Sonntag, 30. Juni 1996

30. Juni

"Hi großer Ringer!"
Phil hob mich hoch und drehte mich herum. Schön, daß er endlich wieder da ist. Und was das witzigste ist: Oma ist mitgekommen. "Ich dachte ich fahre einfach mit und gucke mir euer neues Zuhause an." Sie wirkt richtig vornehm unter all den Bauern auf dem Bahnhof. "Du hättest ja wenigstens vorher was sagen können", nörgelte Mom. Ich finde es einfach nur cool. Auch wenn Phil jetzt solange in mein Zimmer umquartiert ist. Naja jedenfalls war Mom irgendwann wieder versöhnt und wir saßen alle zusammen. Oma meint, daß sie hier nicht leben könnte, sie braucht das Wasser. Recht hat sie. Im Vergleich zu ihrem Haus mit dem freien Blick nach Finkenwerder hat man hier überall nur langweilige Wiesen und Hügel.

Ich habe mich ewig mit Phil unterhalten. Obwohl er sich freut, daß er wieder hier ist, ist er traurig wegen Britta. Er meint, daß sie sich nicht getrennt haben, aber daß es schwierig ist, so eine Beziehung über die Entfernung zu haben. Er hofft darauf, daß er sie öfters ab September sieht. Da wird er eingezogen und muß nach Lüneburg. "Vielleicht komme ich dann das eine oder andere Wochenende nicht runter sondern fahre zu ihr." Shit, bei dem Gedanken, daß er zum Bund geht wird mir ganz anders. Aber ich wollte nicht schon wieder eine Diskussion mit ihm anfangen. Zum Glück hat er mich nicht nach irgendwelchen Mädels hier gefragt. Ich glaube wir haben so eine Waffenstillstand in dieser Beziehung.

Samstag, 29. Juni 1996

29. Juni

"Kommst du heute mit ins X1?"
Gerade hat Max angerufen. Aber ich hab gesagt, daß ich dieses Wochenende schon verplant habe. Was nicht stimmt. Aber ich habe einfach keine Lust wegzugehen. Beim Abendbrot gab es mal wieder eine völlig strange Diskussion. Mom fragte, wie es denn meiner kleinen Freundin geht. Ich wußte erst gar nicht, was sie meinte, aber sie redete tatsächlich von Doris. Klein! Ich mußte fast lachen. "Sie ist nicht meine Freundin. Das heißt nicht so, wie du vielleicht denkst."
"Sondern?"
"Wir verstehen uns einfach nur gut, reden jede Menge miteinander. Das ist alles."
"Andere Jungs in deinem Alter haben alle schon eine kleine Freundin."
"So ein Schwachsinn."
"Rede nicht so mit mir. Ich bin immer noch deine Mutter."
"Naja, was soll denn das? Wenn es Zeit ist, dann erfährst du es noch früh genug." Ich war richtig stolz auf meine Doppeldeutigkeit. Mom verzog das Gesicht: "Der Herr will sich wohl erst seine Traumfrau backen." Das war mir einfach zu viel. Ich stand auf und ging in mein Zimmer. Ich hörte noch, wie Dad sagte: "Anne, laß den Jungen doch." Den Rest der Unterhaltung bekam ich nicht mehr mit. Ich legte mich auf's Bett und setzte mir die Kopfhörer auf. Warum können mich alle nicht einfach in Ruhe lassen, wenn sie mir schon nicht helfen? Plötzlich stand Dad im Zimmer. "Ich habe geklopft, aber du hast nicht geantwortet."
"Schon ok."
"Tim, du kannst nicht einfach aufstehen und verschwinden, nur wenn dir etwas nicht paßt."
"Ich habe echt keinen Bock, auf so eine Diskussion wie eben."
"Du mußt deine Mutter verstehen."
"Warum muß ICH eigentlich immer alle Leute verstehen? Wer versteht mich denn?"
"Vielleicht willst du ja gar nicht, daß man dich versteht?"
"Was meinst du damit?"
"Ich will damit sagen, daß ich glaube, daß viel mehr in dir vorgeht, als du nach außen zeigst."
"Da hast du verdammt noch mal recht. Aber wen interessiert das schon."
"Vielleicht mehr Menschen, als du glaubst. Wir sind schließlich deine Eltern."
Ich guckte ihn an. Ich weiß gar nicht, wann ich ihn das letzte Mal so intensiv gesehen habe. "Ich will nur, daß du weißt, daß wir für dich da sind, wenn du uns brauchst." Oh Shit, es wäre die Möglichkeit gewesen, es ihm zu sagen. Das weiß ich jetzt, wo er wieder raus ist. Statt dessen nickte ich nur. Was um alles in der Welt meint er? Was weiß er? Gerade war Ruhe in meinem Kopf und schon ist wieder alles durcheinander. Ich versuche Doris anzurufen. Sie ist nicht da, sagt ihre Mutter. Nein, sie braucht nichts ausrichten. Ich werde einfach schlafen gehen.

Freitag, 28. Juni 1996

28. Juni

"Hast du schon gehört?"
Doris ist manchmal toll. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß sie mich fragt, was los ist und hatte mir schon eine Ausrede bereit gelegt. Statt dessen erzählte sie mir von einer 'Geheimen Kommandosache Triumphbogen' die sich der Abikurs wohl ausgedacht hatte. Sie wollen wohl einen Römischen Triumphbogen vor der Schule aufstellen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie. Doris weiß auch nicht mehr aber ich finde die Idee witzig.

Nils ist wieder Nils und Tim ist wieder Tim. Jedenfalls nach außen. Mit der Mathearbeit war ich vor allen anderen fertig und ich weiß, daß ich alles richtig haben werde. Ich bin auf den Schulhof gegangen. In einer Ecke stand Boris. Als er mich sah, drehte er sich um und verschwand. Soll er doch sauer sein, der Spinner. Vielleicht schenke ich ihm mal einen Spiegel.

