst. Oder willst du die Mannschaft blamieren?"
Na toll, super, das ist genau das, was ich jetzt noch gebraucht habe.

Dienstag, 12. November 1996

12. November

"Was ist denn zwischen dir und Miriam los?" fragte mich Doris.
"Wieso, was soll denn los sein?"
"Sie guckt immer zu dir rüber und lächelt so aus dem siebenten Himmel."
"Was weiß ich denn. Die scheint es auf mich abgesehen zu haben."
"Ich bringe dich um, wenn du etwas mit einer Frau anfängst", zischte sie.
Ich glaube, das hat sie mir schon mal gesagt und es klang diesmal wirklich total überzeugend. Ich konnte sie beruhigen: "Etwas ähnliches hat Nils auch schon gesagt. Ihr braucht euch aber keine Sorgen zu machen: ich bin schwul."
"Herr Berger, würden sie bitte die Freundlichkeit besitzen, uns zu erklären, woran das Parteiensystem der Weimarer Republik krankte?"
"Ja, äh, also..." Was interessierte mich das Parteiensystem der Weimarer Republik? Ich war eingekeilt zwischen Nils vor mir, einer eifersüchtig zischelnden, schwangeren Doris neben mir und einer wimpernklimpernden Ziege, für die ich offenbar die willkommene nächste Beute war. Und da sollte ICH was über das Parteiensystem der Weimarer Republik sagen? Ich stoppelte irgendwas zusammen, daß ihn zu der Bemerkung veranlaßte, ich soll mir doch am Abend überlegen, nicht so viel Traminer in mich reinzuschütten. Abgesehen davon, daß ich gerade erst mal nachgucken mußte, was Traminer überhaupt ist, fand ich diese Bemerkung total unverschämt.

Ich jedenfalls wich heute die ganze Zeit nicht von Doris oder Nils' Seite. Solange einer von beiden in meiner Nähe ist, so meine Überlegung, wird Miriam es nicht wagen, mich anzusprechen. So überstand ich den Schultag ohne neuerliche Anbaggerversuche.

Nils findet die ganze Angelegenheit immer noch total witzig. Wir haben beim Krafttraining über nichts anderes gesprochen. Wir waren so angegackert, daß ich irgendwann sagte: "Vielleicht sollte ich sie einfach einmal durchficken und dann aufstehen, ihr einen Zehnmarkschein auf den Nachttisch legen und gehen." Gut ich gebe zu, das war nicht sonderlich geistreich, aber es sollte wirklich nur ein billiger Joke sein. Nils starrte mich jedenfalls entsetzt an: "Ich würde dich umbringen."
"Das habe ich heute schon einmal gehört, von Doris."
"Dann solltest du dir mal überlegen, was du so sagst."
"Meine Güte, ich habe nicht vor mit diesem albernen Teil auch nur irgendwas anzufangen. Hast du vergessen, daß ich schwul bin?"
Er schien beruhigt und blödelte wieder: "Schwul? Das mußt du erst mal beweisen."
Und ich bewies es ihm, als wir uns in der Sauna einen runterholten. Schnell, immer mit einem Ohr an der Zugangstür und trotzdem unendlich geil.

Montag, 11. November 1996

11. November

"Das war ja eine schöne Scheiße", fluchte Tobias. Ich glaube der Meinung waren alle von uns. Die Chemieklausur war der absolute Hammer. Ich saß vor dem Bogen und dachte, ich muß jetzt eine neue Formel für den nächsten Nobelpreis entwickeln. Naja, ich habe dann irgendwas hingeschrieben, mal sehen, was rauskommt. Aber doll ist es bestimmt nicht.

