Montag, 31. März 1997

31. März

"Wo warst du denn gestern Abend?"
Nils' Stimme klang vorwurfsvoll.
"Ich war in Stuttgart, in dem schwulen Café."
Schweigen, nichts, kein Laut am anderen Ende der Leitung.
"Nils! Nils, bist du noch da?"
Nichts, absolut nichts.
"Nils verdammt noch mal, sag' doch was!"
"Findest du das ok?"
"Wie? Ok?"
"Was hast du da gemacht?"
"Ich habe mich verdammt noch mal unterhalten." Ich fühlte, wie langsam die Wut in mir hochstieg. Was sollte denn diese dumme Fragerei?
"Oh, ich hoffe, du hast dich gut amüsiert." Er klang so was von säuerlich, vorwurfsvoll und gekränkt.
"Ich habe mich nicht amüsiert, ich habe gesagt, ich habe gequatscht."
"Mit wem?"
"Mit einem Typen, den ich da kennengelernt habe."
Wieder Schweigen, nicht ein Laut, nicht mal Atmen.
"Nils, da war nichts. Ich habe mich unterhalten, verstehst du: u-n-t-e-r-h-a-l-t-e-n, gequatscht, nichts weiter. Ich dachte, du wolltest gestern deine Ruhe haben und auspennen.
"Und dann rauschst du gleich nach Stuttgart und machst irgendwelche Typen an."
Ich fasse es nicht. Ich sitze am Telefon und bin sprachlos. Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich sprachlos. Was hat er denn?
"Ich habe bei dir angerufen, weil ich mit dir zusammen sein wollte. Verstehst du, ich wollte mit DIR zusammen sein. Und du, du warst nicht da, hast dich irgendwo in der Weltgeschichte rumgetrieben."
Ich kam mir vor, wie in einem schlechten Film. Alles was ich zu meiner Verteidigung oder überhaupt als Argument anbringen wollte, schien mir so lächerlich und überflüssig. Er muß doch kapieren, daß da nichts besonderes bei ist, wenn ich mit einem anderen Typen einfach nur quatsche.
"Nils, ich komme vorbei, ok? Ich will dich sehen, ich will nicht nur durchs Telefon mit dir reden."
Schweigen...ich wurde fast wahnsinnig am Telefon.
"In einer halben Stunde am Kochertalweg, ok?"
Nach einer längeren Pause: "Ok." Ich hörte ihn schluchzen beim Auflegen.
Verdammt noch mal, was ist los mit meinem Nils. Mit meinem starken, tollen Nils? In meinem Kopf dreht sich alles und ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Ich fahre los.

Sonntag, 30. März 1997

30. März

"Meine Güte, das ist ja ein richtiges Verhör."
Robert lachte und holte Luft. Ich saß im Café in Stuttgart und mir gegenüber Robert. Der hatte mich nach einer ganzen Weile angesprochen, nachdem ich mich mit den drei verfügbaren Kuchensorten vollgestopft hatte und reichlich lustlos im Spiegel blätterte. Irgendwann kam er einfach an meinen Tisch und fragte mich, ob ich Lust hätte, mich zu unterhalten. Ich war erst mal ziemlich verwirrt, daß mich jemand so direkt anspricht, aber auf der anderen Seite war ich auch dankbar, jemanden zum quatschen zu haben. Also setzte er sich an meinen Tisch und er fragte erst mal, woher ich so komme und was ich mache. Er sieht ja insgesamt ziemlich uninteressant aus, auch wieder jemand aus der "Ich-sehe-Scheiße-aus-und-bin-auch-noch-stolz-drauf-Fraktion" aber man konnte sich wirklich ganz nett mit ihm unterhalten. Und ich habe ihn alles Mögliche und Unmögliche gefragt. Er ist 24 und "geoutet" so wie er es nennt. Das heißt alle seine Freunde und Bekannte und seine gesamte Family weiß daß er schwul ist. "Am Anfang war es schon komisch, den Leuten das zu sagen", meinte er, "aber inzwischen ist es für mich selbstverständlich. Naja, und die Leute, die damit ein Problem haben, daß ich schwul bin, die habe ich eben abgeschrieben. Solche Freunde brauche ich nicht."
Das beeindruckte mich schon in dem Moment, als er das so sagte. Aber jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, dann hat er es ja auch ziemlich leicht. Die meisten Leute hatten wohl sowieso kein Problem damit und er kennt eben genügend Menschen. Wenn ich mir aber das für mich überlege, dann wäre das ja die absolute Katastrophe wenn ich mit allen Leuten in meiner Schule und im Verein den Kontakt abbrechen müßte. Na ok, er studiert und hat eine eigene Wohnung, also da ist es sowieso viel einfacher, weil er von niemandem abhängig ist.
"Ich gehe eigentlich nicht viel in die Szene", meinte er. "Die Szene, also alle möglichen schwulen Läden, Cafés, Bars, Diskos, Clubs."
"Wieso nicht?" wollte ich wissen.
"Das ist mir zu oberflächlich. Außerdem ist da eh nur Fleischbeschau angesagt."
"Wieso denn zu oberflächlich?"
Er seufzte und zuckte mit den Schultern. Ok, wenn man so aussieht wie er, dann kann ich verstehen, daß er nicht in irgendwelche Clubs geht. Aber ich hätte es schon praktisch gefunden, wenn er mir noch ein paar Tips gegeben hätte, wohin man als Schwuler so gehen kann. Aber außer dem Tip mit der schwulen Jugendgruppe und irgendwelchen Treffs im Stuttgarter Stadtpark hat er mir nicht sonderlich viel sagen können. Überhaupt gibt es einige ganz komische Begriffe und Rituale. Also das gehen schwule Typen nachts in den Stadtpark, um mit anderen Sex zu haben. Das nennt sich dann Cruising und ist, so wie Robert sagte: "Total geil."
Mir lag ja auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er das nicht total oberflächlich findet, so einfach, um ihn zu provozieren. Aber das habe ich dann doch lieber nicht gemacht. Aber ich finde das total abartig und unpraktisch. Wieso soll ich nachts in den Park gehen und in irgendeinem Gebüsch Sex haben? Nein, ich will kuscheln und einfach alles in Ruhe genießen und nicht so was...das ist doch total daneben. "Wie lernst du denn sonst Leute kennen, ich meine aber nicht im Stadtpark", wollte ich wissen.
"Einfach so, in der Uni oder eben durch Bekannte und Freunde. Es ist ja einfach so, daß je größer dein Bekanntenkreis ist, desto mehr Leute kennst du auch."
"Naja aber die sind noch nicht alle schwul."
"Oh doch, bei mir die meisten schon."
"Hast du einen Freund?" wollte ich wissen.
"Nein, wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Hast du einen?"
"Ja!"
"Oha!" Ich sah das Erstaunen in seinem Blick. "Mit 16 oder 17 schon einen Freund? Hier in Schwaben? Das ist schon eine echte Leistung."
"Ich bin auch total glücklich."
"Halte ihn fest, aber nicht zu fest", sagte er fast verschwörerisch und kam näher. Er flüsterte: "Laß ihm Luft zum Atmen, aber sei für ihn da, wenn er dich braucht. Und setze nicht nur deinen Kopf durch."
Der letzte Satz verwirrte mich: "Was meinst du damit?"
"Nun, ich habe den Eindruck, daß du so ziemlich DEIN Ding durchziehst, was du willst. Du setzt deinen Kopf durch und fertig. Ich wette du bist ein Einzelkind."
"Falsch gewettet. Ich habe einen Bruder und eine Schwester."
"Oha!"
Ich liebe es, Leute zu überraschen.
"Aber ich denke, du weißt, was ich meine."
"Ich denke schon, aber ich bin nicht so", sagte ich. Verdammt, was hatte er gemacht? Jetzt sitze ich hier und mache mir Gedanken darüber, ob ich meinen Kopf immer durchsetze oder nicht. Ich beschließe, daß er mich gar nicht so kennen kann und daß das bestimmt so eine typische Floskel war.
"Wie war denn das, als du mit deinem damaligen Freund zusammengezogen bist?" wollte ich wissen.
"Oh, das war einfach toll. Wir hatten jede Menge Zeit füreinander."
"Und die anderen Leute haben keine Probleme damit gehabt?"
"Welche anderen Leute? Die im Haus? Nein, da wohnen bei uns ja sowieso alles Studenten und so. Da hat keiner ein Problem damit."
Ich gebe zu, in einem studentenverwalteten Haus zu wohnen, finde ich nicht besonders spannend.
"Aber wie war das, bevor du dahin gezogen bist, ich meine, hast du deinen Freund dann mit nach Hause gebracht?"
"Nein, als ich noch zu Hause gewohnt habe, wußte ich zwar, daß ich schwul bin aber ich hatte keinen Freund."
"Wie denn das? Wie hast du dann gewußt, daß du schwul bist?"
"Muß ich dir das echt erklären?"
"Nein, nicht wirklich. Aber ich meine, wieso hast du es denn dann deinen Eltern gesagt, wenn du sowieso keinen Freund hattest."
Robert schaute mich an, als würde ich vom Mars kommen. "Na, ich kann doch nicht die ganze Zeit Theater spielen."
Na toll, er scheint ja wirklich mit fast allem Glück zu haben. Aber das ist ja nun so nicht mein Ding. Ich meine, ich habe ja schon ein Problem damit, es irgend jemandem zu sagen und dabei habe ich sogar einen Freund. Ok, obwohl ich nicht alles so sehe wie er, fand ich den Nachmittag oder es war ja schon Abend mit ihm echt nett. Es war sehr angenehm mal mit jemandem zu quatschen, der auch Sachen beantworten kann. Ich fühle mich jetzt irgendwie ein klein bißchen lockerer. Nein, ich werde es jetzt niemandem aus meiner Family oder aus der Schule oder gar im Verein sagen. Aber ich weiß, daß es irgendwann mal vielleicht so weit sein kann. Wenn ich vielleicht auf bestimmte Sachen nicht mehr angewiesen bin oder einfach auch nur sicherer bin. Ich weiß, daß man es machen kann, mit seinem Freund zusammen zu ziehen. Und vielleicht ist es ja wirklich so, daß einem die anderen Leute, mit Ausnahme der Family und des ganz engen Kreises der Clique, so ziemlich egal sein können. Ich meine, mir war es ja auch egal, was unsere Nachbarn in Hamburg gesagt haben. Mom hat nur immer gesagt: ‚Psst, nicht so laut' oder ‚Wir müssen das Laub endlich zusammenharken, wer weiß, was die Nachbarn sonst sagen.' Scheiß drauf. Was interessieren mich wildfremde Leute? Was habe ich für Vorteile oder Nachteile, wenn ich sie ignoriere?
Naja, jedenfalls war ich von dem Reden so fertig, daß ich nicht noch weiter ins X1 gezogen bin sondern mich in den Zug zurück nach Bergbach gesetzt habe. Mir ist, als wäre ich ein kleines Stück mehr erwachsen geworden.

Samstag, 29. März 1997

29. März

"Bööhh, ist das öde!"
Nils schob lustlos die 16. Kloschüssel ins Regal. "Stell dir mal vor", sagte er, "das mußt du dein ganzes Leben machen."
"Was? Kloschüsseln stapeln?"
"Na zum Beispiel."
"Das stelle ich mir lieber nicht vor. Da würde ich mich ja gleich erschießen."
Ok, der Job ist öde. Auf der anderen Seite, ist es eben nur eine Woche und man kann so herrlich seinen Kopf dabei ausschalten. Jedenfalls standen wir am Ende des Tages ziemlich verloren auf dem Parkplatz.
"Und nun?" fragte ich
"Keine Ahnung, ich glaube ich düse nach Hause und hau mich hin."
"Um diese Zeit? Und heute Abend?"
"Ach nee, ich will einfach mal nichts machen."
Ich war etwas enttäuscht. Irgendwie hatte ich gehofft, daß wir heute noch etwas zusammen unternehmen. Aber ich sagte nichts. Ok, ich war auch fertig, aber doch nicht so dolle. Naja, wir schwangen uns auf die Räder und düsten los.

Zu Hause angekommen war die ganze Family im Aufbruch: "Wir fahren ins Theater, nach Stuttgart." Ich war etwas verblüfft. Niemand hatte mich gefragt, ob ich vielleicht mitkommen wollte. Nicht, daß ich mitgekommen wäre. Aber fragen hätte man mich doch wenigstens können. Mom und Dad waren der Meinung gewesen, daß ich ja sowieso nicht zu Hause wäre am Abend. Jawoll, und deshalb haben sie Lisa zu einer Freundin aus dem Kindergarten gebracht, dort machen die Eltern auch gleich noch das Babysitting. Schwupps, plötzlich ist Ruhe im Haus. Shit, sogar Phil ist mitgefahren und ich sitze ganz allein zu Hause. Ich nehme den Hörer ab und beginne, Nils' Nummer zu wählen. Aber nein, er hatte gesagt, er will sich hinlegen. Wie gerne hätte ich ihn jetzt bei mir. Ich laufe durch die Wohnung und langweile mich. Schalte den Computer an und gucke etwas bei AOL. Finde einige der schwulen Bilder wieder, werde geil, aber habe keine Lust, mir einen runterzuholen. Was für eine seltsame Stimmung. Ich dröhne mich mit "Oh Shit - Frau Schmidt" zu, und obwohl ich dieses Teil eigentlich völlig abartig finde, hüpfe ich dazu durch die Gegend. Shit, ich will raus, ich beschließe noch wegzugehen. Ich glaube ich fahre nach Stuttgart, vielleicht in das schwule Café, vielleicht auch ins X1, mal sehen. Der nächste Zug fährt in 40 Minuten, das schaffe ich.