"Wer ist es denn jetzt?" Plötzlich stand Doris hinter mir. Shit, jetzt hatte sie mich doch erwischt. "Niemand spezielles, ich bin einfach nur mal wieder total durch den Wind."
"Hast du dir das mit der Gruppe überlegt?"
"Nein. Das heißt ja: ich werde nicht hingehen."
"Na wenn du meinst."
"Aber es ist lieb von dir, daß du dich darum gekümmert hast." Ich umarmte und drückte sie.
"Vorsicht," sagte sie scherzhaft, "sonst denkt noch jemand, wir sind ein Paar."
"Und wenn schon, oder wäre es dir peinlich?"
"Nein, aber du versaust dir damit alle Chancen bei den Jungs hier."
"Als wenn es hier etwas zu versauen gibt." Inzwischen hatte es geklingelt und der Hof füllte sich.
"Komm, wir suchen jetzt einen aus für dich", lachte sie
Wir blödelten rum, sie zeigte mir diverse Jungs und ich protestierte immer wieder, zu jung, zu dick, zu dünn, zu häßlich. Dann zeigte sie auf Nils. "Zu...", ich stockte. Shit, warum stockte ich? "Zu Hetero." Uff gerade noch geschafft. "Willst du lieber eine Tunte?" Ich mußte lachen, weil ich mir Nils als Tunte vorstellte. "Wie geht's Clemens?" fragte ich, um das Thema zu wechseln. "Den kriegst du nicht, der gehört mir."
"Den würde ich auch nicht wollen. Nein, ich meine echt wie es euch beiden geht?"
"Gut, ich bin wirklich glücklich, seit ich ihn kenne. Wir fahren im Sommer zusammen nach Dänemark."
"Wow, wohin denn da?"
"Keine Ahnung, wir nehmen ein Zelt mit und fahren einfach durch die Gegend."
"Das ist nix für mich."
"Du brauchst ein Luxushotel, mit privatem Zimmerservice, was?"
"Mindestens."
"Wohin fährst du?"
"Nach Italien, in die Nähe von Venedig."
"Ohh, Bella Italia. Schöne Männer hat's da."
"Wahrscheinlich werde ich von einem Herzinfarkt zum nächsten fallen."
Doris lachte. Es klingelte. Es ist schön, daß es sie gibt.

Donnerstag, 27. Juni 1996

27. Juni

11:10
"Du bleibst heute noch hier", hat Mom entschieden und in der Schule angerufen. Ich habe kein Fieber mehr. Mein Kopf ist immer noch leer. Doch jetzt ist es eher angenehm. Ich blättere im "Schwul, na und". Alles ist ja so easy, du mußt dich nur outen und schon geht es dir gut, schreit es mir entgegen. So ein Schwachsinn. Als wenn ich so einen Freund finden werde. Ich nehme meinen Matheordner. Es ist komisch, Mathe fiel mir eigentlich immer leicht, aber auf einmal scheine ich den tieferen Sinn in den Formeln zu begreifen. Innerhalb von kurzer Zeit habe ich die Aufgaben fertig und die Graphen gezeichnet, n gegen unendlich. Mein Kopf beginnt sich wieder zu füllen, mit Winkelfunktionen, Anziehungskräften und der Weimarer Verfassung. Ich mache Situps und Liegestütz. Sehe mich im Spiegel. Ja, das bin ich, ich Tim Berger, 16 Jahre und schwul. Ganz allein in der Welt. Ich brauche niemanden. Ich bin mir selbst genug.


13:35
Es klingelte. Ich dachte, es wäre der Postbote. Als ich die Tür öffnete und Nils da stand, wollte ich schon 'Verschwinde!' sagen. Statt dessen drehte ich mich einfach um und ließ die Tür offen. Wortlos gingen wir in mein Zimmer. "Ist Französisch ausgefallen?" Er schüttelte den Kopf, wich meinem Blick aus und guckte zum Fenster. "Ich bin nach der Fünften abgehauen. Sorry, wegen Dienstag." Ich guckte ihn an. Er sah noch immer aus dem Fenster, doch ich merkte, was es ihn für eine Überwindung gekostet hatte, das zu sagen. Ich spürte wie die Wärme in meinen Körper zurückkehrte, doch ich riß mich zusammen. "Ist schon ok, du kannst ja nichts dafür, daß es mir im Moment beschissen geht." Natürlich kann er was dafür. "Bist du krank?" Das klang so, als hätte ich Krebs oder so was. "Ich hab mich erkältet, aber es geht schon wieder." Er nickte. Plötzlich drehte er sich zu mir: "Es tut mir wirklich leid, wegen vorgestern. Ich wollte dir eigentlich nur helfen."
"Du hast manchmal 'ne komische Art das zu zeigen."
"Ich weiß."
Ich merkte wie das alles, was ich für ihn empfunden habe wieder hochkam. Doch ich schob es beiseite. Mein Kopf war endlich wieder der Bestimmer. "Da muß ich alleine durch, wirklich. Aber trotzdem Danke. Nur so viel: es geht nicht um Stefanie."
Nils nickte: "Wenn du trotzdem mit jemandem quatschen willst...", er stockte. "Ist schon ok. Irgendwann werde ich's dir erzählen."
Mir fiel auf, daß ich immer häufiger lüge. Ich begleite ihn nach unten.
"Kommst du heute zum Training?"
"Nee, doch nicht mit Fieber. Aber ich bin morgen wieder in der Schule." Nils zwinkerte und boxte mich auf den Arm: "Wir sehen uns!" Dann schwang er sich auf sein Rad und düste davon ohne sich umzudrehen. Nein Nils, ich erlaube dir nie wieder, dich so in meinem Kopf breitzumachen. Ich erlaube es niemandem mehr.

Gerade hat Doris angerufen und sich nach mir erkundigt. Ich habe ihr gesagt, daß ich im Moment ziemlich down bin aber daß ich morgen wieder komme. Sie hat mir angeboten, vorbei zu kommen, aber ich habe abgelehnt.

Mittwoch, 26. Juni 1996

26. Juni

"Kein Wunder, wenn du klitschnaß durch die Gegend rennst." Ich habe Fieber. Ich weiß nicht wieviel, Lisa hat unser Thermometer verbummelt. Ich gehe nicht zur Schule. Nein, ich brauche nichts, nein du brauchst nicht anzurufen. Laßt mich einfach alle in Ruhe, laßt mich einfach allein, das machen schließlich alle anderen auch so. Laßt mich allein im Regen. Ich bin ein Kapitän, der ganz allein auf seiner Brücke im Sturm steht. Das Schiff steuert, wohin es will und niemand ist mehr an Bord. Ich versuche was zu lesen aber ich sehe die Buchstaben und bekomme nichts von dem Sinn mit. Draußen scheint die Sonne, alles sieht so schön und einladend aus. Ich lasse die Rollos runter. Nur um wenigstens etwas zu tun, esse ich was und muß prompt kotzen. Ich lege mich wieder ins Bett, versuche mir einen runterzuholen, es klappt nicht. Das Telefon, ich lasse es klingeln. Irgendwann muß ich eingeschlafen sein. Als ich aufwache stehen Mom und Lisa vor mir. Lisa hat mir ein Bild gemalt und zum ersten Mal an diesem Tag muß ich lächeln.