Und dann hat sich heute noch was ereignet, was ziemlich daneben ist: Miriam hat mit mir gesprochen. Es gibt Leute in meiner Klasse, mit denen rede ich normalerweise nie. Nicht daß ich mit denen zerstritten wäre; sie interessieren mich einfach nicht und ich sie wahrscheinlich auch nicht. Und Miriam ist so ein Mädel. So ein typisches dürres Gestell, das sich für ein Model hält. Alle Jungs der Klasse, nein eigentlich der ganzen Schule (na gut nicht alle, ein kleines gallisches Dorf...) sind hinter ihr her. Doch sie blickt nur gelangweilt um sich und läßt einen Verehrer nach dem anderen abblitzen. Max hat mir erzählt, daß er sie in Stuttgart mal mit einem Typen in einem GTI Cabrio gesehen hat. Ob es nun an dem Wetter liegt, was Cabriofahren nicht besonders attraktiv macht oder an was anderem...ich weiß es nicht. Jedenfalls quakte mich dieses Teil mit ihrer Dreijährigenstimme heute in der großen Pause an: "Tiiiiim!" So klingt nicht mal Lisa. Ich hab zuerst gar nicht geschnallt, daß sie mich meinte, so meilenweit entfernt schien mir der Gedanke, daß sie mit mir redet. Aber es bestand kein Zweifel: Ein anderer Tim war weit und breit nicht greifbar.
"Ja?" antwortete ich mit einer Mischung aus Verwirrung und Desinteresse.
"Hast du Chemie auch so schlimm gefunden?" Sie sagte das natürlich anders, in purem Schwäbisch, das ich allerdings überhaupt nicht zu Papier bringen kann. Mit meiner Antwort beging ich einen schweren taktischen Fehler: "Es ging so."
"Ich habe ja überhaupt nichts kapiert, und wenn ich dieses Jahr durchrassele kann ich das Abi vergessen." Ich konnte ihrer Logik nicht ganz folgen, aber das war mir im Grunde genommen auch völlig egal. Eigentlich hätte ich ihr vorschlagen sollen, doch gleich ganz von der Schule abzugehen. "Und weil du doch in Mathe und Physik so gut bist, dachte ich mir", dabei klapperte sie allen Ernstes so mit ihren Wimpern, daß ich mir auf die Zunge beißen mußte, um nicht laut loszulachen, "ich dachte mir, wir könnten für die nächsten Klausuren vielleicht zusammen lernen."
ALARMSTUFE ROT. Ich setzte mein Verarschungsgesicht auf und klimperte genauso extrem zurück: "Wieso?" Ok, eine etwas intelligentere Antwort wäre besser gewesen. Warum, warum nur mußte dieses dumme Teil ausgerechnet MICH anquatschen wo doch Millionen von Jungs in ganz Deutschland ihr hinterhersabberten? Warum ich? Das Dumme war: sie fühlte sich nicht verarscht. "Wen soll ich denn sonst fragen?"
Mädchen, wollte ich am liebsten rausschreien, sieh dich doch einfach mal um. Im Umkreis von 50 Meter stehen mindestens 10 Jungs, die gleich und sofort mit dir jedes Fach der Welt lernen würden. Nur ich, ich bin nicht interessiert! Nicht an Mädchen im Allgemeinen und an einer wimpernklappernden, mundrotbemalten Claudia-Schiffer-Kopie mit quakender Kinderstimme im Speziellen auch nicht. Nur blöderweise habe ich das natürlich nicht gesagt. Statt dessen murmelte ich etwas wie: "Naja mal sehen. Frag mich doch einfach noch mal vor der nächsten Mathe-Arbeit." Fehler, großer Fehler. Ich bin manchmal soooo bekloppt! Sie strahlt mich an und umarmt mich. Dann rauscht sie in Richtung Treppenhaus. Jeder andere Junge wäre den Rest seiner Schuljahre stolz bis zum Gehtnichtmehr gewesen, wenn ihm das passiert wäre. Allein die Umarmung vor allen Anderen auf dem Schulhof hätte in etwa dem Ansehen einer nagelneuen BMW-Maschine entsprochen. Mir war das Ganze nur peinlich. Peinlich vor allem, weil natürlich gerade in dem Augenblick, in dem sie mich umarmte, Nils in Sichtweite kam. Bevor er irgend etwas fragen konnte, ja noch bevor er überhaupt sein so niedliches fragendes Gesicht aufsetzen konnte, lief ich auf ihn zu: "Wo warst du denn?" rief ich ihm entgegen.
"Wieso? Was ist denn los?"
"Du hättest mich vor diesem männermordenden Ungeheuer Miriam beschützen können. Hat sie dich auch schon gefragt?"
"Gefragt? Was denn? Was ist denn los?"
"Miriam hat mich gerade gefragt, ob wir nicht zusammen Mathe lernen wollen. Mich! Gefragt! Mathe!"
Für eine Sekunde starrte mich Nils an, als hätte ich zwei Nasen und dann lachte er laut los: "Du hast eben Chancen bei den Frauen."
"Scheiß drauf, warum fragt sie ausgerechnet mich?"
"Keine Ahnung." Er war sichtlich amüsiert. "Und was hast du geantwortet?"
"Daß ich schwul bin und daß mich Mädchen nicht interessieren." Die Panik, die innerhalb einer Zehntelsekunde in seinem Gesicht erschien, entschädigte mich wieder für seinen Spott. "Ich habe glaube ich einen großen Fehler gemacht", fuhr ich fort. Ich sah wie sich wieder mal seine Augen verengten. "Ich habe nicht einfach 'nein' gesagt, sondern so was wie 'mal sehen.'" Nils boxte mir scherzhaft auf den Arm: "Na, daß mir da keine Klagen kommen."
"Verdammt noch mal", begann ich zu schreien und flüsterte dann weiter "ich liebe doch nur dich." Nils strahlte und blickte verlegen zu Boden. Ich hätte ihn so gerne umarmt in diesem Augenblick. Er blickte auf und sein Blick war Umarmung genug.