Freitag, 28. März 1997

28. März

"Siehst du, wir haben fast die Halle für uns alleine."
Was mich auch nicht verwundert hat: Kein halbwegs vernünftiger Mensch trainiert am Karfreitag! Nicht daß ich mit der Religion da ein Problem habe, aber irgendwie ich weiß nicht. Ich finde, man kann es auch übertreiben. Aber ich wollte Nils nicht enttäuschen und überhaupt ist diese Trainingssession ja extra für mich. Und so haben wir tatsächlich geschlagene vier Stunden ganze ZWEI Griffe geübt. Ich glaube, wenn ich das nächste Mal auf der Matte stehe, dann kann ich nichts anderes mehr. Eigentlich wollte ich ja eher ein bißchen Chainwrestling machen, aber wir kamen nicht mehr dazu. Irgendwann schaute zu allem Glück oder Unglück noch Werner vorbei und gab den ein oder anderen Tip. Und so hatte ich alles in allem zwei Privattrainer, die sich einzig und allein um mein Wohlergehen kümmerten. Dementsprechend fertig war ich dann aber auch. Ich war tatsächlich so fertig, daß ich danach unter der Dusche nicht mal mehr einen Ständer bekam, als Nils meinen Schwanz streichelte. Shit, dabei wäre es so eine schöne Gelegenheit gewesen, weil wir völlig alleine waren. Aber es klappte einfach nicht. Jetzt, jetzt wo ich hier sitze und schreibe, jetzt habe ich einen Ständer, so ein Mist. Jetzt ist Nils nicht da. Ich freue mich echt total auf unseren gemeinsamen Urlaub: die ganze Zeit nur mit ihm zusammen, abends beim Einschlafen Nils, morgens beim Aufwachen Nils. Und keiner da, der uns stört, der reinkommt. Das wird bestimmt total cool. Ich habe ihm jedenfalls die Kataloge gegeben, damit er sich das Ganze schon mal angucken kann.

Dad ist gerade zurückgekommen und hat Phil und Oma vom Bahnhof abgeholt. Ja, die ganze Familie wieder zusammen. Trotz der anstrengenden Trainingssession habe ich Phil wohl so doll gedrückt, daß er laut aufschrie. "Hey, du wirst ja richtig zum Brutalo", lachte er, "ich glaube, ich muß meinem kleinen Bruder das Ringen verbieten."
"Ich glaube nicht", mischte Mom sich ein, "das du damit viel Erfolg haben wirst. Tim ist ja schon völlig vernarrt in seinen Sport."
Na toll, ICH bin vernarrt? ICH? Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich hatte keine Lust, das richtig zu stellen. statt dessen sagte ich trotzig: "Jawoll, und nächstes Wochenende bin ich wieder auf einem Wettkampf."
"Da seht ihr es", seufzte Mom, "andere Jungs in seinem Alter haben Mädchen im Kopf, aber nein, er denkt nur an diesen primitiven Sport."
Zum Glück rettete Oma die Situation, indem sie anfing, von Hamburg zu erzählen. Dann gab es das große gemeinsame Abendessen und die übliche große Familienrunde, die aber zum Glück nicht allzu lange dauerte, weil alle doch schon ziemlich müde waren. Und ich war tatsächlich so fertig, daß ich nicht mal mehr dazu kam, mich länger mit Phil zu unterhalten. Das Training hat mich wohl doch ziemlich geschlaucht.

Donnerstag, 27. März 1997

27. März

"Und hoch!"
Heute war "Brückenarbeit" angesagt beim Training. Ich hasse das. Es gibt nichts, was nerviger ist, als Brücke in allen Variationen zu üben. Mir tut der Kopf weh, mir tut der Nacken weh, mir tut einfach alles weh und ich bin gnatschig. Dabei war ich ganz gut, aber ich finde es einfach ziemlich daneben, Punkt, Ende.
Und zur Krönung des Ganzen habe ich mich für morgen mit Nils verabredet: Er hat sich natürlich durchgesetzt und wir machen Einzeltraining. Dabei würde ich lieber den Tag mit ihm, irgendwo auf einer stillen Wiese verbringen, in den Himmel gucken und träumen. Aber nein, wir müssen trainieren.

Ich habe endlich mal daran gedacht, Doris anzurufen. Es geht ihr ganz gut und sie meint, daß alles ok ist. Bald müßte es ja soweit sein. Ich kann es mir immer noch nicht vorstellen, Doris mit einem Baby auf dem Arm, Doris mit einem Kinderwagen. Das paßt irgendwie überhaupt nicht zusammen.

Ach ja, ich war heute auch noch im Reisebüro und habe mir ein paar Kataloge geholt. Bis jetzt bin ich nur dazu gekommen, kurz mal durchzublättern. Ich glaube, richtig gucke ich mir das mit Nils zusammen an. Ich werde die sicherheitshalber, damit ich sie nicht vergesse, schon mal in meine Sporttasche einpacken.

Mittwoch, 26. März 1997

26. März

"Unterschätze nie deinen Gegner", meinte Dimitri. Shit, wie recht er hatte. Ich habe heute gegen Kemal gekämpft. Der ist fast 10 Kilo leichter als ich und viel kleiner. Ich dachte, ich habe ein total leichtes Spiel. Nix da! Wie peinlich, ich hätte echt im Boden versinken können. Er ist viel, viel schneller. So schnell konnte ich nicht mal denken, geschweige denn ringen. Und das, was ich mehr an Kraft und Gewicht habe konnte ich dann sowieso nicht mehr einsetzen, denn er ist verdammt zäh. So ein Mist. Na und dann alles mit so einem lieben Lächeln, daß man ihm gar nicht böse sein kann, naja warum auch, wenn ich selbst zu blöd bin.
Nils grinste amüsiert. "Ich glaube, wir müssen mal wieder ein intensives Privat-Coaching machen."
"Ob das noch was hilft?"
"Ich denke schon." Er grinst weiter und flüsterte mir ins Ohr: "Und es gibt Kuschelentzug, bis du das nächste Turnier gewonnen hast." Ich guckte ihn an und wußte in dem Moment nicht so recht, ob er das ernst meinte, oder ob es ein Scherz war.
Naja, es war ein Scherz, wie sich auf dem Heimweg dann herausstellte. Aber zuzutrauen wäre es ihm.

Das mit dem Jobben und überhaupt die Sache mit dem Urlaub habe ich wohl ziemlich ungeschickt eingefädelt. Mom war überhaupt nicht davon begeistert, als sie das hörte. Dabei war es wohl gar nicht so sehr das Jobben, sondern wohl eher die Tatsache, daß ich alleine (nein ich sagte mit "einem Kumpel") in den Urlaub fahre. Ich weiß auch nicht. Ich meine, Phil ist die ganze Zeit weg und nicht zu Hause, damit haben sie sich ja auch abgefunden. Ich bin doch nun mal ein kleines Kind mehr.
"Ja, kein Problem, ihr könnt, wenn ihr wollt schon am Samstag anfangen."
Cool, es hat geklappt mit dem Ferienjob bei Brico und Nils und ich können sogar zusammen arbeiten. 480 Mark kriegen wir für die knappe Woche, das ist echt nicht schlecht. Das wird zwar bestimmt nicht reichen für den Urlaub, aber es ist ja schon mal ein Anfang. So jetzt mache ich mich erst mal auf zum Training.

Dienstag, 25. März 1997

25. März

"Oh, das tut mir leid, aber wir haben schon jemanden, der über Ostern bei uns jobbt", sagte Jürgen.
Schade, das wäre richtig gut gewesen und hätte sicher auch Spaß gemacht. Das ist ja aber auch beknackt, so spät erst anzufangen einen Ferienjob zu finden. Nils hatte noch die Idee gehabt, im Brico-Baumarkt nachzufragen, aber ich hatte nur so eine blöde Hotline am Telefon, die mich eine halbe Stunde lang mit blöder Musik volldudelte, da habe ich es dann aufgegeben. Ich werde es morgen einfach noch mal vor dem Training versuchen.

Es ist richtig cool, beim Krafttraining bin ich inzwischen schon bei fünf Geräten besser als Nils. Das macht mich richtig ein bißchen stolz (beinahe hätte ich jetzt "ein bissele" geschrieben). Nur bei den Bauchübungen, also Situps und Crunches ist er wirklich meilenweit besser.

Montag, 24. März 1997

24. März

"Na, wie fandest du es?"
"Ich glaube, das Lernen hat sich gelohnt", antwortete ich.
Nils und ich standen auf dem Hof und quatschten über die Klausur als Julia auf uns zukam und meinte: "Na ihr Zwei, ihr seid ja wirklich unzertrennlich."
"Wie meinst du das?" fragte ich irritiert.
"Na, so wie ich es gesagt habe. Man sieht euch ja nur noch zusammen. Unzertrennlich wie die Zwillinge, oder..."
Sie drehte sich um und ging in Richtung Triumphbogen. Nils und ich guckten uns an.
"Was sollte denn das?" fragte er.
"Ich weiß es nicht, echt nicht."
"Ob sie irgendwas ahnt?"
Ich zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Das glaube ich nicht. Wieso ausgerechnet diese dumme Gans?"
"Vielleicht sollten wir einfach vorsichtiger sein in Zukunft."
"Vorsichtiger? Womit denn, meine Güte?" Ich merkte wie wieder diese Wut in mir hochstieg. Diese Wut, die in der letzten Zeit immer stärker geworden war, wenn ich wieder mal dazu gezwungen wurde, Versteck zu spielen. Nils hob nur hilflos die Arme. "Vielleicht leider ich inzwischen ja unter Verfolgungswahn", meinte er.
"Das wird's wahrscheinlich sein", antwortete ich, ohne ihm zu sagen, daß mich die Bemerkung von Julia dann doch irgendwie beunruhigt.

Training war heute echt gut. Ich hatte wieder diese Energie in mir. Dimitri nahm mich nach der Session zur Seite und meinte, ich soll beim nächsten Ligakampf nach Ostern mitmachen. Und es ist seltsam: diesmal freue ich mich sogar darauf.

Sonntag, 23. März 1997

23. März

"Was machst du gerade?"
Nils hat gerade angerufen. Ich saß gerade beim Lernen für die Deutsch-Klausur morgen. Eigentlich habe ich auch gar keine Lust mehr, weiter zu lernen. Aber ich glaube es muß sein. Deshalb habe ich ihm auch gesagt, daß ich mich nicht mit ihm treffen kann heute. Er war etwas traurig und meinte, ich hätte ja schließlich auch vorher lernen können. Ok, ich gebe zu, er hat ja recht. Aber was soll ich denn jetzt machen? Nun habe ich die ganze Zeit nix gemacht, also muß ich wenigstens jetzt lernen.
"Geht's dir wieder besser?"
Wir waren nach dem Wettkampf noch alle zu Florian gegangen zu einer kleinen Spontan-Party. Jedenfalls war ich nach einer Weile etwas raus gegangen, weil ich bei dem ganzen Gequalme einfach mal etwas frische Luft brauchte. Und irgendwann kam Florian auf mich zu und fragte mich, ob es mir wieder besser geht.
"Wieso? Meinst du mir ging es schlecht?"
"Ich weiß nicht. Es schien nur so. Aber inzwischen scheint es dir ja wieder gut zu gehen. Um wen geht es? Miriam, Katja, oder wer ist sie?"
Borrh, immer wieder das Gleiche. Alles dreht sich um Mädels, Mädels und Mädels. Kommt denn keiner von diesen Jungs mal auf eine andere Idee? Ich konnte mich zum Glück mit ein paar dummen Sprüchen aus der Affäre ziehen. Jedenfalls ist Flori wieder der Meinung, daß es mir besser geht und bohrt nicht mehr nach. Dabei ist es ja eigentlich eine ganz nette Sache von ihm, daß er sich offenbar Sorgen macht. Irgendwann kam Nils raus und guckte etwas irritiert, als er mich mit Flori alleine da stehen sah. Aber ich habe es ihm auf dem Heimweg erklärt.