Dienstag, 25. Juni 1996

25. Juni

"Tim, verdammt noch mal, wo bist du denn?"
Nils war verärgert. Ich war heute überhaupt nicht bei der Sache. Meine Gedanken, meine Gefühle gehen auf und ab wie ein Löwe in seinem Käfig. Überall sind Gitter. Bin ich an dem einen Ende, will ich zum anderen. Und eigentlich will ich ganz raus, doch ich kann nicht. "Was ist denn los mit dir?"
"Ich weiß nicht, ich bin nur etwas...etwas durch den Wind im Moment." Ich ließ mich auf die Matte fallen.
"Wieso? Was fehlt dir denn?"
"Sex", platzte es aus mir heraus. Shit, ich wäre am liebsten im Boden versunken.
Nils prustete los: "Da bist du nicht der Einzige." Lach du nur, dachte ich. Lach nur, wenn du wüßtest woran ich nachts denke, würdest du bestimmt nicht mehr lachen. "Weinst du immer noch dieser Stefanie hinterher? Komm, vergiß sie. Es gibt jede Menge anderer Mädchen."
Mein Gott, wie kann ein Mensch nur so blöd sein? Gibt es auf dieser Welt überhaupt IRGENDEINEN Menschen, der mich versteht? Ich sagte nichts, aber in meinen Gedanken antwortete ich: 'Vielleicht will ich ja gar kein Mädchen.' Doch ich schwieg und starrte an die Decke. Ich will weg, einfach nur irgendwo anders sein, wo mich niemand kennt.
"Tim!" Nils setzte sich auf meine Brust, griff mich an den Handgelenken und zog mir die Arme über den Kopf. "Verdammt noch mal, was ist los mit dir?" Ich sah seinen Schwanz vor meinem Gesicht aber es ließ mich kalt. Ich blickte ihm in die Augen. Doch es war nicht der Blick, bei dem ich sonst immer wegschmolz. Es war ein stechender Blick, von dem ich eine Gänsehaut bekam. Er kniff die Augen zusammen und sah plötzlich so unheimlich erwachsen aus: "Was ist los mit dir?" wiederholte er.
"Laß mich einfach in Ruhe, es geht schon."
"Irgendwas ist mit dir und ich will jetzt endlich wissen, warum du dich so affig hast!" schrie er. Sein Gesicht war nur noch Wut. 'So nicht, Nils', dachte ich und wunderte mich, wie ich mich nur in ihn vergucken konnte. Ich bäumte mich auf und schaffte es, ihn abzuwerfen. Ich sprang auf und ging ohne mich noch einmal umzudrehen zur Umkleide. "Ja, hau' nur ab und ersauf' in deinem Selbstmitleid", rief er mir hinterher und ich dachte die ganze Halle müßte es hören, "verpiß dich, so wie du immer abhaust, wenn du Schiß hast!"

Ich zog mich um und rannte aus der Halle. Es hatte geregnet und die Luft war schwül. Ich fuhr zum Kochertalweg, legte mich ins nasse Gras und heulte. Fast eine Stunde lag ich da und es begann schon dunkel zu werden als ich mich auf dem Heimweg machte. Mein Kopf ist leer. Zu Hause Mom: "Junge, wie siehst du denn aus?" "In den Regen gekommen." Ich gehe in mein Zimmer, lege mich nackt aufs Bett. Mein Kopf immer noch leer, weiß, wie die Decke an die ich starre.

Montag, 24. Juni 1996

24. Juni

"Nein, zu so was würde ich nie im Leben gehen", sagte Boris. Ich habe mich nach der Schule mit ihm am Kochertalweg verabredet. Ich finde seine Heimlichtuerei ("Hoffentlich sieht uns hier niemand zusammen") wirklich affig. Ich meine, ich will ja auch nicht, daß irgend jemand mitkriegt, daß ich schwul bin, aber er hat ja nun wirklich den absoluten Verfolgungswahn. Naja, jedenfalls hab ich ihn gefragt, was er von dieser schwulen Jugendgruppe hält.
"Willst du da etwa hingehen?" fragte er.
"Ich glaube nicht. Aber ich dachte, du weißt, wie es da so abläuft."
Er schüttelte den Kopf. "Weißt du", begann er plötzlich, "ich finde das voll daneben." Ich wußte nicht, was er meint: "Was denn?"
"Wir sind wahrscheinlich die beiden einzigen Schwulen hier auf der Schule. Und dann haben wir uns, was ja nun schon Zufall genug ist, auch noch getroffen."
Ich verstand immer noch nur Bahnhof.
"Warum sind wir eigentlich nicht zusammen?"
Ach du Scheiße, jetzt kam das. Was sollte ich denn jetzt sagen? Daß ich ihn alles andere als spannend finde? Daß mich seine Art, aus jedem Gespräch einen geheimen Agentenaustausch zu machen, abnervt? "Es hat einfach nicht Klick gemacht, bei mir, das ist es."
"Ach, glaubst du, daß du in der Situation auch noch wählerisch sein kannst?" Verdammt, das habe ich doch schon mal gehört.
"Sorry, aber du bist einfach nicht mein Typ."
"Ach ja? Auf dem Klo warst du aber schon geil drauf."
"Das ist was anderes. Sex zu haben ist eine Sache. Aber mit jemandem zusammen sein, da muß es halt bei mir Klick machen."
"Dann laß uns wenigstens Sex zusammen haben." Ich war völlig baff, wie direkt er auf einmal war.
"Was denn, etwa hier in den Büschen?"
"Warum nicht?" Er meinte es ernst. Er meinte es wirklich ernst! Und ich? Ich bekam einen Ständer. So eine Scheiße. Zum Glück schaltete sich mein Kopf wieder ein: "Du spinnst wohl, wenn jemand vorbei kommt." Diesmal war ich derjenige, der sich umguckte. "Ach, fick dich doch selber!" schrie er mich an. "Du bist wirklich nichts weiter als ein kleiner arroganter Wichser!" Dann schwang er sich auf sein Rad und verschwand. Hilfe, ich fahre Achterbahn! Bin ich im falschen Film? Aber warum wurde ich plötzlich geil auf ihn? Warum hab ich es dann doch nicht gemacht? In meinem Kopf geht wieder alles durcheinander. Den ganzen Weg zurück habe ich hin und her überlegt aber ich bekam das alles nicht auf die Reihe.