Sonntag, 10. November 1996

10. November

"Das kapiere ich nie", hörte ich Nils am anderen Ende jammern. Mir ging es genauso. Ein total verregneter Sonntag und dann auch noch Chemie lernen. Es gibt Sachen, die kann ich mir zwanzig Mal durchlesen und es bleibt nichts hängen. Chemie gehört dazu. Eigentlich will ich jetzt ganz andere Sachen machen, als vor diesem bekloppten Buch und vor meinem Hefter zu sitzen. Aber ich weiß, daß das jetzt nicht geht. Ich gehe zum Fenster und reiße es auf. Der kalte Nieselregen weht in mein Zimmer. Ich versuche mich so weit wie möglich rauszulehnen, um wenigstens in die Richtung gucken zu können, wo Nils wohnt. Es funktioniert nicht. Ich könnte Ordnung in meine CDs bringen, irgendwas machen, nur nicht Chemie lernen. Aber was soll's, ich muß es morgen können, also los jetzt!

Samstag, 9. November 1996

9. November

"Ich nehme an, du willst nicht mit nach Stuttgart kommen", fragte Dad beim Frühstück. Genau. Im Moment brauche ich nichts aus Stuttgart. Was anderes dagegen viel mehr. Und kaum war unser Auto aus der Ausfahrt verschwunden rief ich bei Nils an und fragte, ob er nicht vorbeikommen will. Er war sofort einverstanden und nach einer halben Stunde hielt ich wieder meinen Nils in den Armen.
"Wie war deine Nacht?" fragte er.
"Einsam."
"Und er hier?" er griff nach meinem Ständer.
"Der hat total Lust auf dich."
Wir landeten auf meinem Bett. Unsere Sachen flogen durch die Gegend. Da war es wieder, dieses endlose Gefühl von Glück und Wärme. Jetzt weiß ich, was die Leute meinen, wenn sie sagen, daß sie 'im siebenten Himmel schweben'. Und es ist was ganz Tolles passiert heute: Zum allerersten Mal habe ich den Schwanz von einem anderen Jungen in den Mund genommen. Erst habe ich ihn nur geküßt, dann habe ich seine Spitze mit meiner Zunge gekitzelt und dann traute ich mich, ihn ganz in den Mund zu nehmen. Ich merkte, wie Nils total rasend wurde. "Das war toll", flüsterte er als wir danach eng umschlungen nebeneinander lagen, "so was Geiles habe ich noch nie erlebt."
"Das will ich auch stark hoffen", meinte ich scherzhaft.
Er schloß die Augen: "Ich will, daß es immer so bleibt." Als Antwort küßte ich jeden Zentimeter seines Körpers.

Ich wußte nicht genau, wann meine Family aus Stuttgart zurück sein würde. Aber ich rechnete im Stillen so mit je einer Stunde Fahrt und noch mindestens zwei Stunden Einkauf. Und so zogen wir uns sicherheitshalber irgendwann gegen Mittag wieder an, taperten in die Küche und machten uns was zum Essen. Wir paßten auf, daß sich das Chaos, das wir verursachten, in Grenzen hielt. Diese Augenblicke sind toll, wenn es so ist, als würden wir richtig zusammenleben.

Irgendwann hörten wir den Wagen die Einfahrt hochkommen. Ein letzter schneller Kuß. Guten Tag, guten Tag, ich bin gerade am Gehen, wir sehen uns nachher beim Turnier, Tür zu, Nils ist weg. Von einer Sekunde auf die andere hatte das Haus sich komplett verändert. Alles steht noch an seinem alten Platz und auch die Möbel sind noch die gleichen. Doch trotzdem erscheint mir jetzt wieder alles anders: eingeengter, dunkler. Eben noch war es Nils' und mein Reich gewesen, wo jeder Raum erfüllt war von unserer Liebe, wo alles einfach ganz selbstverständlich war. Und nun ist es wieder das Haus meiner Eltern. Ich wohne hier, das ist aber auch alles. Nils ist nicht mehr hier, er gehört auf einmal nicht mehr hierher.

Nachdem ich mir die Stories der Einkaufsfahrt angehört hatte, taperte ich in mein Zimmer. Das Kopfkissen riecht noch nach Nils. Ich vergrabe mein Gesicht darin und träume. Zum allerersten Mal habe ich heute einem Jungen einen geblasen. Ich gucke in den Spiegel, ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen, es ist mein Gesicht und es sieht immer noch so aus wie heute früh. Und trotzdem fühle ich, weiß ich, daß ich wieder ein Stück mehr erwachsen geworden bin.