Samstag, 22. März 1997

22. März

"Ich habe es einfach nicht zu Hause ausgehalten", sagte Nils. Es war verrückt. Da stand er unter meinem Fenster. Und ich habe ihn reingelassen. Zum Glück haben alle schon geschlafen bei uns. Aber trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals. Auf der anderen Seite hatte ich so große Lust auf ihn. Ich glaube, wenn ich nicht so viel Alk intus gehabt hätte, hätte ich mich das auch gar nicht getraut. Aber so stand Nils plötzlich in meinem Zimmer und wir fielen übereinander her. Ich bedeckte ihn über und über mit Küssen. Es war, als würde ich schweben. Ihn wieder hier zu haben, hier in meinem Zimmer, in meinem Bett, es war so toll. Und gleichzeitig war mir alles egal, was um mich herum war. Ich dachte nicht daran, daß Mom und Dad nur ein paar Türen weiter schlafen. Es war mir alles egal, solange ich nur meinen Nils in den Armen hatte. Als ich aufwachte war es halb sieben. Neben mir lag Nils und schlief friedlich. Ich betrachtete seinen Körper. Und mir wurde wieder klar, was ich für ein Glück habe, wie gut es mir geht. Langsam streichelte ich seinen Rücken. Nils brummte leise.
"Guten Morgen." Er drehte sich um und strahlte mich an: "Es ist schön, neben dir aufzuwachen."
Das einzige Problem an diesem Morgen war nur, wie ich meinen Eltern seine Anwesenheit erklären sollte, oder wie ich ihn unbemerkt aus dem Haus bringen konnte. Aber wir hatten Glück. Das Wetter war gut und Mom und Dad deckten zusammen mit Lisa den Früchstückstisch im Garten auf. Und so konnte Nils tatsächlich ohne große Probleme aus dem Haus kommen. "Wir sehen uns heute Nachmittag beim Wettkampf", flüsterte er mir zu.

Freitag, 21. März 1997

21. März

"Natürlich kommt ihr vorbei!"
Doris duldete keinen Widerspruch. "Entweder rufst du Nils an, oder ich tue es."
Na das wäre ja was...Doris ruft Nils an. Also rief ich ihn an und er war von der Idee, heute Abend zu Doris zu fahren auch erstaunlicherweise recht begeistert. Es war ein richtig netter Abend. Wir saßen zusammen und quatschten, quatschten und quatschten. Es war alles so selbstverständlich und natürlich. Das fällt mir jetzt erst auf, wenn ich das hier schreibe. Nils und ich redeten tatsächlich über uns als "wir". Völlig selbstverständlich. Es war, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Unsere Idee, dieses Jahr zusammen nach Korsika zu fahren nimmt immer mehr Gestalt an. Wir müssen nur sehen, ob wir noch rechtzeitig irgendeinen Ferienjob in den Osterferien finden, damit wir das Geld zusammenkriegen. Ich kann ja schlecht zu Mom und Dad gehen und sagen, daß ich Tausend Mark brauche, um mit meinem Freund zusammen zu verreisen.
Ohjeh, der Rückweg war ja wieder die Härte. Doris, die Gute, hatte uns reichlich mit Wein abgefüllt. Nein, Unsinn, natürlich haben wir den Wein selber getrunken, während sie bei ihren probiotischen Obstsäften geblieben war, hatten Nils und ich alles in allem drei Flaschen Lambrusco geschafft. Dementsprechend wackelig waren wir auch auf dem Heimweg. Ja, alles schon mal gehabt. Halb besoffen, den Weg von Doris nach Hause. Irgendwann schauten Nils und ich einfach nur an. Ich weiß nicht wie lange es dauerte, aber als Ergebnis fielen wir übereinander her. Wir waren einfach nur geil und es war toll. Keiner von uns dachte daran, daß jemand vorbeikommen könnte. Was aber auch auf diesem Waldweg total unwahrscheinlich gewesen wäre, jedenfalls um diese Zeit. Und jetzt liege ich hier, habe schon wieder einen Ständer und muß an ihn denken. Shit, daß er kein Telefon in seinem Zimmer hat. Ich würde so gerne noch mal seine Stimme vor dem Einschlafen hören. Ich will auf jeden Fall ein Foto von ihm haben. Ein Bild, was ich immer bei mir trage. Das einzige was ich habe, dieses komische Bild, was ich aus dem Mannschaftsfoto ausgeschnitten habe, darauf erkennt man ihn kaum.

Irgendetwas klappert an meinem Fenster.
Nils, Nils, mein Nils...er steht doch tatsächlich unter meinem Fenster!

Donnerstag, 20. März 1997

20. März

"Wir kommen zu Ostern, wenn euch das recht ist."
Na klar. Warum sollte es uns nicht recht sein, denke ich mir. Ich entschied das mal für die ganze Familie, daß es überhaupt kein Problem ist, wenn Phil und Oma zu Ostern zu uns kommen. Ich hätte natürlich auch nichts dagegen gehabt, wenn wir nach Hamburg gefahren wären, wie letztes Jahr, aber ich glaube Mom und Dad hatten das nicht so eingeplant. Ok, ich gebe zu, daß ich sicherheitshalber Mom auf Arbeit angerufen habe, um nachzufragen, aber sie meinte, es wäre ok.

Lisa geht es übrigens glänzend. Keine der Sachen, die auf dem Zettel standen, ist passiert und so haben wir sie heute wieder in den Kindergarten gebracht.

Das Training heute war echt gut. Ich merke, wie ich immer noch diese Kraft und Energie in mir habe. Nils meinte, daß ich jetzt wahrscheinlich wirklich ein richtiger Ringer werde. Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Ich glaube, es ist eher so, daß ich inzwischen weiß, wie ich meine Kraft und das alles richtig im Kampf einsetzen kann. Und komischerweise habe ich überhaupt keine Angst mehr, wenn ich auf die Matte gehe. Mein Kopf ist dabei völlig klar, auch wenn ich natürlich nicht immer gewinne.

Nils hat mir heute eine Cassette geschenkt, mit einem ganz tollen Lied drauf: I believe I can fly. Ich hätte ja nie gedacht, daß ich solche Schnulzen mal höre. Doch wenn ich die Augen zumache und dabei an Nils denke, wird mir ganz anders.

Mittwoch, 19. März 1997

19. März

"Können Sie gleich vorbeikommen?"
Das Telefon klingelte, als ich durch die Tür kam. Lisas Kindergarten, sie ist von irgendeinem Klettergerüst gefallen. Ich hörte gar nicht mehr hin und raste los. Gottseidank war es nix Schlimmes, denn als ich ankam, saß eine quietschvergnügte Lisa mit großem Pflaster und Beule da und malte.
"Es ist vielleicht besser, daß sich das ein Arzt ansieht", meinte die Erzieherin, ein eigentlich ganz junges Mädchen, das aber mit seinen hennarot gefärbten Haaren und seinen griesgrämigen Mundwinkeln aussah wie 50.
Ich schnappte mir Lisa und wir taperten erst mal nach Hause. Dort rief ich Mom an. Die wollte natürlich gleich losfahren, aber ich erklärte ihr, daß das alles gar nicht so wild wäre und sie erklärte mir, wie ich zu Lisas Kinderarzt hinkommen könnte. Ich hatte tatsächlich Glück, denn obwohl heute Mittwoch ist, hat er am Nachmittag Sprechstunde. Also saß ich da mit Lisa in einem quietschbunten Wartezimmer. Lisa war voll in ihrem Element und spielte mit den anderen Kindern. Ich versuchte mich zu erinnern, wie es war, als ich das letzte mal beim Arzt war. Ich kann mich tatsächlich nur dunkel daran erinnern. An das Herzklopfen, an diesen Geruch nach Desinfektionsmittel in der Praxis, an diesen ekligen Holzspatel im Mund. Irgendwann, ich glaube, ich muß so 10 oder 11 gewesen sein, war ich nach Sylvester noch mal beim Augenarzt, weil mir irgendwas ins Auge geflogen war. Aber es war wohl nix Schlimmes. Naja, der Doc untersuchte Lisa jedenfalls von oben bis unten und meinte, daß es nichts Schlimmes sei. Zum Glück hat sie wohl auch alle Impfungen, so daß sie nicht mal eine Spritze brauchte. Mit einem Merkzettel, auf dem stand, was wir die nächsten Tage beachten sollten, taperten wir wieder nach Hause. Mom kam uns gleich schon auf der Einfahrt entgegen. Ich konnte sie beruhigen. Lisa schien diesen ganzen Rummel um ihre Person zu geniessen. Aber ich bin froh, daß nichts Ernstes passiert ist.
Irgendwann klingelte das Telefon: Nils. Shit, ja ich habe das Training heute versäumt. Ich erklärte ihm, was passiert war. Er fragte, ob wir uns trotzdem noch sehen. Seine Stimme klang hohl, ich wußte, er rief aus der Telefonzelle an "unserer" Ecke an.
"Ich muß noch mal weg", rief ich meiner verdutzten Family zu und düste noch mal los. Ich weiß nicht, warum ich nicht das Rad genommen hatte. Jedenfalls war ich total außer Atem als ich ankam. Nils nahm mich in den Arm, drückte mich und zog mich hinter die Telefonzelle.
"Ich dachte schon, dir wäre was passiert", flüsterte er, "ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren."
"Mir passiert schon nichts."
Ich fing an zu heulen. Ich konnte nicht anders. Die Tatsache, daß er sich Sorgen um mich gemacht hatte. Ich bin so hin und weg. Es ist schon verrückt.

Dienstag, 18. März 1997

18. März

"Und wie gehts meinem Brüderchen?"
Phil war am Telefon und wir quatschten und quatschten. Ich weiß gar nicht mehr, worüber wir alles geredet hatten. Es scheint ihm tatsächlich gut zu gehen, in seiner Einheit. Ich kann das zwar immer noch nicht verstehen, aber ich habe es aufgegeben, ihm wegen der Sache mit der Bundeswehr Vorwürfe zu machen.
"Mir geht's gut." Das war gelogen. Ok, ich hätte auch nicht sagen können, daß es mir schlecht geht. Hätte ich ihm sagen sollen, daß ich einfach nur verwirrt und durcheinander bin? Dann hätte ich erklären müssen wieso. Ach nein, das wollte ich nun garantiert auch nicht. Aber ich merke, wie Phil sich auch verändert hat. Ich meine, er ist eigentlich noch nie jemand gewesen, der total auf Action und Party gemacht hat. Aber in den Monaten scheint er mir tatsächlich noch viel älter geworden zu sein. Ja, fast erwachsen würde ich sagen. Alles das, was er so an kleinen Verrücktheiten an sich hatte, scheint verschwunden zu sein. Er klingt nur noch so entsetzlich vernünftig.
"Was machen die Mädchen?"
Shit, warum mußte er diese Frage stellen? "Nicht viel los hier", antwortete ich kurz.
"Ach komm, das kannst du mir doch nicht erzählen, daß du in dem Jahr keine Mädchen kennengelernt hast."
Was sollte das denn jetzt? Warum fragte er mich denn so intensiv nach irgendwelchen Mädels aus? Es scheint wirklich so, daß zum perfekten Leben irgendein Mädel mit dazu gehört. "Ach vergiß es einfach", antwortete ich mürrisch und in einem Tonfall, der ihm zu verstehen gab, daß ich keine weitere Nachfrage wünschte. Und es klappte. Er wechselte das Thema.
Ich lasse mir die Idee von Nils durch den Kopf gehen. Vielleicht wäre es ja wirklich gar nicht so eine schlechte Idee, nach dem Abi nach Stuttgart zu ziehen in eine eigene Wohnung. Ich meine, die Uni ist da und jeden Tag von Stuttgart nach Bergbach zu fahren und jeden morgen wieder hin ist auch nicht so tolle. Und dann könnte man natürlich wirklich in eine Wohnung ziehen. Wie das wohl wäre? Eine eigene Wohnung mit Nils zusammen. Jeden Tag bei ihm sein, ihn jeden Tag zu spüren, jeden Tag mit ihm zu schlafen. Das wäre einfach zu schön, um wahr zu sein.