Selbst das Training hat mich nicht richtig ablenken können. Ich war mit meinem Kopf ganz woanders, ich weiß nur nicht wo. Nils lästerte rum, ich wäre verliebt, aber das war mir egal. Nein, ich bin nicht verliebt. Jedenfalls nicht in DIESEN Kerl. Aber was ich wirklich so seltsam finde, ist, warum ich trotzdem geil geworden bin. Verdammt noch mal ja, ich hätte es am liebsten sofort mit ihm getrieben. Das mit den Leuten, die vorbeikommen können, wäre mir völlig wurscht gewesen. Das habe ich eh nur gesagt, um ihn zu ärgern. Und jetzt ärgere ich mich, daß ich diese Gelegenheit verpaßt habe. Aber wenn ich das jetzt so schreibe, glaube ich, ich weiß es. Wenn wir es gemacht hätten, hätte er bestimmt von da an, mehr gewollt als nur Sex. Und das will ich nun aber wirklich nicht mit ihm. Also einen Typen für Sex und einen Typen für alles andere? Nein, das kann auch irgendwie nicht das richtige sein. Shit, ich weiß es nicht.

Sonntag, 23. Juni 1996

23. Juni

11:20
Ja, es war lustig. Nur ziemlich blau gewesen. Wir hatten gewonnen und es gab jede Menge Bier und Korn. So richtig kann ich mich gar nicht mehr erinnern, was im Einzelnen abgelaufen ist, nur daß Nils fast den Garten in Brand gesteckt hat, als er die glühende Kohle auf den Komposthaufen ausschüttete. Und daß uns Max irgendwann gegen Schluß noch unbedingt seine Pornobildersammlung zeigen mußte, die er auf seinem Computer hat. Alles grölte und lachte ab. Naja, ich hab wohl auch mitgegrölt und mitgelacht, obwohl ich diesen Riesentitten und Mösen nur abartig fand. Ich überlege mir gerade, ob schwule Parties auch so aussehen. Aber wahrscheinlich gibt es sowieso überhaupt keine schwulen Parties. So, jetzt erst mal Schluß für heute. Am Nachmittag fahren wir zur Marienburg oder wie das heißt. Naja, etwas in Familie machen.

20:10
War ganz nett. Dad hat mich heute gefragt, wie es denn mit dem Ringen läuft und wann ich denn meinen ersten Kampf habe. Ich habe ihm gesagt, daß das noch eine ganze Weile dauern wird. Mom scheint sich inzwischen auch halbwegs mit dem Gedanken abgefunden zu haben, daß ich kein Tenniscrack mehr werde. So, jetzt werde ich noch etwas für die Klausur morgen lernen und dann mal sehen, ob ich wieder so was Tolles träume.

Samstag, 22. Juni 1996

22. Juni

2:10
"Mach dich nicht so breit!" Uff, was war denn das für ein Traum? Ich kriege meinen Kopf gar nicht mehr klar. Ich lag mit Nils, Tobias, Florian und Dirk nackt in irgendeinem Bett und wir alle kuschelten und drängelten gleichzeitig, damit wir nicht rausfallen. Was war das überhaupt für ein Bett? Oh Shit, warum bin ich nur aufgewacht? Ich kenne das, es klappt nicht, daß man an der Stelle einfach weiterträumt. Aber es war sehr schön und geil.


14:50
"Na dann kannst du ja beim nächsten Mal richtig loslegen", meinte Nils, als wir aus dem Sportladen kamen. Naja, ich weiß nicht, warum man nun ausgerechnet ein Paar Schuhe für fast 200,- braucht um richtig zu ringen, aber er ist der Fachmann. Noch dazu sehen diese Teile absolut blöd aus und sind von Adidas. Es gibt keine anderen, meint Nils. Naja, dann eben so. Heute abend treffen wir uns alle bei Max zu einer kleinen Grillfete. Wird bestimmt lustig.
Mom ist zum Glück nicht ausgerastet.

Freitag, 21. Juni 1996

21. Juni

"Und wie fandest du das Konzert?"
Meine Güte, was sollte ich sagen? Tobias guckte mich erwartungsvoll an.
"Naja, nicht so meine Musik", meinte ich vorsichtig.
"Schade. Ich fand's toll."
"Ich fand es eigentlich ziemlich chaotisch."
Tobias lachte: "Na ich sehe schon, keine Ahnung von guter Musik."
Gottseidank bist du nicht schwul, dachte ich. Wir hätten uns ja wahrscheinlich schon nach einer Woche über unseren Musikgeschmack zerstritten. Wir sind hinterher noch zu ihm gegangen und ich bin wirklich überrascht, daß ich das ohne Probleme gepackt habe. Komisch, er ist einfach nur noch einer aus meiner Klasse. Und jetzt verstehe ich eigentlich gar nicht mehr, wie ich mich so in ihn verknallen konnte. Er erzählte mir, daß er bei den Johannitern ein nettes Mädchen kennengelernt hat. Ich hoffe für ihn, daß es länger hält als mit Meike.

Ich gucke mir den Zettel an, den Doris mir gegeben hat und überlege, ob ich vielleicht nicht doch hingehe. Sie hat ja recht, wenn sie meint, daß ich gar nicht weiß wie es da ist. Andererseits glaube ich nicht, daß so eine Gruppe was für mich ist. Erstmal kennen sich da alle wahrscheinlich sowieso schon ewige Zeiten und dann glaube ich, daß ich keine Lust habe, nur mit Schwulen zusammen zu sein. Vielleicht rede ich ja mal mit Boris darüber.