Nun mache ich mich auf und tapere los zum Turnier. Noch habe ich ein bißchen Galgenfrist, bis ich wieder selbst antreten muß.

Freitag, 8. November 1996

8. November

"Mein Gott, hab dich doch nicht so."
Nils und ich waren heute wieder kurz vor einem Streit. Wir waren alle heute Abend in der Tofa. Es war eigentlich ganz nett, nur daß Nils sich irgendwie den ganzen Abend lang mit zwei Mädels beschäftigt hat. Es sah wirklich so aus, als würde er sie anbaggern. Es ist wirklich Scheiße, wenn ich merke, wie ich eifersüchtig werde. Ich will das eigentlich nicht, aber wenn ich sehe, wie Nils, mein Nils, den ganzen Abend mit zwei Mädels rumbaggert und mich nicht einmal anguckt, kommen mir schon die wildesten Gedanken. Irgendwann habe ich zu ihm gesagt, daß ich gehe und er meinte, er würde mitkommen. Er wollte wissen, warum ich so ein Gesicht mache. Ich habe ihm gesagt, daß ich es nicht so toll fand, wie er sich den Abend über benommen hat. Nils meint, das wäre alles überhaupt nichts und ich soll mich nicht so haben. Er zwinkerte mich an: "Bist du etwa eifersüchtig?" Shit, er hatte mich erwischt und ich schwieg. "Och, ist das niedlich", lachte er und zog mich in einen Hauseingang und gab mir einen langen Kuß. Ich schmolz dahin. "Mein kleiner eifersüchtiger Tim", flüsterte er. Es begann zu regnen aber wir standen einfach nur da, in der Dunkelheit und hielten uns ganz fest.

Donnerstag, 7. November 1996

7. November

"Wir fahren in den Weihnachtsferien nach Saalbach zum Skifahren."
Na toll, super. Nils fährt mit seiner Family in die Berge und läßt mich hier alleine zurück. Das habe ich ihm auch gesagt, daß ich das nicht so toll finde. Eigentlich habe ich gehofft, daß wir die Tage gemeinsam verbringen können, vor allem auch Sylvester. Er meint, er hätte gar nichts machen können, seine Eltern haben schon alles gebucht. So ein Mist. Wir haben sowieso viel zu wenig Zeit, die wir ungestört zusammen verbringen können. Heute, nach dem Training: eine Stunde. Seine Eltern waren Essen gegangen. Wir umarmten und küßten uns und trauten uns doch nicht, mehr zu machen; immer hörten wir nach draußen, ob wir den Wagen hören. Trotzdem war es traumhaft schön, ihn wieder zu spüren.

Mittwoch, 6. November 1996

6. November

"Keine Ahnung, das war noch nie irgendein Thema bei uns."
Ich habe Nils gefragt, wie seine Family das mit dem Schwulsein sieht. Nicht daß ich geglaubt hätte, daß das irgendwann mal Thema bei Nils zu Hause war. Aber es hätte ja sein können, daß es auch so einen Ausspruch von jemandem von seinen Leuten gegeben hat. Als ich ihm von Moms Bemerkung erzählt habe meinte er: "Siehst du, wir müssen eben höllisch aufpassen, daß das niemand mitkriegt." Ich gebe ja zu, daß er wahrscheinlich recht hat. Aber es ist eben so verdammt schwer, sich zusammenzureißen. Vielleicht wäre es wirklich anders, wenn ich alleine wohnen würde. Ich glaube, dann wäre das alles viel leichter.

Komischerweise versucht Tobias seit der Sylt-Fahrt wieder mehr Kontakt zu mir zu kriegen. Heute hat mir ewig lange vom Bergbacher Jazzfest erzählt, das wohl heute anfängt. Ich weiß nicht, was dahinter steckt, aber ich habe einfach zugehört; obwohl ich überhaupt keine Ahnung von den ganzen Combos habe.

Dienstag, 5. November 1996

5. November

"So etwas ist doch abartig. Daß die sich nicht schämen."
Mom verzog ihr Gesicht. Wir saßen beim TV und zufällig lief ein Bericht über Schwule. Na toll. Meine eigene Mutter findet Schwule abartig. Nicht daß ich das nicht schon vorher gewußt hätte. Aber wenn sie es so deutlich ausspricht, ist es, als wenn sie mir mit einem Messer ins Herz sticht. Ok, ich habe endlich einen Freund, den ich wirklich total liebe. Aber daß wir zusammen sind, müssen wir verstecken. Und das macht die Sache nicht leicht. Eigentlich geht es mir ja so, daß ich es rausschreien möchte; die ganze Welt sollte und könnte es auch erfahren. Aber nein, ich weiß, daß das nicht geht. Wenn schon meine eigene Mutter Schwule verachtet, wie würden erst die anderen in der Schule oder im Verein reagieren?