Montag, 17. März 1997

17. März

"Du warst richtig gut heute."
Ein Lob. Ein Lob von Dimitri. Ich fasse es nicht. "Du scheinst langsam Kampfgeist zu entwickeln", meinte er und nickte anerkennend. Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt oder ein Feuer angezündet. Ich merke, wie es in mir kocht. Ich weiß nicht, was es ist. Ist es Wut? Jedenfalls merke ich, wie plötzlich nie gekannte Energien in mir hochkommen. Ich setzte meine gesamte Kraft ein und schaffte es sogar meinen Trainingsgegner zu schultern. Ohne große Probleme. Und ich sprühte hinterher noch vor Energie. Vielleicht ist es wirklich Wut. Wut auf diese ganze verlogene Scheiße, die um mich rum ist. Wut darauf, daß ich dazu verdammt bin, Theater zu spielen. Daß ich meinen Freund nur heimlich in den Arm nehmen kann. Es ist doch total ungerecht, daß alle Heterojungs mit ihrem Göcken umher marschieren und sie wie Jagdtrophänen präsentieren und ich mich mit meinem Nils verstecken muß. Wer denkt sich so was aus? Wer unterstützt so was? Das kann doch irgendwie nicht das Ding sein, wie es die nächsten Jahre weitergeht. Vielleicht mein Leben lang. Ich habe in dem 'Schwul na und'-Buch nachgelesen, aber die Sachen da helfen mir auch nicht weiter. Ach ja, es ist ja alles so toll, das was sie Coming Out nennen. Die Typen reden mit ihren Eltern, mit ihren Freunden und die meisten reagieren ganz toll. Super, wirklich, das hilft mir jetzt echt weiter. Und wer nicht toll reagiert, den kann man eben abschreiben. Auch super. Also dann kann ich vermutlich 99% der Leute, die ich kenne abschreiben. Und was mir am meisten Angst macht: Wahrscheinlich Nils auch. Denn der hat noch viel größere Angst als ich. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich. Beim Umziehen sitze ich da, starre Löcher in die Luft. Bin mit meinen Gedanken irgendwo und nirgends. Irgendwann eine Stimme: "Tim?"
Vor mir steht Florian und schaut mich fragend an. "Äh, willst du das Training der 1. Mannschaft gleich mitmachen?"
Er ist fix und fertig angezogen, die anderen sind schon gegangen und ich sitze immer noch auf meiner Bank und starre in die Gegend.
"Äh nein", erwidere ich und beeile mich beim Umziehen.
"Was ist eigentlich los mit dir? Du bist so komisch in der letzten Zeit."
"Bin ich das?"
"Ja. Du bist immer ganz woanders. Und immer wieder total aggressiv und rastest aus."
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte. Ich wußte nur, er hatte recht. Aber was sollte ich sagen? statt dessen guckte ich ihn nur an. Da stand also ein Heterojunge und erzählte mir was davon, wie komisch ich bin.
"Gibt es vielleicht was, worüber du reden willst?"
Ich schüttelte den Kopf. Was wollte er denn? Wollte er mich aushorchen? Oder wollte er einfach nur nett sein? Wieso?
"Ist schon ok. Ist nur im Moment ein bißchen viel alles für mich", antwortete ich und boxte ihn freundschaftlich auf die Schulter. Yo, das war's dann. Easy-Tim hat die Situation wieder im Griff. Alles locker, alles easy. Keine Probleme. Scheiß drauf. Draußen vor der Halle wartete schon Nils. "Wo warst du denn?"
"Ich habe irgendwie verpennt. War mit meinen Gedanken woanders."
Nils nickte. "Was passiert mit uns?" fragte er.
"Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht."
"Wir werden es irgendwann unseren Eltern sagen müssen, nicht wahr?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht wann, ich weiß nicht wie, und ich weiß verdammt noch mal eigentlich auch gar nicht warum."
"Vielleicht können wir ja", sagte er, während er das Etikett seiner Gatorade-Flasche abpfriemelte, "wenn wir mit dem Abi fertig sind, eine eigene Wohnung nehmen. So als WG, irgendwo in Stuttgart."
Das verblüffte mich. Er, Nils redete davon, aus Bergbach wegzugehen. Zusammen in eine Wohnung zu ziehen. Aber gleich schob er nach: "Es braucht ja niemand zu wissen, daß wir schwul sind. Ich meine, aber wir wären wenigstens zusammen."
Ich schaute ihn an. Blickte ihm in die Augen. In diese Augen, in denen ich immer wieder versinke, eintauche und schwebe. Ich versuche in ihnen unsere Zukunft zu sehen. Alles, was ich sehe ist Liebe. Tatsächlich, ganz viel Liebe und Wärme. Ich nahm ihn in den Arm. Es war mir in diesem Moment scheißegal, ob uns jemand sah. Und offenbar ging es ihm genauso. Wir drückten uns und hielten uns so fest, bis wir beide keine Luft mehr bekamen. "Ich laß dich nie mehr los", flüsterte er in mein Ohr.

Sonntag, 16. März 1997

16. März

Nichts. Jedenfalls nichts wirklich, was hilft. Ich hatte die Idee, einfach mal bei AOL oder im Internet nachzugucken, ob es etwas dazu gibt. Aber die einzigen Sachen, die ich gefunden habe, waren entweder irgendwelche Pornobilder mit überdimensional großen Schwänzen oder englische oder amerikanische Artikel, die zwar etwas über das Schwulsein erzählten, aber eigentlich auch nur berichteten, wie man sicher sein kann, ob man schwul ist und wie toll doch das Coming Out ist. Na toll. Nichts darüber, wie es ist, wenn man jemanden gefunden hat, aber gleichzeitig sich weiter verstecken muß.
"Wir müssen reden."
Shit, nun ist es passiert, schoß es mir durch den Kopf. Irgendwas ist passiert. Ich schwang mich aufs Rad und raste zum Kochertalweg. Tausende von Gedankenfetzen schwirrten in meinem Gehirn umher. Fragen, Antworten, Aktionen, Reaktionen. Ich hatte Angst, so entsetzliche Angst, ihn zu verlieren.
Er war schon da. Saß auf einem Baumstamm und blickte ins Tal. Ich wollte zu ihm gehen, ihn in den Arm nehmen. Doch irgendetwas hielt mich zurück. "Hi", brachte ich gerade noch heiser hervor.
Keine Antwort. Er drehte sich nicht einmal zu mir um. Da packte mich die Wut. Ich baute mich vor ihm auf und wollte ihn anschreien. Da sah ich, daß ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er senkte den Kopf. In dem Moment war ich total hilflos. Ich wußte überhaupt nicht, was ich machen sollte, machen konnte. Keine Ahnung, wie lang ich da so vor ihm stand. Plötzlich stand er auf und kam auf mich zu. Alles war wie in Zeitlupe. Ich nahm ihn einfach in den Arm und drückte ihn ganz fest. "Es tut mir leid", flüsterte er in mein Ohr. "Immer tue ich dir weh. Dabei habe ich dich doch so lieb."
Nils, mein Nils. Ich nahm alles wahr. Für ein paar Minuten spürte ich nicht nur Nils, roch nicht nur ihn, ich hörte auch jeden Vogel, nahm jeden Duft aus der Umgebung wahr. Er löste sich aus meiner Umarmung: "Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich weiß es wirklich nicht." Er hatte wieder Tränen in den Augen. "Manchmal", fuhr er fort und blickte dabei ins Tal, "manchmal habe ich richtig Angst, totale Panik. Daß uns jemand erwischt. Daß jemand mitkriegt, daß wir, wir schwul sind."
Das 'schwul' hatte er fast geflüstert. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Verdammt noch mal, für alles gibt es irgendwelche Ratgeber und Fernsehsendungen. Warum denn nicht, was man machen kann, wenn man schwul ist? Ich wollte ihm so gerne helfen, doch ich hatte keine Ahnung wie. Ich nahm ihn einfach wieder in den Arm: "Wir passen auf. Wir beide. Ok?"
Nils drückte mich und dann küßten wir uns. Es war wieder einer dieser Küsse, bei denen ich abhob und davon schwebte. Eine halbe Ewigkeit standen wir so da. Dann setzten wir uns auf unsere Räder und fuhren wieder nach unten. Wir eierten ziemlich den Weg entlang, Hand in Hand zu fahren ist ganz schön heftig und als wir schließlich wieder auf einem vernünftigen Weg waren, wären wir vor Lachen beinahe vom Rad gefallen. Unsere Kreuzung. Diesmal ein richtiger Abschied.

Was kann ich nur machen, um ihm zu helfen? Ich weiß es nicht. Mir selbst geht es ja wahrscheinlich nicht wesentlich anders als ihm. Ich habe aber einfach nur Angst, wenn er wieder so eine von seinen Panikattacken hat.

Gerade hat er noch mal angerufen und mir eine gute Nacht gewünscht. Ich frage mich, ob das in einer Beziehung mit einem Mädel auch so schwierig ist. Ich glaube nicht. Vielleicht, wenn irgendein türkisches Mädchen jemand liebt, der gar nicht von der Familie akzeptiert wird und sie sich nur heimlich sehen können. Vielleicht ist das ja so ähnlich? Blöder Vergleich. Ich habe eine Idee.
"Bist du irre, mich hier abzuknutschen?"
Nils stieß mich von sich weg. Ich stand da, wie ein kleiner Junge. Was hatte ich denn gemacht? Wir waren im X1, haben total toll abgedanct und es war einfach ein voll cooler Abend. Vielleicht hatte ich ein bißchen viel getrunken, das kann sein. Jedenfalls war mir auf einmal danach. Nils und ich standen für einen Augenblick am Rand der Tanzfläche und ich nahm ihn einfach in den Arm und küßte ihn. Ich fand das eigentlich gar nicht so schlimm. Weil sich in diesem Laden sowieso permanent irgendwelche Typen küssen, weil außerdem niemand da war, der uns kennt und überhaupt, weil Nils mein Freund ist. Oder vielleicht doch nicht? Ich weiß nicht, was ich denken soll. Den ganzen Rest der Nacht ging er mir aus dem Weg.

Irgendwann meinte er: "Laß uns nach Hause fahren", und wir taperten zum Bahnhof um den ersten Zug zu erwischen. Schweigend. Es war einfach eine merkwürdige Situation. Naßgeschwitzt wie wir waren, die Ohren summten noch von der Musik gingen wir schweigend nebeneinander her. Verdammt nochmal, ich wollte ihm eigentlich so viel sagen. Wollte ihn an der Hand nehmen, in den Arm; doch ich traute mich nicht. Der Regionalexpress fuhr ein. Wir setzten uns gegenüber, doch Nils starrte nur aus dem Fenster. Ich drückte mein Knie gegen seines: "Hey, sorry wegen vorhin", flüsterte ich. Ich gebe zu, ich log. Es tat mir nicht leid. Nicht im geringsten. Aber ich wollte wenigstens irgendetwas von ihm hören. Irgendeine Reaktion.
"Ist schon ok", murmelte er und starrte weiter nach draußen. Verdammt noch mal, was ist bloß mit ihm los? Halt in Bergbach. Wieder stapfen wir schweigend nebeneinander her. Unsere Kreuzung. Ich hatte es schon geahnt. Ohne unsere übliche Umarmung, ja sogar ohne einen Blick Verabschiedung. Zurück bleibt ein total verwirrter Tim, der nichts mehr weiß. Absolut gar nichts. Ich überlege, was denn vielleicht den Abend über noch vorgefallen sein könnte. Doch da war nichts. Der Wettkampf war halbwegs ok, wir hatten eine gute Stimmung, auch noch im X1. Bis zu diesem Moment. Ich verstehe ihn nicht. Wirklich nicht.

Samstag, 15. März 1997

15. März

"Du bist ja wirklich nur noch zum Wäschewechseln und manchmal zum Essen."
Oh, wie ich diesen Satz hasse. Hey Mom, wach' doch mal auf! Ich bin 17 und habe mein eigenes Leben. Was soll ich denn zu Hause rumhängen. Ich bin 17 und bin schwul! Ich habe einen Freund, den ich über alles liebe. Was weißt du eigentlich wirklich von mir? Nun ja, es stimmt, mein Leben driftet wirklich auseinander. Auf der einen Seite das Leben, was für die anderen Leute da ist. Aber dieses Leben ist eben nur ein Teil von mir, denn da ist noch mein Leben mit Nils, wo ich so sein kann, wie ich gerne will. Wo ich keine Rolle spielen muß und aufpassen muß, daß ich ihn zu lange angucke. Ich hoffe, ich halte das noch eine Weile aus, mit diesem Doppelleben.

Aber der eigentliche Hammer war ein Spruch von Mom heute beim Einkaufen. An der Fleischtheke bediente uns ein Typ, der garantiert 1000%ig schwul ist. Ich meine, so tuntig, wie der geredet hat, war es eindeutig. Ich sah wie Moms Mundwinkel immer mehr nach unten gingen. Als wir schließlich fertig waren und zur Kasse gingen, meinte Mom: "Einfach widerlich, diese Typen."
Ich hatte nicht sofort geschnallt, was sie meinte. "Einfach überhaupt kein Schamgefühl", schob sie nach. Da kapierte ich, wie sie das meinte und das hat mich dann doch schon ganz schön getroffen. Ja Mom, was weißt du eigentlich von mir? Ich bin es, dein Sohn Tim, ja und ich bin auch SO, wie du es bezeichnest. Pervers, abartig und was weiß ich noch. Ja, und du weißt es nicht, und hoffentlich wirst du es auch nie erfahren. Eigentlich, wenn ich ehrlich bin, trifft es mich gar nicht so schlimm, weil ich ja schon weiß, schon lange weiß, wie sie über Schwule denkt. Und eigentlich will ich mir auch gar nicht weiter Gedanken darüber machen, wie sie vielleicht reagiert, wenn sie es erfährt. Sie soll es nicht erfahren. Punkt. Ende. Das ist mein Leben und ich entscheide, wer was wie wissen soll.

Shit, jetzt bin ich total down und eigentlich will ich doch gleich los. Wir fahren doch zum Wettkampf, gegen einen Verein in einem Vorort von Stuttgart. Und hinterher ins X1. Einfach nur ein bißchen Fun haben.