Donnerstag, 20. Juni 1996

20. Juni

14:45
"Ich habe mit meinem Onkel gesprochen."
Große Pause. Doris und ich tapern über den Hof.
"Du hast was?"
"Mit meinem Onkel, du weißt doch, der in Karlsruhe wohnt und auch schwul ist."
"Sag mal, bis du jetzt völlig verblödet? Ich dachte du behältst das für dich."
"Ich habe ihm nur gesagt, ich kenne jemanden bei mir in der Klasse, der ist schwul und dem es dreckig geht."
"Na toll."
"Komm, nun reg' dich ab. Er weiß weder deinen Namen noch sonst irgendwas von dir. Er meint, es gibt in Stuttgart eine schwule Jugendgruppe. Da könntest du mal hingehen."
"Was soll ich denn in einer schwulen Jugendgruppe?"
Die Unterstufler, die uns entgegen kamen guckten mich groß an. Shit, ich rede zu laut.
"Na vielleicht mit anderen über deine Probleme reden."
"Ich will aber nicht mit irgendwelchen Tunten über meine Probleme reden! Ich will einfach nur einen Typen haben, den ich liebhaben kann."
"Vielleicht lernst du den ja gerade dort kennen."
"Garantiert nicht."
"Wieso bist du dir da so sicher? Warst du vielleicht schon mal da?"
Ich weiß, ich war ungerecht zu ihr. Immerhin hatte sie sich die Mühe gemacht, mir irgendwie zu helfen. "Nein, aber ich kann mir genau vorstellen, wie das da ist. Das ist bestimmt so eine Psycho-Selbsthilfegruppe, wo alle mit Räucherstäbchen und Jasmintee im Kreis sitzen und die ganze Zeit über ihre Probleme reden. Das ist nun garantiert nicht mein Ding." Doris lachte und gab mir den Zettel mit der Adresse: "Naja, überleg es dir." Irgendwie ist sie schon toll. Ich habe den Zettel eingesteckt, obwohl ich weiß, daß ich bestimmt nicht hingehen werde. Ich stelle mir irgendwie vor, daß da lauter so Leute wie Boris rumsitzen und nur rumjammern. Aber rumjammern kann ich auch alleine.


21:20
"Hey Tim, mit DEM Ständer würde ich aber nicht in die Halle gehen", prustete Florian. "Das ist kein Ständer, der ist immer so groß!" Ich weiß gar nicht, wieso ich nicht sauer über Florians Spruch war. Was mich allerdings irritierte war, daß ich ein paar Mal bemerkte, wie Flo während des Trainings immer wieder auf meinen Schwanz starrte. Als er es mitbekam, daß ich ihn beobachtete, kriegte er einen knallroten Kopf und guckte schnell in eine andere Richtung. Nach dem Training wurde mir unter der Dusche klar, wieso. Flo hat einen ziemlich kleinen Schwanz. Ich meine, nicht daß meiner jetzt riesig wäre, aber wahrscheinlich ist Flo einfach nur ein bißchen neidisch.

Ansonsten lief das Training recht gut, obwohl Dimitri immer noch sauer guckt, aber das ist mir ziemlich egal. Samstag gehe ich mit Nils Ringerschuhe kaufen. Mom wird ausrasten, wenn sie mitbekommt, was die kosten.

Mittwoch, 19. Juni 1996

19. Juni

"Na dann los."
Ich habe es nicht mehr ausgehalten, dieses Geschmolle von Doris. Ich hab ihr gesagt, wir müssen reden. Da saß sie also in meinem Zimmer und ich meinte: "Ok, ich geb zu, ich hab Scheiße gebaut."
Ok, ich habe es nicht ehrlich gemeint, doch bisher hat es eigentlich fast immer gewirkt.
"Ach ja? Und was glaubst du plötzlich wieso?"
"Na ja, ich hätte halt nicht mit ihr rummachen dürfen, obwohl ich gar nichts von ihr will", sagte ich und fühlte mich dabei absolut Scheiße, weil ich Doris nur vorspielte, daß es mir leid tut.
"Späte Erkenntnis."
"Mein Gott, ja! Denkst du denn, das ist alles so völlig easy für mich? Woher soll ich denn wissen, wie man sich da richtig verhält?"
"Du mußt gar nichts wissen. Du sollst nur nicht mit den Gefühlen von anderen Leuten spielen."
Rumms, Volltreffer! Andererseits spielen die Leute mit meinen Gefühlen auch ständig Pingpong. Warum soll ich es anders machen? Aber so was kann ich Doris nicht sagen.
"Ich hoffe du lernst daraus."
"Ja", sagte ich gequält. So langsam ging mir ihre Moralhaltung auf die Nerven. Doris nahm mich in den Arm und drückte mich. "Du kannst", flüsterte sie mir ins Ohr, "mit so vielen Jungs rummachen wie du willst. Aber wenn ich dahinter komme, daß du es mit einem Mädchen treibst, dann erwürge ich dich." Sie lachte, aber ich glaube fast, sie hat es ernst gemeint. Aber ich habe es geschafft, mich wieder mit ihr zu vertragen. Shit nur, daß ich sie dafür anlügen mußte. Denn eigentlich bin ich immer noch der Meinung, daß ich nix Schlimmes gemacht habe. Aber ich hatte einfach keine Lust auf eine stundenlange Diskussion mit ihr.