Ansonsten war heute wieder Kraft-und Sondertraining mit Nils. Ich glaube wirklich, daß ich immer besser werde. Ok, Nils hat mehr Muskeln als ich und er ist sowieso meilenweit, uneinholbar besser. Aber ganz so daneben wir noch vor einem halben Jahr bin ich nicht mehr.

Montag, 4. November 1996

4. November

"Macht euch schon mal Gedanken, über eure Bogy-Stelle im nächsten Jahr."
Hier gibt es so etwas, wie ein Berufspraktikum, offiziell "Berufsorientierung an Gymnasien" oder einfach Bogy genannt, wo man eine Woche lang in irgendeiner Firma rumpfriemelt, um angeblich einen Eindruck von der Arbeit da zu bekommen. Naja, ich habe ja noch eine Weile Zeit. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mir eigentlich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was ich nach dem Abi machen werde. Auf jeden Fall nicht zum Bund, aber das ist ja klar. Ich habe auch gar keine Lust, mir darüber im Augenblick Gedanken zu machen.

Ich habe es ja irgendwie schon erwartet. Es ist natürlich total komisch mit Nils zusammen in der Schule. Er benimmt sich zwar völlig normal wie immer. Aber zwischendurch gibt es immer wieder Augenblicke, wo wir uns einfach nur in den Arm nehmen möchten, was aber natürlich nicht geht. Wir entwickeln so eine Art Geheimsprache mit den Augen.

Das Training war ja wieder gottvoll heute. Dimitri meint, den Drill noch weiter anziehen zu müssen. Dementsprechend fertig waren wir alle danach. Aber ansonsten gab es nichts besonderes dabei.

Sonntag, 3. November 1996

3. November

"Kannst du etwa noch mal?"
"Ich glaube schon", antwortete ich grinsend.
"Hilfe, mein Freund ist ein Sexmonster!" rief er lachend.
"Dann eben nicht." Ich spielte den Beleidigten und tat so, als würde ich mich anziehen wollen. Nils nahm mich zärtlich in den Arm: "Ich lasse dich nicht gehen. Nie wieder."
Wir sprangen unter die Dusche und räumten die letzten Reste des Kühlschrankes aus. "Ab morgen mußt du aufpassen, was du ißt, damit du in der Gewichtsklasse bleibst." Ich nickte.
Als seine Eltern zurückkamen saßen wir wie zwei mustergültige Jungs im Wohnzimmer und zappten uns durchs Fernsehprogramm. Mit vereinten Kräften hatten wir hoffentlich alle Spuren der letzten Tage und Nächte beseitigt. Irgendwann mußte ich mich auch zu mir aufmachen. Die Verabschiedung wie früher, keinen Kuß, keine Umarmung. Aber ein Blick in die Augen, der alles sagt.

Samstag, 2. November 1996

2. November

"Du sitzt ja immer noch bei den Zuschauern."
Benji stieß mich in die Seite.
"Nicht mehr lange, beim Kochertal-Turnier muß ich mitmachen."
"Das klingt ja nicht so begeistert."
"Naja, was soll ich sagen, ich denke einfach, daß ich noch nicht so weit bin."
"Oh, soll ich dir ein paar Lektionen geben?"
"Nein danke", sagte ich lachend, "ich habe schon zwei Trainer. Das reicht."
"Na bitte, wie du meinst." Ich weiß nicht, ob er den Beleidigten nur spielte.

Mir ging es bei diesem Wettkampf ganz komisch. Zigmal hatte ich vorher Nils auf der Matte erlebt. Früher fand ich seine Kämpfe interessant, das war alles. Jetzt saß ich da, fieberte jede Sekunde mit und biß auf meinen Fingernägeln rum. Es war als erlebte ich jeden Griff, jeden Wurf am eigenen Körper, als spürte ich jeden Schmerz, den er spürte. Am liebsten wäre ich dazwischen gegangen. Niemand sollte das Recht haben, meinem Nils wehzutun. Doch das mußte ich gar nicht, denn er gewann jeden Kampf. Am Schluß stand er da und schaute strahlend zu mir, als wollte er sagen: das habe ich alles nur für dich gewonnen. Ich nickte ihm zu. Wir mußten nicht reden.