Freitag, 14. März 1997

14. März

"Hey, heute Spontanparty!"
Jawoll, Spontanparty bei Max in der WG. Nils und ich waren da und es war total witzig. Alle möglichen Leute aus der Schule waren da, von denen ich gar nicht wußte, daß Max die kennt. Dazu noch ein paar von Max' neuen Kumpels naja. Es war ein richtig cooler Abend sogar ohne viel Alk. Wir saßen einfach nur zusammen und haben über alle mögliche gequatscht. Jedenfalls haben wir verabredet, daß wir morgen wieder mal ins X1 fahren.

Donnerstag, 13. März 1997

13. März

"Die geht wirklich ab wie eine Rakete."
"Wer?"
"Na Miriam!"
Nils, Markus und ich standen auf dem Hof zusammen, als Markus von seinen neuesten Abenteuern berichtete.
"Und? Wie oft hast du sie schon gefickt?"
Ich blickte Nils fassunglos an. Das war ja nun überhaupt nicht sein Stil. Markus schien das überhaupt nicht zu stören und er schwafelte prompt drauflos. Jetzt mußte ich mir irgendwelche endlosen Bettstories von Markus anhören. Als es endlich zum Hochgehen klingelte und Nils und ich alleine waren stieß ich ihn an: "Sag' mal, was sollte denn das?"
"Ach ich wollte mal sehen, wie gut er lügen kann?"
"Wieso lügen?"
"Die beiden sind doch gar nicht wirklich zusammen."
"Wie jetzt?"
"Miriam ist mit einem Typen auf der Zwölften zusammen. Jedenfalls nicht mit Markus."
Ich mußte lachen. Dieser dumme kleine Spinner von Markus.

Doris scheint es schon wieder viel besser zu gehen. Sie meint, daß sie nach dem Wochenende wieder aus dem Krankenhaus raus kann. Ich hoffe ja, daß alles glatt geht, mit ihr und dem Baby.

Mittwoch, 12. März 1997

12. März

"Und warum ausgerechnet Korsika?"
"Ich weiß nicht, ich bin irgendwie auf die Idee gekommen."
Nils schien zu überlegen. Wir standen auf der Brücke über die Kocher und warfen Steine in das sprudelnde Wasser.
"Und was sagen wir unseren Eltern?"
"Keine Ahnung, vielleicht einfach, daß wir nach Korsika fahren."
Nils überlegte weiter.
"Wahrscheinlich werden sie denken, daß wir einfach nur so hinfahren, um Spaß zu haben. Spaß mit irgendwelchen Mädels", zitierte ich Doris.
Nils grinste. "Wenn ich dich mit einem Mädchen erwische, dann bringe ich dich um", flüsterte er mir lachend ins Ohr.
"Ich weiß. Und wenn ich dich mit einem anderen Jungen erwische, bringe ich DICH um."
Kaum hatte ich das gesagt, fiel mir die Sache mit Maik ein. Was für ein Recht habe ich, so zu reden? Warum mache ich mir eigentlich all diese Gedanken? Vielleicht sollte ich ja wirklich einfach abwarten, was kommt. Irgendwie wird es schon laufen.
Jedenfalls beschlossen wir, daß Korsika eine gar nicht so eine schlechte Idee wäre und daß ich mal nachgucken sollte, was es da so alles gibt. Über die spannende Frage, wie wir eigentlich das Geld für die Reise zusammenkriegen sollen, haben wir allerdings noch nicht geredet.

Dienstag, 11. März 1997

11. März

"Irgendwie ist das schon sehr unpraktisch geregelt, das mit dem Schwangersein." Ich nicke und gucke gedankenverloren aus dem Fenster. Nils und ich sitzen bei McDonald's und haben gerade Krafttraining geschwänzt. Nachdem wir aus der Klinik kamen haben wir uns nur kurz angeguckt und alles war klar. Wir brauchten nichts zu sagen. statt dessen taperten wir etwas durch die Stadt und landeten schließlich bei Burger und Pommes. Zum Glück scheint mit Daris wieder alles halbwegs ok zu sein. Clemens war da und ihre Mutter auch. Sie haben ihr wohl irgendwelche Medikamente gegeben und nun geht es ihr wieder gut. Aber sie muß noch in der Klinik bleiben. "Eigentlich können wir froh sein, daß wir so etwas nicht mitmachen müssen." Nils nickte und ich fuhr fort: "Also ich meine, nicht nur das mit der Schwangerschaft, sondern auch das mit dem Aufpassen und dem Kinderkriegen." "Hä?" "Naja, als Schwuler muß man eben nicht Angst haben, schwanger zu werden, oder ein Mädel zu schwängern." "Psssst. Kannst du verdammt noch mal nicht deinen Mund halten?" Ich drehte mich um, konnte aber niemanden sehen, den wer kannten: "Was ist denn?" "So wie du alles herausschreist, muß ja bald die ganze Stadt Bescheid wissen." "Hier hört doch niemand zu." Nils schwieg. Mir wurde klar was er meinte, wo sein Problem war. Ich griff nach seiner Hand: "Hey", flüsterte ich, "wir sind nun mal schwul. Damit müssen wir uns abfinden." Das klang irgendwie komisch 'abfinden'. Er zog seine Hand weg. Ich sah, wie sich seine Augen verengten. Gleichzeitig atmete er schwer. "Und wie soll das weitergehen?" "Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich mache mir darüber auch keine Gedanken." Was für eine unwirkliche Szene. Da sitzen zwei Jungs bei McDonald's und reden über ihr Schwulsein. Einen unpassenderen Ort kann es wohl nicht geben. Wir beschlossen, ohne etwas zu sagen, daß wir über dieses Thema nicht weiter reden wollten. Ich weiß ja selber nicht, wie alles weitergeht. Wie alles weitergehen kann und soll. Es ist wirklich seltsam. Ich weiß nicht, wie es in der Zukunft wird. Was passieren wird. Wie ist es, wenn man schwul ist und erwachsen wird? Wohnt man dann zusammen, oder was ist?
"Bringst du mir dir Schulsachen in die Klinik?" Doris hat gerade angerufen. Sie ist seit heute früh in der Klinik, weil sie irgendwas hat, was so ähnlich ist wie Wehen. So eine Scheiße, hoffentlich geht alles gut mit ihr. Ich rufe Nils an und wir verabreden uns, gemeinsam hinzufahren.

Montag, 10. März 1997

10. März

"Und was hat Tim falsch gemacht?"
Mein Sieg vom Samstag war überhaupt nicht mehr Thema. Das heißt, Thema war er schon. Aber nicht so, wie ich es mir eigentlich vorgestellt hatte. Nicht, daß ich mit einer großen Siegesfeier gerechnet hätte. Dafür war der Wettkampf wirklich einfach zu unbedeutend. Aber daß jetzt angefangen wurde, per Videoanalyse den Kampf auseinanderzunehmen fand ich schon ziemlich daneben. Jedenfalls kamen alle einhellig zu dem Ergebnis, daß meine Griffe viel zu locker angesetzt waren und ich am Anfang meinem Gegner viel zu viel Spielraum gelassen hatte. Na toll, als wenn mir das nicht schon selber aufgefallen wäre. Als Folge der ganzen Sache durften wir nun üben, wie wir unsere Griffe möglichst fest ansetzen. Was zur Folge hatte, daß mir hinterher und immer noch meine gesamten Rippen wehtun. Nils meint, das wäre normal. Er meinte, ein richtiger Ringer würde seine Verletzungen und Schmerzen wie Orden tragen. Ich frage mich, WEN ich eigentlich mal auf seinen Geisteszustand hin untersuchen lassen sollte.

Meine Decke riecht immer noch nach Nils. Ich wickele mich ganz fest darin ein und träume, er wäre bei mir. Verschroben oder nicht: Er ist mein Nils!

Sonntag, 9. März 1997

9. März

"Bleibt der Junge zum Mittag?"
Es gibt Situation in denen möchte ich mich selbst am liebsten zur Adoption freigeben. 'Der Junge' hat sie gesagt. Ich könnte schreien, Haareraufen oder was weiß ich sonst noch alles. Aber nein. Ich bleibe ruhig und schüttele den Kopf. Aber der Reihe nach. Nils kam. Mein Nils. Ich weiß nicht woher, aber er hatte allen Ernstes eine Flasche Champagner dabei. Die präsentierte er auch noch ganz easy meinen Parents als ich ihn reinließ. "Wir begiessen heute Tims Sieg" meinte er fröhlich. "Oh, du hattest heute einen Wettkampf? Du hast gar nichts erzählt", Dad guckte mich vorwurfsvoll an.
"Och, es war nicht besonderes", warf ich ein. Mom sagte lieber erst gar nichts. Wir gingen hoch in mein Zimmer.
"Bist du völlig durchgedreht", zischte ich Nils an, nachdem die Tür hinter uns zu war.
"Wieso? Glaubst du, deine Eltern wissen nicht, daß du Alk trinkst? Wo lebst du denn?"
"Schon, ach was weiß ich." Es war mir irgendwie peinlich, Nils meine Eltern zu präsentieren. Ich weiß gar nicht wieso. Nicht daß es irgendetwas geben würde, wofür ich mich schämen müßte. Nicht daß ich Angst hätte, Nils könnte sich total daneben benehmen. Aber irgendwie ist es komisch. Ich drehte den Schlüssel um. "Damit Lisa nicht plötzlich reinstürmt", meinte ich. "Und wer holt jetzt die Gläser?" "Brauchen wir die?" Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und begann, ihn zu küssen. Frisch geduscht roch er noch besser als sonst schon. Ich weiß nicht, wie lange wir so da standen. Irgendwann griff Nils nach der Flasche und pfriemelte den Korken auf. "Auf unseren Champ!" Es war ein total toller Champagner, aber ich merkte, wie er sofort in den Kopf ging. Ich war wieder einmal überrascht, wie sehr sich Nils über meinen Sieg freute. Ganz so, als wäre ich sein persönliches Ziehkind. Naja, was soll's.
Wir pflanzten uns auf mein Bett und warfen das Video von Doris rein. Ok, ich gebe zu, daß ich den Film nicht ganz so dolle finde. 'Coming Out' heißt er und handelt irgendwie von einem Lehrer, der ziemlich spät merkt, daß er schwul ist und sich mehr oder weniger in einen total häßlichen Jungen verknallt. Doris hatte noch ein Zettel reingepackt, auf dem Stand, daß dieser Film wohl genau am 9. November 1989 Premiere in Ost-Berlin hatte. Insgesamt fand ich den Film dann auch ziemlich traurig, weil er auch gar keinen richtigen Schluß hatte. Aber trotzdem saßen Nils und ich Hand in Hand und guckten ihn bis zum Ende. Die Flasche wechselte zwischen uns hin und her.
"Deine Doris ist schon irgendwie ganz ok", meinte er. "Meine Doris, naja..." Ich glaube ich war schon zu betrunken, um überhaupt irgendwas Vernünftiges zu antworten. Zu allem Übel holte ich noch den Rest der Bailey's-Flasche aus dem Schrank, die wir auch noch austranken. Das heißt, wir fingen damit an. Irgendwann kullerte Nils von meinem Bett auf den Boden. Was ich ziemlich lustig fand. Eigentlich wollte ich ihn ja zurück auf mein Bett heben, aber das schaffte ich dann auch nicht mehr und pennte tatsächlich ein. Irgendwann gegen sechs Uhr früh wachte ich auf, mit einem total trockenen Mund und bekam einen riesigen Schreck. Aber eigentlich bestand dazu kein Grund. Nils lag vor meinem Bett auf dem Boden und schlief seelig vor sich hin. Wie er so da lag hätte ich ihn am liebsten sofort ausgezogen und ihn ins Bett gelegt. Aber ich beherrschte mich. Ich deckte ihn zu, taperte ins Bad und trank den halben Wasserhahn leer, so einen tierischen Durst hatte ich. Ich versuchte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, aber es ging nicht. Na und, dachte ich mir. Liegt Nils halt in meinem Zimmer und pennt. Was soll's.
Ich schloß die Tür wieder ab, küßte ihn sanft auf seinen Nacken und packte mich wieder ins Bett. Ich wachte auf, als mich Nils sanft auf die Stirn küßte. Shit, es war schon zehn Uhr morgens.
"Gib's zu, da war was drin im Champagner", meinte ich. "Wir hätten die Flasche Bailey's nimmer trinken dürfen", grinste Nils.
"Wie kommst du denn jetzt hier raus?"
"Wie raus?"
"Na ich meine, meine Eltern sitzen doch unten."
"Ja und, meine Güte. Ist denn das das erste Mal, das irgendjemand bei dir übernachtet?"
"Nein, natürlich nicht, aber..." Er hatte ja recht. Wie oft hatte Tassi schon bei mir gepennt, wenn es zu spät geworden war. Aber das war etwas anderes. Tassi war und ist nicht schwul. Tassi war nie mein Lover. Shit, was machte ich mir überhaupt für seltsame Gedanken? Ich taperte nach unten in die Küche und fing an, Tee zu kochen, als Mom mich fragte, ob Nils eben noch zum Mittag blieben würde. "Bestimmt nicht", antwortete ich einsilbig. Nils grinste nur, als ich ihm das erzählte. Nach einem langen Kuß zur Verabschiedung taperten wir schließlich nach unten und Nils verabschiedete sich. Nun sitze ich hier und erst so langsam wird mir klar, was eigentlich passiert ist. Das heißt, eigentlich ist ja gar nix passiert. Überhaupt nichts. Nicht mal, wenn jemand von meiner Family reingekommen wäre, hätten sie irgendwas bemerken können. Außer daß wir vielleicht zu viel Alk intus hätten. Na ok, das ist aber auch alles. Aber langsam stelle ich inzwischen fest, daß das mit dem vielen Alk echt daneben ist. Weil ich eben überhaupt keine Kontrolle mehr darüber habe, was passiert. Das hätte ganz leicht vorkommen können, daß wir miteinander im Bett gelegen hätten und wenn dann jemand reingekommen wäre....nicht auszudenken.