"Was machen deine Männer?" fragte sie
"Du bist gut. Welche Männer?"
"Ich weiß es nicht, darum frage ich ja."
"Es gibt niemanden und das ist voll Scheiße."
"Irgendwann wirst du schon jemanden finden." Na toll, auf solche Sätze stehe ich ja. Sie hat ja überhaupt keine Ahnung.
"Bist du wenigstens über die Sache mit Tobias weg?"
"Ja, es ist wieder ok. Ich gehe sogar am Freitag mit ihm zu einem Jazzkonzert."
"Du hörst Jazz?"
"Nee, nicht wirklich, aber er hat mich heute gefragt und gesagt, er kennt sonst niemanden, der mitkommen würde. Er tat mir halt leid und da hab ich zugesagt."
"Ich habe doch gesagt, du sollst nicht mit den Gefühlen anderer Leute spielen."
"Meine Güte, er ist nicht schwul und ich will auch wirklich nichts von ihm und wir gehen einfach nur zusammen in ein bestimmt nerviges Jazzkonzert."
"Aber du hast gesagt, daß er dir leid tut, und daß du deshalb mit ihm hingehst. Mensch sei doch mal ehrlich mit den Leuten!"
Borrh, dieses Mädel konnte aber auch was anstrengend sein. "Ich verspreche dir, daß ich nicht mit seinen Gefühlen spiele. Sofern da überhaupt irgendwelche vorhanden sind bei ihm. Ok? Ich habe im Augenblick nämlich wirklich andere Probleme, als mir darüber Gedanken zu machen."
"Und welche?"
"Das verstehst du nicht."
"Aha, na schönen Dank auch."
"Ach komm, nun werd nicht gleich wieder sauer. Aber was bringt das denn, wenn ich dir hier was vorheule? Daß ich mich permanent in irgendwelche Hetero-Jungs verknalle, an die ich sowieso nicht rankomme. Es ist einfach nur absolut Scheiße, wenn man niemand hat, den man in den Arm nehmen kann und mit dem man kuscheln kann."
"Ich kann dir keinen herbeizaubern."
"Siehst du und genau deshalb bringt es nichts, wenn ich dich hier volljammere."
"Du kennst hier wirklich keinen anderen, der auch schwul ist?"
"Ich kannte nicht mal in Hamburg jemanden, jedenfalls nicht richtig. Hier ist höchstens dieser eine Typ aus der Oberstufe."
"Wer?"
"Er ist in der Oberstufe, aber mehr kann ich dir nicht sagen. Er hat totalen Schiß, daß jemand auch nur auf die Idee kommt, daß er schwul ist."
"Na siehst du, also kennst du doch jemanden."
"Das ist aber nun absolut nicht mein Typ."
"Ach nun bist du auch noch wählerisch."
"Was heißt denn wählerisch? Ich nehme doch nicht den Erstbesten nur weil der zufällig auch schwul ist. Du hast dir deinen Typen doch auch ausgesucht und nicht einfach irgend jemanden aus der Klasse genommen, wie Nils zum Beispiel." Ich weiß gar nicht, wieso mir plötzlich Nils rausrutschte.
"Ich hab mir niemanden AUSGESUCHT. Das ist doch nicht wie im Otto-Katalog. Es hat einfach Klick gemacht und wir beide waren hin und weg."
"Na siehst du, bloß bei mir macht es immer nur Klick in meinem Kopf und nicht bei dem anderen."
"Hat es bei Nils auch Klick gemacht?"
"Wieso ausgerechnet Nils?"
Shit, sie hatte es doch bemerkt.
"Du hast ihn eben erwähnt."
"Er war nur ein Beispiel, ich hätte auch Florian oder Walter sagen können."
Doris lachte: "Vergiß ihn! Er ist der absolute Mädchenheld, falls du es noch nicht mitgekriegt hast. Ich könnte dir auf Anhieb fünf Mädchen nennen, mit denen er schon zusammen war."
"Ja doch, ich bin ja nicht blöd." Mußte sie denn immer in irgendwelchen Wunden rumbohren?
"Wundert mich, daß du auf ihn abfährst. Ich dachte du stehst eher auf die ruhigeren Typen."
"Ich fahre nicht auf ihn ab", ich schrie sie fast an. So eine Scheiße, ich wollte es nicht zugeben.
"Ist ja schon gut, beruhige dich wieder. "Ich glaube, dir geht es im Moment echt nicht gut."
"Ach ja? Auch schon mitbekommen?"
Sie seufzte. SIE seufzte, nicht ich! Ich glaube das sagt ja nun alles.
"Wir werden schon jemanden für dich finden." Schon wieder dieses WIR. Ich werde noch mal irre. Sie nahm mich wieder in den Arm. "Halt die Ohren steif. Es wird schon", sagte sie zum Abschied. Und komisch, diesmal half es mir.

Dienstag, 18. Juni 1996

18. Juni

"Vielleicht denkst du ja mal darüber nach, was du da angerichtet hast."
Das war der einzige Satz, den Doris heute zu mir gesagt hat. Ansonsten spielt sie die entrüstete, beleidigte oder sonst was Leberwurst und guckt in die andere Richtung. Na gut, wenn sie es nicht anders will. Ich kann auch bockig sein. Flo und Max haben mir erzählt, daß Dimitri gestern noch einen Riesenvortrag gehalten hat, von wegen Ringen ist nicht Prügeln, Beherrschung und alles so was. Flo grinste: "Aber du warst echt gut, wenn du im echten Kampf auch so ringst, dann haben wir einen echten Crack in der Mannschaft." Das tat richtig gut. Aber ich weiß, daß ich das so bestimmt nicht wieder bringen werde. Ich meine, ich war wütend, ich hatte den Kopf ausgeschaltet und alles lief automatisch. Weil ich gar nicht erst nachgedacht habe. Aber wie soll das in einem richtigen Match funktionieren? Nils hat ja gesagt, daß man Fehler macht, wen man wütend auf die Matte geht. Naja, wer weiß.