Dimitri meinte, Max wäre ab sofort raus aus allen Wettkampfaufstellungen. "Wer das Team im Stich läßt, soll auch nicht mehr für das Team kämpfen", meinte er. Mir war nicht so ganz klar, was das für mich bedeutete, bis er mit seinen Gewichtsverschiebungen rausrückte: ich soll tatsächlich immer noch in der 55 kg Klasse antreten. "Das ist doch voll bekloppt. Jetzt muß ich aufpassen, was ich esse, damit ich nicht zu schwer werde."
"Es sei denn", meinte Nils, "du wirst besser als ich, dann kannst du ja in meiner Klasse ringen."
"Naja, ich denke, das wird in ein oder zwei Monaten so sein", lachte ich. Er nahm mich scherzhaft in den Schwitzkasten: "Ich brauche Gegner, keine Opfer."
"Das ist heute unsere letzte gemeinsame Nacht für die nächste Zeit", flüsterte er mir zu, "morgen kommen meine Eltern zurück." Ich wußte, was das bedeutete und nickte. Und so mache ich mich jetzt auf dem Weg zu Nils.

Freitag, 1. November 1996

1. November

"Kaffee?"
"Um Gottes Willen nein, Kakao."
"Das ist ganz schlecht für dein Gewicht."
"Pah, das ist mir egal. Und überhaupt. Was ist an meinem Gewicht zu meckern?"
"Naja, wenn du auf mir draufliegst..."
Wir jagten uns lachend durch die ganze Wohnung bis wir wieder in der Küche waren. Nils hatte ein riesiges Frühstück gezaubert und wir räumten fast den gesamten Kühlschrank leer. Ich hoffe, ich kann ihm irgendwann mal bei mir zu Hause so ein Frühstück machen. Es ist alles so, so selbstverständlich. Nachdem wir mit dem Frühstück fertig waren, sind wir zu mir getapert. Ich hatte ein wenig Angst, daß Mom und Dad doch noch zu Hause geblieben waren, aber wir waren allein. Auf dem Eßtisch lag ein Zettel, daß ich Lisa am Nachmittag von Sarahs Eltern abholen soll. Wir spielten etwas am Computer, schmusten rum. Irgendwann klingelte das Telefon: Es war Doris. Sie erzählte mir, daß sie einen riesigen Zoff mit Clemens hatte und daß sie ihn nie wieder sehen will. Nils guckte mich fragend an. "Es ist Doris", flüsterte ich ihm zu, während ich den Hörer zuhielt. Er verzog das Gesicht. "Was ist los?" fragte Doris, "störe ich?"
"Nein, es ist nur Nils da."
"Ach so, grüß ihn von mir. Und sag ihm, daß alle Männer Schweine sind."
"Hey, das wird doch wieder mit dir und Clemens."
"Ich weiß nicht, das ist doch alles eine große Scheiße."
"Ach was, weißt du, ich komme heute abend vorbei, ok? Dann reden wir in aller Ruhe."
Shit, ich sah wie Nils' Mundwinkel nach unten wanderten.
"Oh Tim, das ist lieb. Ich glaube ich brauche heute wirklich jemanden zum Reden."
Ich legte auf. Keiner sagte etwas. Irgendwann krächzte ich heiser: "Ich bin heute Abend bei Doris."
Nils schwieg. "Sie hat Streß mit ihrem Typen."
Nils nickte: "Ich dachte nur, daß wir den Abend heute zusammen verbringen."
"Ich muß ihr helfen. Weißt du, als es mir so dreckig ging, weil ich schwul bin und weil ich mich so allein gefühlt habe, da war sie immer da und hat mir geholfen."
"Weiß sie etwa Bescheid?"
"Ja."
"Bist du bekloppt?" Er sprang auf und starrte mich an: "Hast du ihr etwa auch von mir erzählt?"
"Ja natürlich. Aber du kannst ganz ruhig sein. Sie tratscht nichts weiter."
"Verdammt noch mal, wie kannst du so etwas machen? Hast du nichts Besseres zu tun, als rumzulaufen und das in der Weltgeschichte rumzuposaunen? Das ist ein Ding zwischen uns beiden!"
Langsam wurde ich auch wütend: "Ich habe gar nichts rumposaunt. Aber Doris ist meine beste Freundin. Sie weiß alles von mir. Und sie war immer da, wenn ich sie brauchte." Und dann sagte ich etwas, was ich lieber nicht gesagt hätte: "Sie war sogar da für mich, als du mit irgendwelchen Dosen rumvögeln mußtest."
Nils kniff die Augen zusammen. Er rief noch: "Du verfluchtes Miststück!" und rannte nach unten. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu.