Gerade habe ich Doris angerufen und mich artig für das Video bedankt. Sie hat natürlich gefragt, wie ich es gefunden habe. Meinen Kommentar 'reichlich ostig' fand sie wohl nicht sonderlich amüsant. "Du mußt mal überlegen, unter welchen Bedingungen und in welcher Zeit, der Film gedreht wurde", dozierte sie. Ok, sie hat ja recht und ich finde es ja auch ganz toll, daß sie diesen Film extra für mich aufgenommen hatte. Vielleicht sollte ich einfach mal in Zukunft ein bißchen vorsichtiger sein mit den Sachen, die ich sage.

Samstag, 8. März 1997

8. März

"Den Arm raus! Den Arm!" Ich höre Nils' Stimme wie sie sich fast überschlägt. Soll ich jetzt den Arm rausziehen oder lieber nicht, weil mein Gegner es doch bestimmt auch gehört hat und vorgewarnt ist? Ich weiß es nicht. Ich muß Nils bei Gelegenheit mal fragen, was man in solchen Situationen macht. Mein Gegner war ein kleiner, schüchterner Junge, den ich mich überhaupt nicht traute anzufassen, weil ich Angst hatte, er würde gleich losheulen. Das war ein ziemlicher Fehler, den er war zäh und vor allem total zappelig. Nicht daß er gut gerungen hätte, überhaupt nicht. Aber er nutzte jeden Fehler aus, den ich machte. Aus jedem Griff, den ich nicht fest ansetzte, wand er sich raus. Das war's dann aber auch. Nach der zweiten Verwarnung wegen Passivität für ihn, wurde ich wütend. Ich umfaßte ihn so fest wie ich konnte. Ich hörte wie er keuchte, machte ein Rolle und warf mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn. Ich hielt meinen Griff so fest wie ich konnte. Mit jedem Ausatemzug, den er machte zog ich ihn ein bißchen enger. Und dann schaffte ich es tatsächlich mit einem Nackenhebel ihn zu schultern. Der Schiedsrichter pfiff. Gewonnen! Yeah, dieses Gefühl ist einfach geil, wenn der Schieri den Arm hochhebt. Ich schielte zu Nils rüber. Er strahlte über sein ganzes Gesicht. Nur für dich mein Schatz, nur für dich habe ich gewonnen. Mit einem Griff, den wir gestern bis zum Umfallen geübt haben. Ich freute mich wirklich, daß das Training Erfolg gehabt hatte. Beim Shakehands fiel mir auf, daß der Junge, den ich soeben so erfolgreich geschultert hatte, tatsächlich weinte. Ich wollte etwas sagen, doch es ging nicht. Shakehands mit seinem Trainer. Dann in meine Ecke, wo Nils schon auf mich wartete und herumwirbelte. Ich glaube, es hätte nicht viel gefehlt und wir hätten uns geküßt. So guckten wir uns nur für eine lange Sekunde in die Augen und das war mindestens genauso schön. Ich sah das Strahlen und Glitzern in seinen Augen. Er war tatsächlich stolz auf mich. Er zog mich raus aus der Halle nach draußen, hinter den Parkplatz. Es war bitterkalt. Dafür waren seine Küsse um so heißer. Es sollte nie aufhören. Doch leider mußte natürlich jemand zu seinem Auto tapern. Also gingen wir zurück in die Halle. "Mein kleiner Champ", flüsterte er mir zu. Ich gebe zu, daß ich mich auch über den Sieg freue. Aber noch viel mehr freue ich mich darüber, daß Nils sich freut. Das ist kompliziert zu erklären. In der Halle war gerade Mehmet auf der Matte. Ich setzte mich an den Rand und blickte um mich herum. Irgendwann fiel mein Blick auf mein Gegner. Er saß ganz allein in einer Ecke und schien total deprimiert zu sein. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwas zog mich zu ihm hin. Ich kam mir blöd vor, wie ich so vor ihm stand. Er hockte da, den Kopf zwischen seinen verschränkten Armen versteck. "Ist alles ok mit dir?" Erst dachte ich, er hätte mich nicht verstanden oder wollte nicht antworten. Aber dann blickte er auf. Ja, er heulte tatsächlich immer noch. "Es geht schon wieder", sagte er leise. "Ist dir was passiert? Habe ich dich verletzt?" "Nein." Ich verstand nicht, wie ein Junge in seinem Alter so frustriert von einem Kampf sein konnte, daß er eine halbe Stunde lang heult. "Was ist denn los?" Fast automatisch hatte ich den gleichen Tonfall drauf, als wenn ich mit Lisa redete." "Es war mein erster richtiger Kampf." "Ja und?" "Mein Vater war da und ich habe verloren." Ich boxte ihn leicht auf die Schulter: "Du warst doch gar nicht so schlecht. Ich habe einfach nur Glück gehabt." Ich kam mir so entsetzlich überheblich vor. Ich, der ich seit einem knappen Jahr erst ringe gebe so einem Jungen, für den das Ganze wahrscheinlich wahnsinnig viel bedeutet, Trost. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich guckte mir das Gesicht von ihm an. Vorher hatte ich gar nicht drauf geachtet sondern immer nur Nils' Regel befolgt, dem Gegner nie in die Augen zu blicken. Nicht daß er wirklich gut ausgesehen hätte. Aber wie er so da saß, mit Tränen in den Augen, so verzweifelt und traurig, sah er total niedlich aus. Ich hätte ihn fast ihn den Arm nehmen wollen, um ihn zu trösten. Es war komisch. So sehr ich mich über meinen Sieg gefreut hatte, so sehr deprimierte es mich auf einmal, diesen Jungen weinen zu sehen. Wie kann man denn sich so in eine Sache reinsteigern? Ich drückte ganz kurz seine Hand: "Es wird schon wieder", wollte ich sagen, aber das war mir wirklich zu platt. Er guckte kurz auf und für eine Sekunde ging ein Lächeln über sein Gesicht. In dem Moment hörte ich, wie jemand meinen Namen rief: "Tim!" Ich drehte mich um. Es war Benji. "Was machst du denn hier?" "Och, wir sind auf Talentsuche und gucken, wen wir für die nächste Saison einkaufen können." "Ich bin unbezahlbar." "War gar nicht so schlecht dein Kampf." "Wie? Hast du ihn etwa gesehen?" Der Junge, dessen Namen ich nicht einmal kannte, stand auf und trottete davon. Ich hätte irgendwie noch so gerne mit ihm gesprochen. "Na klar. Nein, warum wir wirklich hier sind, ist daß wir einen Kampfrichter stellen und heute außerdem wettkampffrei haben." Ich nickte. Was für eine seltsame Welt diese Vereine sind. Ich sah Nils auf uns zukommen und sah, wie sich mit jedem Schritt sein Blick verfinsterte. "Ok, ich muß leider gehen, mein Coach kommt", sagte ich zu Benji. Er drehte sich um und sah Nils angestiefelt kommen. "Oh, schon einen persönlichen Coach? Respekt!" Er grinste und zottelte ab. "Was wollte DER denn?"zichte Nils "Nichts besonderes, er hat meinen Kampf gesehen, das ist alles." Ich guckte ihn an. War da tatsächlich so etwas wie Eifersucht in seinen Augen? "Wollen wir gehen?" "Wie? Bist du schon fertig?" "Ja, hast du etwa meinen Kampf nicht gesehen?" "Nein, Shit, wie ist er ausgegangen." "Ich habe gewonnen", sagte er kurz. So eine Scheiße. Ich muß den Aufruf total versäumt haben, als ich mit diesem Jungen quatschte. Ich schaute Nils an und senkte meinen Kopf: "Entschuldigung", flüsterte ich. "Dafür", sagte er, nahm mich plötzlich in einen Headlock und zog mich zu Boden, "dafür mein Schatz, wirst du heute Nacht büßen." Er grinste. Ich war erleichtert, daß er es doch nicht so dramatisch nahm. Er ließ mich frei. "Wir können nicht gehen. Die oberen Gewichte sind noch nicht fertig." "Na und", meinte er, "die kommen auch ohne uns klar." "Nix da, was macht denn das für einen Eindruck?" War ICH das, der das gerade gesagt hatte? Ohjeh, ich glaube echt, ich bin auch schon zum Vereinsringer mutiert. Naja, wir warteten auf jeden Fall noch das Ende der Wettkämpfe und der Wertung ab und dann rasten wir los. "Wir sehen uns", rief er mir zu Ja wir sehen uns. Gleich kommt mein Nils zu mir. Ich habe meinen Eltern gesagt, daß wir noch zusammen Video gucken und am Computer spielen. Mom hat nur genickt. Yeah und es klingelt. Mein Nils kommt!

Freitag, 7. März 1997

7. März

"Wir sehen uns heute um fünf in der Halle!"
"Wie?" Ich muß wohl ziemlich blöd geguckt haben.
"Wir trainieren, nur wir beide. Morgen ist Wettkampf, und ich will nicht, daß du wieder wie ein Trottel dastehst."
Ich liebe ihn, ich liebe ihn wirklich. Aber manchmal könnte ich ihn einfach nur erwürgen.
"Diese Woche ist doch noch gar nicht das Gedächtnisturnier."
"Nein, aber ganz normaler Ligakampf."
Nicht daß ich mich nicht freuen würde, mit Nils zusammen zu sein. Aber irgendwie ist eine Trainingssession auf der Matte nicht so romantisch. Aber was soll man machen. Also bin ich hingetapert und wir haben geschlagene zwei Stunden ganze drei Griffe geübt. Ich habe den Eindruck, als wenn alles andere weg ist und ich nur noch diese drei Griffe kann. Aber ich schaffe es jetzt sogar, wenn Nils maximalen Widerstand dagegensetzt. Ich habe komischerweise den Eindruck, daß ich inzwischen stärker bin als er. Ok, er ist meilenweit in der Technik besser. Aber ich glaube, wenn es um die reine Kraft geht, bin ich besser. Hinterher gab's dann als "Belohnung" einen Döner vom einzigen Döner-Stand Bergbachs. Der war zwar mit DM 5,- richtig teuer aber dafür auch richtig gut.
"Und heute früh ins Bett gehen", sagte Nils beim Abschied.
"Da kannst du sicher sein, so fertig, wie ich bin."
Unser Abschiedskuss, der nie enden dürfte. Ich halte ihn fest, ihn und jede Sekunde halte ich fest.
Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und höre Enya und heule. Ich weiß gar nicht wieso. Vielleicht weil ich einfach nur so glücklich bin. Vielleicht weil so viel in mir ist, was heraus will. Weil die Zeit dafür viel zu kurz ist. Ich gucke aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Sehe die Weite der Wiesen und Felder, die Hügel, die Sterne und stelle mir ein Leben vor, in dem ich einfach mit Nils Hand in Hand durch diese Wiesen laufen könnte. Vor meinem Auge läuft ein kitschiger Film ab. Was ist Kitsch, was ist Wirklichkeit? Ich möchte nichts falsch machen. Aber ich kann niemanden fragen? Wie ist das, wenn man schwul ist und einen Freund hat? Ich liebe ihn so sehr, ich will ihn nicht verlieren durch irgendeinen dummen Fehler. Der kleine Eisbär lächelt mich an. Wie kann ein Stifftier lächeln? Wieso sehe ich Nils Lächeln in diesem Stoff-Eisbär? Die Kerze flackert. Shit, ich werde tatsächlich noch romantisch.

Donnerstag, 6. März 1997

6. März

"Übrigens Danke für den Tip."
"Welchen Tip?"
"Den mit Miriam."
"Ich verstehe überhaupt nichts."
"Du hast mir doch erzählt, daß Miriam zur Zeit keinen Freund hat."
"Habe ich?" Ich erinnere mich dunkel, daß ich Markus irgendetwas ÄHNLICHES gesagt hatte. Naja, wie auch immer. Jedenfalls ist Markus jetzt mit Miriam zusammen. Herzlichen Glückwunsch. Ich kann ja so toll heucheln, wenn es drauf ankommt. Nein, wenn ich ehrlich bin, ist es irgendwas zwischen egal und eigentlich gar nicht so schlecht finden. Aber irgendwie finde ich die Heteroleute ziemlich bekloppt. Es geht doch eh alles nur um das Thema, wer geht mit wem. Und bloß nicht mal eine Woche ohne eine Braut oder nen Typen zu sein. Und wenn da schon zwanzig verschiedene Typen drangehangen haben an dem Mädel. Ist doch egal. Hauptsache man hat jemand, mit dem man knutschend auf dem Hof stehen kann.