Beim Krafttraining sind wir heute kaum an die Geräte rangekommen, weil die ganze Bundesliga-Mannschaft trainierte. Nils flüsterte mir immer ganz ehrfürchtig zu, so nach dem Motto 'Guck mal, das ist der und der und der hat schon soundsoviel Punkte gemacht und ist zig mal Meister von irgendwas gewesen.' Ehrlich gesagt, fand ich das nicht so aufregend, aber für Nils schien es wichtig zu sein. "Vielleicht", sagte er, als wir in die Halle gingen, "sollte ich dir keine Einzelstunden mehr geben. Du wirst mir zu gut." Ich muß wohl ziemlich blöd geguckt haben den er lachte los: "Nun guck' nicht so entsetzt. War doch nur'n Joke." Dafür glaubte er wohl, daß er mir jetzt einen tierisch komplizierten Griff zeigen muß. Wir übten und übten doch es klappte einfach nicht. Nils amüsierte sich prächtig, während ich immer frustrierter wurde. Nach einer Stunde hatte aber selbst er genug. "Dasch bagge mer scho", sagte er aber ich bin mir da nicht so sicher. "Na dann mal ab auf die Waage, mal sehen in welche Gewichtsklasse wir dich bringen." Eigentlich wollte ich ihm sagen, daß er endlich dieses "wir machen das und das mit dir" lassen soll, aber ich wollte nicht schon wieder Streß machen. Auf der Waage bin ich fast in Ohnmacht gefallen: 60 kg!!! "Kein Wunder, du hast Muskeln aufgebaut."
"Aber fünf Kilo?!"
"Du mußt halt aufpassen, was du ißt, sonst siehst du irgendwann so aus wie Silvio." Na schönen Dank auch. "Hast du eigentlich inzwischen Trikots?"
"Nee, woher denn?"
"Na dann komm mit, du kannst erst mal zwei alte von mir haben. Ich habe letzte Woche neue bekommen."
Also taperten wir zu ihm. Irgendwie ahnte ich schon was mich erwartete, denn auf dem Weg zu ihm klopfte mein Herz wie wild und ich hatte einen tierischen Kloß im Hals.
Immer noch kein Stuhl in Nils Zimmer. Ich frage mich, wo er überhaupt Hausaufgaben macht. Nils wuselte rum, kramte in seinem Schrank und warf mir zwei Trikots zu: "Ein Blaues und ein Rotes. Müssen dir eigentlich passen. Probier mal."
Shit, warum habe ich das überhaupt mitgemacht? Ich meine, wenn wir zusammen in der Umkleide sind, dann geht es, weil eigentlich immer irgend jemand da ist und ich an was anderes denken kann. Aber jetzt merkte ich, wie ich einen Ständer bekam. Zum Glück meinte er: "Ich bin mal kurz in der Küche, was willst du trinken?"
"Irgendeinen Saft", antwortete ich und er zog ab. Puhh, mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich hörte, wie er in der Küche rumorte und ich saß auf dem Boden, mit diesen beiden Stoffetzen in der Hand und kämpfte mit mir. "Und passen sie?" rief er von unten. "Ja!" rief ich zurück während ich immer noch auf dem Boden saß. Mein Gott, was bin ich feige. Wäre das nicht die Gelegenheit? Aber wie würde er reagieren, wenn er reinkommt und ich stehe da halbnackt mit einem Ständer vor ihm? Ich hörte ihn die Treppe hochkommen. Wenigstens die Schuhe zog ich mir schnell aus. "Oh, du bist ja schnell", sagte er verwundert. Ich guckte ihn genau an. Nein er war nicht enttäuscht, er guckte wirklich nur verwundert und zog die Stirn kraus. "Naja, ich mach ja hier keine Modenschau", was Besseres fiel mir nicht ein. "Und du brauchst sie wirklich nicht mehr?"
"Nee, ich hab haufenweise und ich hab ja gesagt, ich hab noch zwei neue." Er kramte wieder in seinem Schrank. "Sieht ja aus wie ein Strampelanzug mit den langen Beinen", prustete ich los.
"Hä? Was meinst du?"
Ich war plötzlich so albern, daß mir erst hinterher auffiel, was ich sagte: "Naja, die mit dem kurzen Bein sehen einfach geiler aus." Ich hätte mir auf die Zunge beißen können. Shit, was hatte ich denn da gesagt? Zum Glück zuckte Nils nur mit den Schultern und sagte: "Na wenn du meinst." Uff, noch mal Glück gehabt. Dann haben wir noch eine Weile gequatscht und dann bin ich nach Hause gezogen.

Jetzt liege ich auf meinem Bett und stelle mir vor, was hätte passieren können, wenn ich nicht so ein verdammter Feigling gewesen wäre. Aber wenn ich mir überlege, wie Nils reagiert hat, dann kann es auch sein, daß ich es völlig richtig gemacht habe. Wenn er wirklich schwul wäre, dann wäre er nicht aus dem Zimmer gegangen. Ach Shit, über was denke ich hier eigentlich nach? Er ist ein Hetero, der irgendwelche Mädels fickt, die er in der Disco kennengelernt hat. Ich glaube es ist höchste Zeit, daß ich ihn mir aus dem Kopf schlage. Jedesmal wenn ich jemanden Niedliches sehe, dann suche ich fieberhaft nach Zeichen, ob er schwul ist. Das kann ja nicht mehr normal sei. Die Trikots riechen nicht nach Nils sondern nach irgendeinem Waschmittel. Ich werde mal eines anprobieren.

Ja, es paßt gut. Nur muß ich höllisch aufpassen. Wenn ich da drin einen Ständer bekomme, sieht es jeder sofort. Ich glaube ich werde es die Nacht über anlassen.

Montag, 17. Juni 1996

17. Juni

15:05
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Ich habe Doris heute von Stefanie erzählt, und sie hat voll hysterisch reagiert: »Wie kannst du nur dieses arme Mädchen so hinters Licht führen?« Ich verstand überhaupt nicht, was sie meint. »Aber sie hat mich angerufen und sich mit mir verabredet, sie hat angefangen mit dem Rumknutschen.«
»Dazu gehören immer noch zwei. Warum hast du dich denn überhaupt mit ihr verabredet?«
Damit stapfte sie wütend weg und war für den Rest des Tages nicht mehr ansprechbar. Ich habe sie ein paarmal in der Stunde versucht anzuquatschen, aber sie hat nur das Gesicht verzogen und woanders hingeguckt. Ich verstehe das echt nicht. Ich meine, was kann ich denn nun dafür, daß diese Ziege plötzlich so hysterisch reagiert. Es war doch wirklich so, daß mich angerufen hat. Ich wäre doch nie auf die Idee gekommen, irgendwas mit ihr zu machen, wenn sie nicht angefangen hätte. Und Doris' Reaktion verstehe ich nun auch nicht. Was ist denn plötzlich mit den Leuten allen los? Ich überlege, ob ich Doris noch mal anrufen soll. Aber so, wie sie vorhin war, will sie bestimmt nicht mit mir reden. Ist doch alles irgendwie Scheiße!