Ein paar Minuten saß ich einfach nur da und starrte ins Leere bis ich endlich begriffen hatte, was gerade passiert war. Und dann fing ich an zu heulen. Die Tränen liefen mir die Wangen herunter, ich schluchzte und konnte gar nicht mehr aufhören. "Nils, bitte komm zurück", wimmerte ich vor mich hin. Doch da war kein Nils mehr. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dagesessen hatte, bis ich schließlich zum Telefon griff. Ich wählte Nils' Nummer. Doch er ging nicht ran. "Nils, bitte, geh ran", flehte ich verzweifelt in den Hörer. Ich blickte mich um. Mein Zimmer, alles sah noch genau so aus wie vor einer Stunde und doch schien mir alles so unwirklich weit weg. Das Telefon klingelte.
"Nils?"
"Nein, wer ist denn Nils?"
"Ach Mom, du bist es." Ich versuchte, meine Tränen runterzuschlucken und halbwegs ruhig zu klingen.
"Ja ich bin es, tut mir leid, daß ich diese Telefonleitung auch mal benutze", sagte sie mit vorwurfsvollen Ton. "Denkst du daran, Lisa von Sarah abzuholen!"
"Ja, ich habe den Zettel schon gesehen."
"Sehr schön, mach ihr bitte was zu essen. Es stehen genug Sachen im Kühlschrank; und nicht nur wieder Pommes mit Ketchup."
Ich legte auf und guckte zur Uhr. Zwei Stunden. Ich versuchte noch einmal Nils anzurufen. Jedes Klingeln wie ein weiterer Schritt auf den Abgrund zu. Ich raste nach unten, griff mir mein Rad und fuhr zu ihm. Ich konnte kaum etwas sehen, so sehr standen mir die Tränen in den Augen, doch ich fuhr so schnell wie noch nie in meinem Leben. "Ich liebe dich doch, verdammt noch mal ich liebe dich doch so sehr", mit jedem Tritt in die Pedale hämmerte dieser Satz in meinem Kopf. Endlich. Ich warf mein Rad auf den Weg, rannte zur Tür und klingelte. Klingelte Sturm. Nach einer halben Ewigkeit öffnete sich die Tür. Erst einen Spalt, so daß ich schon dachte, Nils Eltern wären da. Aber dann schwang die Tür auf und Nils stand vor mir. Er hatte Tränen in den Augen wie ich. "Tim ,ich..." Ich stürmte auf ihn zu: "Nils, es tut mir leid. Ich bin so ein verdammter Idiot. Ich wollte dir nicht weh tun."
Ich umarmte ihn und Nils schluchzte wie ein kleines Kind: "Tim, ich war der Idiot. Bitte, bitte verlasse mich nicht." Wir klammerten uns aneinander wie zwei Ertrinkende, die versuchen sich gegenseitig Halt zu geben. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände und küßte seine Tränen weg. "Ich habe solche Angst", sagte ich. "Ich habe dich so lieb und habe doch solche Angst, dich zu verlieren."
"Wir bleiben immer zusammen", flüsterte er, "was immer auch passiert." Ich drückte ihn fest an mich. "Es ist alles so neu für mich", sagte er nach einer Weile. "Ich habe nie daran gedacht, daß ich so...naja du weißt schon...so sein könnte."
Ich nickte.
"Ich dachte immer, das ist nur so eine Phase, daß das einfach irgendwann vorbeigeht."
"Aber es ging nicht vorbei."
Er schüttelte den Kopf: "Nein, im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Ich habe gedacht, ok, wenn ich mit einem Mädchen schlafe wird alles wieder gut. Aber ich fand es einfach nur langweilig."
"Es ist alles gut geworden", beruhigte ich ihn. "Es ist gut so wie es ist."
"Aber was ist mit den anderen? Was ist mit meinen Eltern? Wenn irgend jemand hier mitkriegt, daß wir so sind, dann können wir uns doch nur erschießen."