Was denken die Leute über mich? Ich glaube gar nichts. Sie sind bestimmt viel zu sehr damit beschäftigt, sich das nächste Mädel auszusuchen, mit dem sie gehen können. Es ist schon komisch. Wenn die wüßten, daß Nils und ich zusammen sind. Die Gesichter würde ich zu gerne mal sehen. Aber natürlich nicht wirklich. Weil ich mir vorstellen kann, daß das den totalen Skandal an der Schule bringt.

Ich habe mich übrigens mit Nils für Samstag nach den Wettkämpfen verabredet. Damit wir endlich mal das Video gucken, was mir Doris geschenkt hat. Ich glaube sie hat wirklich recht, wenn sie sagt, daß ich Nils einfach als ganz "normalen" Freund, Kumpel oder was weiß ich sonstwas meinen Eltern präsentieren soll.

Mittwoch, 5. März 1997

5. März

"Tim wird beim Gedächtnisturnier antreten, und..."
Ich hörte gar nicht weiter hin. Na toll, ich durfte in irgendein Südbadisches Kaff gurken und an einem seltsamen Turnier teilnehmen. Ich fand es reichlich nervig, daß Nils offenbar immer alles viel eher und besser wußte als ich. Irgendwie habe ich manchmal den Eindruck, als wenn wirklich Sachen über meinen Kopf hinweg entschieden werden. Das scheint ja sowieso schon eine ganze Weile so geplant zu sein. Vielleicht sollte ich mir gar nicht so viele Gedanken machen. Und vielleicht sollte ich ja tatsächlich mit dem Ringen aufhören. Ich meine, warum sollte ich noch weitermachen? Auf der anderen Seite kann ich mir sehr gut vorstellen, was Nils für einen Terz machen würde.

Dienstag, 4. März 1997

4. März

"Und wofür brauchst du Internet?"
"Keine Ahnung, so richtig weiß ich es auch nicht. Aber Dad meint, daß das in Zukunft immer wichtiger wird und daß es bestimmt gut ist, wenn ich mich damit beschäftige."
"Sehr weitsichtig, dein Dad", grinste Nils.
Aus Rache für seine dumme Bemerkung verstellte ich ihm das Gewicht am nächsten Gerät und amüsierte mich köstlich, wie er verzweifelt versuchte, die Hebel nach oben zu drücken. "Ist wohl heute nicht mein Tag", meinte er. Als wir in der Umkleide waren sagte Nils: "Richte dich mal darauf ein, daß du beim Gedächtnisturnier vom SBRV mitmachst."
"Ich? Wieso denn ich?"
"Weil du Turniererfahrung brauchst. Außerdem haben wir vorher einen wichtigen Ligakampf, und da wirst du bestimmt nicht eingesetzt." Na toll. Wieder dieses tolle Thema von wegen wir verbraten nicht unsere besten Ringer in den Turnieren, wenn wir sie in der Liga brauchen. Da schicken wir lieber unsere zweite Wahl hin, zu den Turnieren. Ok, es ist ja richtig. Ich bin einfach noch zu sehr Anfänger und habe im Grunde keine wirkliche Ahnung vom Ringen. Also was soll's. Aber das ist eben voll blöd, wenn man so was direkt vor Augen geführt bekommt. "Was ist das überhaupt für ein Gedächtnisturnier?"
"In Urberg. Das ist ganz ok, ist halt international ausgeschrieben. Aber es kommen eh nur meistens Leute aus der Region."
Ja, ja. Manchmal frage ich mich, ob ich Nils SO kennengelernt hätte, wenn ich nicht mit dem Ringen angefangen hätte. Ich glaube nicht. Und ich will ihn ja auch nicht enttäuschen.

Montag, 3. März 1997

3. März

"Cooler Rechner. Aber was willst du denn mit AOL?"
"Na doch wohl online gehen, oder?"
"Aber doch nicht damit, das ist ja so was von uncool", Max guckte mich verächtlich an. "Mach' es einfach, oder laß es bleiben." Er brummelte irgendwas von Treibern, was ich nicht verstand und wurschtelte weiter. Nach einer halben Stunde lief es. Noch immer verzog er sein Gesicht. Komischerweise konnte er mir aber alles perfekt erklären, wie was funktioniert, mit der Post und dem Internet und so weiter.
"Willst du nicht noch ein paar neue Spiele haben?"
"Na klar, warum nicht."
Er versprach, sie mir in den nächsten Tagen mitzubringen. Ich guckte auf die Uhr: "Shit, ich muß zum Training!" Max grinste: "Inzwischen auch vom Nils-Virus befallen?" Irritert guckte ich ihn an. Was meinte er? "Komm' doch einfach mal wieder mit", schlug ich vor. Er schüttelte den Kopf: "Ist doch eh alles Kinderkacke", meinte er. Meine Güte, Mr. Obercool ist unterwegs.

Naja, jedenfalls kam ich eine Viertelstunde zu spät. Nils guckte mich fragend an. Ich konnte ihm gerade noch zuflüstern, daß Max meinen Rechner neu installiert hat. Dann ging es auch schon los. Heute war wieder chain wrestling angesagt. Insgesamt war es ganz ok. Wenn es im richtigen Wettkampf doch auch nur so wäre, daß man eine ganz bestimmte Folge von Griffen hat, an denen man sich langhangelt. Dann wäre das alles viel einfacher. Aber nein, das muß ja alles so kompliziert sein.

Nils auf dem Heimweg. Es ist schlimm. Ich möchte ihn gar nicht mehr loslassen. Immer nur festhalten und ihn spüren. Ja, ich bin geil auf ihn. Jede Sekunde, die ich an ihn denke. Ich weiß auch nicht, wie es jetzt auf einmal kommt. Aber es ist so. Und ich glaube, nein ich weiß, daß es ihm genauso geht.

Sonntag, 2. März 1997

2. März

"Sag mal, ich wollte das gestern nicht fragen, aber ihr habt doch hoffentlich Kondome benutzt, oder?" Doris hatte manchmal wirklich eine komische Art, Gespräche zu beginnen. Wir saßen auf der Bank vor ihrem Haus und genossen die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings.
"Nein."
Ich gebe zu, daß ich darüber überhaupt nicht nachgedacht hatte. Nicht eine Sekunde. Das sagte ich ihr dann auch. "In so einem Moment, denkt man doch an alles andere, bloß nicht daran", wandte ich ein.
"Mensch! Ich hätte gedacht, du bist ein bißchen vernünftiger!"
"Warst DU vielleicht vernünftig, mit Clemens", ich zeigte auf ihren Bauch. Ok, ich gebe zu, das war nicht sonderlich fair. Aber was hatte sie für ein Recht, mir dieses schönste Erlebnis plötzlich im Nachhinein zu versauern?
Sie lachte: "Ich glaube nicht." Und sie fuhr fort: "Du liebst ihn sehr, nicht wahr?"
"Mehr alles alles auf der Welt. Ich meine, ich dachte bisher, so etwas gibt es nur im Kino oder im Roman. Aber zum ersten Mal fühle ich mich, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, so sicher. So als wenn alles an seinem richtigen Platz ist."
Doris nickte. "Ich wünsche dir, daß das alles ganz, ganz lange anhält." Eine Katze kam und strich mir um die Füße. "Da bin ich mir ganz sicher."
"Verreist ihr im Sommer zusammen?"
"Keine Ahnung, darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Vor allem, wie soll ich das meinen Eltern beibringen."
"Du meine Güte. Sag ihnen einfach, daß du mit Nils wegfährst. Was ist denn schon dabei? Sie werden glauben, daß ihr unterwegs seid, um Spaß zu haben und Mädchen aufzureissen."
"Meinst du?"
"Eltern sind naiv. Sie glauben das, was sie glauben wollen."
"Meine Eltern nicht", protestierte ich.
"Auch DEINE Eltern. Besonders deine Mutter. Weißt du, daß sie mir gestern in der Küche gesagt hat, daß sie froh ist, daß du jetzt endlich auch eine Freundin hast."
"WAAAS? Das hat sie zu DIR gesagt?" Ich wußte nicht, ob ich lachen oder wütend sein sollte.
"Ja."
"Und was hast du gesagt?"
"Nichts, ich habe nur genickt und die Teller in die Spülmaschine gestellt."
"Na toll."
"Was hätte ich denn sagen sollen? 'Gucken sie doch mal ins Eßzimmer? Da sitzt die eigentliche Freundin von ihrem Sohn?' Wäre dir das lieber gewesen?"
"Nein", meinte ich zerknirscht.
Uff, das Leben ist doch komplizierter als es aussieht. Aber im Moment will ich nicht darüber nachdenken. Nein. Es läuft. Und es ist gut so, wie es läuft!

Samstag, 1. März 1997

1. März

11:30
"Na du!" Nils lächelte. Nein er glühte vor Lächeln. Ich fiel noch im Flur über ihn her, bedeckte ihn mit Küssen. Das schönste Geburtstagsgeschenk von allen. Nils einfach nur im Arm halten und ihn küssen. Niemand da, der uns stören könnte. Ich merkte, wie ich geil wurde. "Dafür haben wir Zeit", flüsterte er in mein Ohr und zog mich ins Wohnzimmer. "Ich dachte, ich koche ein bißchen."
Nils und kochen. Das paßte irgendwie überhaupt nicht für mich zusammen.
"Was gibt es denn? Tiefkühlpizza?" spottete ich
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen. Ich sah, wie seine Mundwinkel nach unten gingen. "Hey, das war doch nicht so gemeint", tröstete ich ihn. Er hatte den Tisch perfekt gedeckt. Mit einem großen weißen Tischtuch, mit Servietten, Weingläsern und jede Menge Kerzen. Überhaupt war die ganze Wohnung ein einziges Kerzenmeer. Alles erstrahlte in einem sanften Licht. Es war wie in einem Traum. Ich habe einen Freund. Ich sitze an einem weiß gedeckten Tisch. Nils gießt den Wein ein. Die Kerzen spiegeln sich im Rot des Chiantis. Dann verschwindet er in der Küche und kommt nach einer Weile wieder zurück. "Penne arrabiata", verkündet er geheimnisvoll und stellt mir einen großen Teller mit Nudeln und einer spannend aussehenden roten Soße hin. Spannend im wahrsten Sinne des Wortes. Die Soße schmeckte toll. Aber sie war zugleich höllisch scharf, so daß ich gar nicht hinterher kam mit dem Wein, um das brennende Gefühl in meinem Mund zu löschen. Aber es schmeckte wirklich super. Aber das war nicht alles, Nils meinte, die Hauptspeise würde erst noch kommen. Und er verschwand kurz in der Küche. Komisch, ich hatte bisher nur zwei Gläser Wein getrunken, aber mir trieselte es schon im Kopf. Dann kam er wieder rein: "Calamari livornese!"
"Gibs zu", flachste ich, "du hast in Wirklichkeit in einem Drei-Sterne-Restaurant dein Bogy gemacht."
Er grinste. Dieser Gang war Knoblauch pur. Aber es schmeckte einfach super. Ich war wirklich überrascht, das Nils so gut kochen konnte. Vor allem, wie hat er das so alles von der Zeit hinbekommen?
"Und jetzt noch der Nachtisch", sagte er, als ich meinen letzten Bissen runtergeschluckt hatte.
"Bist du wahnsinnig? Ich platze gleich!"
"Nix da!"
Er verschwand in der Küche. Weil ich es so von zu Hause gewöhnt war, wollte ich ihm beim Abräumen helfen, aber er warf mich gleich wieder aus der Küche raus: "Du hast Geburtstag, ab an die große Tafel!"
Also fügte ich mich, genoß das angenehm trieselige Gefühl in meinem Kopf. Ich brachte die einzelnen Möbelstücke in meinem Kopf in einer neue Ordnung bis Nils schließlich wieder hineinkam: "Und zum Nachtisch: Zabaione."
"Wenn das Dimitri wüßte."
"Scheiß drauf."
"Ich bin pappsatt!" sagte ich, nachdem ich den letzten Löffel geleert hatte. Wieso um alles in der Welt konnte Nils nur so gut kochen? Ich schaute ihn an, meinen Nils. Ich weiß nicht, woran es lag, vielleicht am Wein. Mir schossen die Tränen in die Augen. "Um Gottes Willen, was ist denn los?" fragte er besorgt.
"Es ist nichts", ich versuchte die Tränen zu unterdrücken, "es ist nur, weil ich dich so liebe."
Er nahm mich in den Arm und drückte mich. Ich fühlte mich so sicher. "Weißt du noch, was ich dir damals gesagt, habe im Oktober?"
"Ich nickte: "Von jetzt an beschütze ich dich, hast du gesagt."
Nils nickte: "Ich laß dich nie wieder los." Er hielt mich fest. Wir standen eine halbe Ewigkeit so. Irgendwann flüsterte er in mein Ohr: "Hey, gleich hat jemand Geburtstag."
Ich schielte zur Uhr, es waren tatsächlich nur noch ein paar Minuten.
"Moment", sagte er und verschwand. Als er wiederkam, zog er mich in Richtung seines Zimmers. Um Punkt zwölf durfte ich rein. Gleichzeitig ploppte der Korken einer Sektflasche. Sein Zimmer war ein Meer von Kerzen. "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz", flüsterte er zärtlich in mein Ohr. Ich war einfach nur sprachlos und hatte schon wieder Tränen in den Augen. Die Gläsern trafen sich, machten "Kling". Ich war siebzehn. Und ich war der glücklichste Mensch der Welt. In meinem Arm mein Schatz, mit dem längsten und schönsten Kuß der Welt. Ich schwebte und drückte ihn ganz fest. Ich weiß nicht, wie lange wir so dastanden. Irgendwann löste sich unsere Umarmung und er gab mir ein kleines Päckchen: "Für dich." Ich begann, es auszupacken. Als erstes kam ein kleiner Teddybär zum Vorschein. Ich mußte lachen. Irgendwann hatte ich ihm mal gesagt, daß ich kleine Bären total niedlich finde, und jetzt erst der Eisbär und dann der hier. Er ist wirklich süß. Was ist nur los mit mir. Ich fange an, zu heulen. Zu Heulen, wegen eines Stoffbärs? Das kann doch alles nicht wahr sein! Als nächstes packe ich eine CD aus und lege sie in den Player. Es ist seltsam, so eine Musik habe ich noch nie gehört, aber sie ist einfach nur schön: Brian Eno. Und als letztes ein großes Blatt Papier. Darauf ein Gedicht. Wenn ich nicht schon Tränen in den Augen gehabt hätte, dann wäre das spätestens der Augenblick gewesen, um loszuheulen. Plötzlich entdecke ich Seiten an Nils, die ich nie geahnt hätte. Ich umarme ihn, halte ihn einfach nur fest. Ich möchte diesen Moment ebenso festhalten wie Nils. Ich weiß, was auch passieren wird in meinem Leben, diesen Augenblick werde ich nie vergessen, genauso wie den Moment, wo er mich das erste Mal in den Arm genommen hatte. Wir fallen auf sein Bett. Sein Küsse sind so sanft und doch so leidenschaftlich. Alles ist an seinem Platz und so wie es richtig ist. Ich spüre seinen Atem, seine Haut. Ich blicke ihn an und bin so voll von Liebe. Es gibt nichts mehr, nur noch ihn. Ich weiß, daß ich nur noch ihn will, ihn fühlen will, ganz, in mir. Ich nehme seinen Schwanz und führe ihn an die Stelle. Seine fragenden Augen. Ja Nils, ich will es, ich will dich ganz spüren, ganz und gar. Und es geht, es geht, als wäre es die einfachste Sache der Welt. Nils' Gesicht glüht und er hat Tränen in den Augen. Genauso wie ich. Wir brauchen nichts zu sagen. Es ist ein schweigendes "Wir bleiben für immer zusammen". Und in dieser Nacht heute haben wir es uns versprochen.

Ich wachte auf, als mich Nils sanft auf die Stirn küßte: "Frühstück, du Geburtstagskind." Ich war totmüde und guckte auf die Uhr. Es war fünf. Fünf Uhr in der Frühe! Doch Nils kam mir zuvor: "Hast du nicht gesagt, daß du heute früh zu Hause sein mußt, wegen deinen Eltern?" Verdammt, das hatte ich total vergessen. Und Nils, mein Schatz, hatte daran gedacht. Wir frühstückten im Bett. Es war total schön, aber auch total unpraktisch. Im Fernsehen sieht so was immer total easy aus. Dann setzten wir das Bad beim Duschen unter Wasser ehe ich schließlich meine Sachen zusammensammelte. Ich wäre so gerne noch bei ihm geblieben. Aber ich hatte ja versprochen, daß ich zum Frühstück wieder zu Hause sein würde. Ein langer Kuß zum Abschied: "Wir sehen uns heute Abend."

Der Weg zurück nach Hause. Die Straßen menschenleer. Mein Kopf voll mit Nils. Und ich komme mir tatsächlich vor wie im Film. Die Szene, wo der Held plötzlich merkt, er ist ein anderer. Seit heute Nacht ist tatsächlich alles anders. Nicht, weil ich siebzehn geworden bin. Was sagt das schon? Nein, zum allerersten Mal in meinem Leben habe ich einem Menschen so tief vertraut. Dieses Gefühl, ich kann es gar nicht beschreiben. Nur noch Liebe in mir. Und trotzdem ist mir so, als würde ich auf einmal alles viel klarer sehen. Die Dinge um mich herum bekommen einen Sinn. Bin ich das, was man erwachsen nennt?

Leise schließe ich die Tür auf. Ich höre Mom im Eßzimmer wuseln. Lautlos husche ich die Treppe hinaus in mein Zimmer und lasse mich auf's Bett fallen. Nils, was hast du nur mit mir gemacht? Ich verstaue sein Gedicht sicher im Bisley, stelle den kleinen Teddy auf den Schreibtisch. Irgendwie muß ich kurz eingenickt sein, denn ich schrecke hoch, als es an meiner Tür klopft: "Tim! Aufwachen! Geburtstag!" Es ist Lisa, die hineinstürmt und strahlt. Ich hebe sie hoch und wirbele sie herum. Ihre kleinen Ärmchen drücken mich so fest sie können: "Alles Gute zum Geburtstag." Sie gibt mir ein großes Bild. Das soll wohl ich sein, der da auf einem Boot steht und winkt. Die Sonne lacht. Auf allen Bildern von Lisa lacht die Sonne. Es bekommt einen Ehrenplatz! Mom und Dad stehen in der Tür und lächeln. "Alles Gute zum Geburtstag", sagte Mom und drückte mich. Auch Dad wünscht mir alles Gute. Ganz genau so, wie er es immer getan hat. Ein fester Händedruck, eine kurze Umarmung. Wir gehen nach unten. Im Eßzimmer ein gedeckter Frühstückstisch mit Kerzen. Dad schleppt einen großen, in Geschenkpapier verpackten Karton hinein: "Von uns, zum Geburtstag", grinst er. Mom legt noch ein kleineres Paket obendrauf. Auspacken gibt es erst nach dem Frühstück. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger. Kein Wunder, von Kurzem habe ich doch schon mal gefrühstückt. Dann geht es an's Auspacken. Ich dachte ich spinne. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet: ein neuer Computer. "Ich denke mal, den kannst du bestimmt gebrauchen, in der Schule und auch später", sagte Dad. Wow, ich war total überwältigt. "Er hat sogar eine ISDN-Karte drin. Aber frage mich nicht, wie das funktioniert, das habe ich absolut keine Ahnung." Verrückt. Ok, ich habe wirklich ein paar Mal geflucht, über den alten Computer, weil er bei den meisten Spielen so elendig langsam ist. Aber ich hätte ja nie damit gerechnet, daß ich einen Neuen bekomme. Wir tapern in mein Zimmer. Das Aufbauen des neuen Rechners wird echt zum Ereignis. Fehlt eigentlich nur noch das Fernsehen. Er läuft, und total schnell. Das ist schon ein total anderes Gefühl, wenn Windows innerhalb von kürzester Zeit hochbootet. Ich muß ihn nur noch richtig einrichten, aber das mache ich in Ruhe in der nächsten Woche. Außerdem muß ich die Online-Karte mit AOL installieren. Vielleicht kann mir ja Max dabei helfen. Uff, was für ein aufregender siebzehnter Geburtstag. Phil hat mir zwei CDs geschickt mit Live-Aufnahmen von Oasis, die ich noch gar nicht kannte. Schon spannend, wo er die nun wieder her hat.


23:56
Uff, was für ein Tag. Ich gehe ihn noch mal in Gedanken durch. So viel ist heute passiert. Und doch eigentlich gar nicht so viel. Doch, Nils und ich haben heute zum ersten Mal wirklich richtig miteinander geschlafen. Ich meine so ganz richtig. Nie hätte ich vorher gedacht, daß ich DAS mal machen würde. Aber es war so toll, ein großartiges Gefühl. Heute? Doch ja, irgendwann heute kurz nach Mitternacht ist es passiert.

Und dann Geburtstagsfeier. Oma hatte angerufen, natürlich auch Phil, Max, Florian, Benji und sogar Tobias. Und dann die Geschenke: Ein neuer Computer, ein total cooles Levis-Shirt, ein tolles Buch über Architektur. Von Doris ein geheimnisvolles Video, was ich mir alleine oder mit Nils angucken soll (das machen wir gemeinsam), wie sie mir zuflüsterte. Und Nils brachte tatsächlich noch ein Geschenk mit: "Winning Wrestling Moves". "Damit du mal ein paar mehr Griffe lernst, als den Halbnelson", grinste er. Es war schon komisch heute Abend. Erst kam Doris und Mom hatte die ganze Zeit über totale Schwierigkeiten, sie nicht zu siezen. Doris und ich guckten uns immer an und waren kurz davor, loszuprusten.

Dann kam Nils. Ich weiß ja nicht, was ihn geritten hat, aber er hatte allen Ernstes ein Jacket an. Das war dann wirklich zuviel für Doris und mich und wir mußten nur noch lachen. Sogar Mom meinte: "So förmlich geht es bei uns ja nun wirklich nicht zu." Ich schmeiß mich weg: Nils im Jacket! "Ich dachte ihr seid so vornehm", zischte er mir in der Diele zu. Ich kniff ihm in den Hintern als Antwort. Das lag am Rotwein, den ich schon vorher getrunken hatte. Aber das gemeinsame Abendessen verlief tatsächlich ohne Probleme. Dad und Doris verstanden sich fabelhaft und unterhielten sich über so weltbewegende Themen wie Umweltschutz und soziale Verantwortung. Es ist seltsam, ich hätte nie gedacht, daß Dad sich über solche Dinge tatsächlich Gedanken gemacht hätte. Aber die beiden schienen wirklich eine ganze Menge Gemeinsamkeiten zu entdecken. Nils und ich grinsten uns verstohlen an, wenn niemand uns beobachtete. Ansonsten hatte er heftig mit den diversen Fischsorten zu kämpfen. "Sie essen wohl hier nicht oft, Fisch, oder? Oh, Entschuldigung, ich meinte natürlich 'du'." Es gibt Momente, bei denen ich mich am liebsten zur Adoption freigeben würde. Dabei hatte Mom das wahrscheinlich gar nicht so arrogant gemeint, wie es geklungen hatte. Aber Nils war einfach göttlich in seiner Reaktion: "Nein, das ist ja auch ein langer Weg von der Küste bis hierher. Wir sind eher für die urigen, bodenständigen Dinge." Woff, das saß! Das Wort 'bodenständig' hatte ich bisher kaum wahrgenommen. Nein, aber alles in allem war es wirklich ok. Wir unterhielten uns prächtig und irgendwann taperten Nils und Doris in mein Zimmer. Nicht ohne, daß Doris vorher Lisa eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen mußte.
"Deine Eltern sind gar nicht so übel", meinte Nils
"Naja geht so. Weißt du, daß du mir gefehlt hast?"
"Das will ich doch hoffen", er gab mir einen raschen Kuß auf den Mund, gerade in dem Moment, als Doris reinkam.
"Ihr werdet leichtsinnig, ihr Zwei", sagte sie und grinste.
Ich zuckte mit den Schultern und ließ mich aufs Bett fallen: "Was soll ich machen, ich habe den liebsten Jungen der Welt. Und wer weiß, vielleicht werde ich sogar schwanger."
"Tim!" Nils' gespielte Strenge brachte mich für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Ich blickte zu Doris, die etwas verwirrt aussah. "Oh nein, ihr Männer seid doch ale gleich", lachte sie schließlich.
Es war einfach nur schön. Da saßen die beiden Menschen, die mir im Moment, außer meiner Familie vielleicht, am meisten bedeuteten. Und wir blödelten einfach nur rum. Irgendwann meinte Doris dann, sie müßte mal so langsam ihren Vater anrufen, damit der sie abholt. Das war echt blöde, aber es ging ja nicht anders. Ich glaube Dad hatte auch schon zu viel getrunken, um jetzt in der Nacht durch die halbe Ostalb zu gurken. Naja, und weil es sich anbot, ist Nils gleich mitgefahren. So ein Mist. Ich hätte ihn ja so gerne noch bei mir gehabt. Aber was hätte ich denn sagen sollen? Das ist MEIN FREUND und er bleibt jetzt über Nacht? Das wäre ja der krönende Abschluß des Geburtstages gewesen. Aber es war doch toll. Gerade eben hat Nils noch mal angerufen und mir eine 'Gute Nacht' gewünscht. Ich liebe dich!