Ich fand das schon etwas übertrieben, aber im Grunde hat er recht. Ich meine, wenn ein Typ mit einem Mädel zusammen ist, dann können es alle sehen. Dann sollen es sogar alle sehen. Aber was um alles in der Welt ist, wenn zwei Jungen zusammen sind? Ich habe in Hamburg ein paarmal irgendwelche schwulen Pärchen Hand in Hand oder zusammen knutschend gesehen. Aber irgendwie fand ich das auch seltsam in der Öffentlichkeit vor anderen. Shit und hier, in diesem Kaff? Ich riß mich zusammen. Was machte ich mir eigentlich darüber Gedanken? Ich habe den süßesten Jungen der Welt. Ich habe ihn für mich, wir sind zusammen. Völlig egal, was draußen los ist. Wenn wir zusammen sind ist die Welt in Ordnung. "Wir sind zusammen", meinte ich, "das ist alles was zählt. Ok, wir können nicht händchenhaltend über den Marktplatz laufen. Na und? Wir haben alle Zeit der Welt wenn wir alleine sind."
"Wie hast du es Doris erzählt?"
"Es kam einfach so. Ich war damals total verknallt in jemanden aus der Klasse. Und das hat sie wohl mitgekriegt und mich ganz direkt drauf angesprochen."
"Verknallt? In wen warst du verknallt?"
"Unwichtig, das war wirklich nur so eine unglückliche Schwärmerei, der ist Hetero."
"Nein, komm schon, sag's mir." Nils begann mich abzukitzeln.
"Ok, ok", gab ich lachend nach, "ich sag es ja schon. Es war Tobias."
"Waaas?" Nils bekam einen Lachanfall. "Entschuldigung, aber dieser totale Langweiler?"
"Naja, ich fand ihn auf jeden Fall niedlich. Damals. Bevor ich wußte, daß er hetero ist."
"Der ist gar nichts, der ist nicht mal hetero."
"Sei nicht so gemein. Er ist ganz ok. Nur eben nicht schwul"
"Aber mir bist du trotzdem hinterhergelaufen, obwohl du gedacht hast, daß ich hetero bin."
"Erstens mein Schatz, bin ich dir nicht hinterhergelaufen und zweitens, ja, das ist eben was anderes." Er küßte mich um mich zum Schweigen zu bringen. "Ich freue mich, daß du so hartnäckig warst bei mir", strahlte er. Wir blickten uns eine Weile einfach nur in die Augen bis mir schließlich Lisa einfiel. "Verdammt, ich muß los, Lisa abholen." Über Nils' Gesicht huschte ein Schatten. "Komm doch einfach mit", schlug ich vor. "Wir können hinterher wieder zu mir gehen."
"Hmm, warum eigentlich nicht." Und so taperten wir im beginnenden Nieselregen los. Lisa war ganz aufgeregt, daß ich sie abholte. "Wir hätten sie auch gebracht", meinten Sarahs Eltern. Jaja! Wir taperten zusammen nach Hause. Ich mußte grinsen, weil ich mich daran erinnerte, daß ich fast die gleiche Situation schon mal mit Tobias hatte. Zu Hause gab es eine heftige Diskussion, weil Lisa unbedingt Pommes haben wollte. Wir haben uns dann schließlich auf Pizza mit Pommes als Beilage geeinigt, was ein ziemliches Chaos in der Küche verursachte. Schließlich landeten wir dann alle vor dem Fernseher und zappten uns durch die Programme. Lisa war eingeschlafen und Nils drückte sanft meine Hand. Wir guckten uns an und brauchten nichts zu sagen. "Weißt du was, komm doch einfach nachher mit zu Doris."
"Ich weiß nicht, ob sie das so toll findet."
"Ach was. Sie hat bestimmt nichts dagegen, daß ich meinen Freund mitbringen." Er grinste. Es scheint alles so selbstverständlich zu sein.

Doris hatte nichts dagegen. Sie freute sich sogar, daß er mitgekommen war. "Clemens hat vor einer Stunde angerufen und hat sich entschuldigt. Es ist alles wieder ok zwischen uns." Ich grinste: "Das scheint ja heute der Tag der Versöhnungen zu sein. Was war denn eigentlich?"
"Ach, vergiß es, ich will nicht mehr daran denken. Erzählt mir lieber, wie es mit euch beiden läuft." Nils und ich guckten uns an und mußten gleichzeitig losprusten. "Hauptsache du paßt gut auf den Kleinen auf", sagte sie. "Keine Angst", antwortete Nils und legte seine Arme um mich, "ich lasse ihn nie wieder los." Normalerweise hätte ich auf so etwas total allergisch reagiert. Doch bei Nils und in dieser Situation fühlte ich mich auf einmal so sicher und geborgen. Es war wirklich ein schöner Abend. Nils meinte hinterher, daß er nie gedacht hätte, daß man sich so gut mit Doris unterhalten könnte. "Kommst du mit zu mir?" fragte er auf dem Heimweg.
"Du weißt, ich würde nichts lieber als das tun. Aber ich glaube meine Eltern würden ausrasten, wenn ich heute Nacht wieder nicht zu Hause bin."
Er nickte. Ein langer Kuß zum Abschied.

Was ist nur alles passiert? Meine Welt hat sich komplett gedreht. Alles erscheint so anders. Dinge, die vorher so wichtig waren, haben ihre Bedeutung verloren. Gleichzeitig erlebe ich alles viel intensiver, viel näher dran. Jede Minute muß ich an ihn denken. Ich liebe ihn und habe doch gleichzeitig Angst, etwas Falsches zu sagen, ihn zu verlieren.