22:10
»Coach, können sie nicht mal Tim für das Regioturnier aufstellen?« Ich dachte, ich höre nicht richtig. Ich starrte erst Nils und dann Dimitri an. Zum Glück schüttelte er nur den Kopf: »Das ist zu früh. Nach den Ferien. Nicht früher.« Nils grinste frech.
»Bist du völlig verblödet?« schrie ich ihn an, »ich kann meine Sachen sehr gut selbst regeln!« Nils grinste immer noch: »Anscheinend nicht, jetzt weißt du wenigstens, worauf du hinarbeiten kannst.« Ich war stinksauer. Was bildet dieser Idiot sich eigentlich ein, hier irgendwelche Entscheidungen für mich zu treffen? Was mich am meisten aufregte, war, daß Nils das auch noch lustig fand. Dann bin ich irgendwie ausgerastet und ging auf ihn zu. Er konnte gerade noch aufstehen, aber da war ich schon bei ihm. Ich erwischte seinen rechten Arm, schaffte es, hinter ihn zu kommen, hob ihn aus und beförderte ihn auf die Matte. Tja, Nils, danke, daß wir das beim letzten Mal so gut geübt haben. Mit einem Nelson schulterte ich ihn und guckte in sein völlig erstauntes Gesicht. »Nicht schlecht«, pustete er, »gar nicht schlecht. Aber ich glaube, du kannst wieder von mir runtergehen. So auf Dauer bist du ein bissele schwer.« Als ich mich wieder hochgerappelt hatte, stand Dimitri plötzlich vor mir: »Was soll denn das? Wenn du dich prügeln willst, dann kannst du woanders hingehen. Hier wird nur gekämpft, wenn ich das sage. Ab!« Er zeigte in Richtung Umkleide: »Für dich ist heute das Training zu Ende.«

Ich merkte, wie ich einen knallroten Kopf bekam. Ich guckte nicht nach links oder rechts und verschwand in der Umkleide. Scheiße, ich glaube wirklich, jetzt sind alle Leute völlig abgedreht. Nils kam rein und baute sich vor mir auf: »Du warst gut, Kleiner.« Er lachte, und seine Augen leuchteten. Von einer Sekunde auf die andere war meine Laune wieder o.k. »Du warst sogar sehr gut. Du hast zwar das Überraschungsmoment ausgenutzt, aber was soll’s.«
»Ich war stinksauer auf dich, und vielleicht bin ich es noch.«
Nils legte seine Hände auf meine Schultern: »Das habe ich gemerkt. Aber wenn du wütend bist, machst du Fehler. Gut, vielleicht gerade eben nicht. Aber irgendwann. Wenn du wütend auf deinen Gegner bist, mußt du höllisch aufpassen. Entweder machst du Fehler oder wirst unfair.«
»Schon klar. Ist mit dir alles o.k.?«
»Mit mir? Mich haut so schnell nichts um. Und was die andere Sache betrifft ...«
Komisch, noch vor fünf Minuten hätte ich ihn angebrüllt, aber so wie er da vor mir stand, sagte ich nur noch leise: »Ich mag es nun mal nicht, wenn jemand glaubt, über mich bestimmen zu müssen.«

Er guckte mich an. Dieser Blick! Ich werde noch mal wahnsinnig. Ich versinke in seinen Augen! Ich liebe diese Momente, und gleichzeitig habe ich Angst davor. »Manche Leute«, sagte er, ohne den Blick zu lösen, »muß man eben zu ihrem Glück zwingen.« Dann schlug er mir leicht auf den Kopf und meinte: »Komm, machen wir Schluß für heute. Wir wär's mit Burger?«
»Und dein Training?«
»Ach, was soll's, Dimitri wird zwar toben, aber das ist mir egal. Bis zum nächsten Mal hat er's vergessen.«
»Meinst du?«
»Na klar, und deine Sache auch.«
Wir taperten zu McDonald's, und Nils fragte nach Stefanie.
»Vergiß es«, antwortete ich.
»Wieso? Was ist denn passiert?«
»Nichts ist passiert, das ist es ja gerade.«
»Laß mich raten, entweder wollte sie nicht, oder sie hatte ihre Tage.«
»Das erste.«
Nils' Stimme schraubte sich drei Oktaven höher: »Ach du, das ist mir ja viel zu früh. Wir kennen uns doch gar nicht richtig. Ich will einen Jungen erst mal richtig kennenlernen, bevor ich etwas mit ihm mache.«
Ich prustete so heftig los, daß ich mich fast verschluckte. »So etwa, nur daß sie angefangen hat, und als es dann ein bissele weiter ging, ist sie plötzlich ausgerastet.«
Nils grinste: »That's the way it is, boy. Vergiß sie einfach.«
»Das hab ich schon. Was ist denn mit deinem Mädel?« Mir fällt auf, daß ich ihren Namen vergessen hatte.
»Finito.« Er schien nicht sonderlich traurig darüber zu sein.
»Und wieso?«
Er zuckte mit den Schultern: »Was weiß ich, ich fand's einfach langweilig mit ihr.
Außerdem sind ihre Freundinnen total bescheuert.«
»Und jetzt?«
»Jetzt geht's auf zur nächsten Runde«, sagte er und ging zur Theke, um sich noch eine
Portion Pommes zu holen. Ich weiß nicht, ob er das mit nächster Runde meinte.

Sonntag, 16. Juni 1996

16. Juni

1:25
»Hi, du bist ja wirklich da.«
Na, was hat sie denn gedacht? Obwohl ich eigentlich am liebsten gleich wieder umgedreht wäre, als ich sie aus dem Bus steigen sah. Dieses Mädel hatte sich bis zum Gehtnichtmehr total geschminkt. Na toll, und mit der tauche ich in der Tofa auf. Wenn mich Nils sieht, dachte ich. Der meinte aber nur irgendwann am Abend so was wie: »Wow, hätte ich dir gar nicht zugetraut« und war dann wieder verschwunden.
Komisch war nur, daß er alleine da war und nicht mit seinem Bierdeckel-Mädel. Hab' ich da irgendwas versäumt? Jedenfalls sieht er verboten aus mit seinem Auge.
Na ja, der Abend war am Anfang noch ganz nett. Die Musik war nicht ganz so bekloppt wie beim letzten Mal. Und hinterher saß ich mit Stefanie in einer ruhigen Ecke, und wir haben richtig gut miteinander gequatscht. Nils ließ sich den Rest des Abends nicht mehr blicken. Dann habe ich sie noch zum Bus gebracht, und wir haben uns für heute Nachmittag zum Spazierengehen verabredet.


18:10
»Und hier wohnst du?« Es war wirklich völlig ohne Absicht. Wir taperten durch die Stadt, durch den Park, gingen an meiner Schule vorbei und irgendwelche Straßen lang, die ich noch nicht kannte, und plötzlich standen wir vor unserem Haus. Mir fiel nichts besseres ein, als zu sagen: »Huch, ich bin ja schon zu Hause.«
»Sieht nett aus.«
»Ja ist ganz o.k.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Na ja, irgendwie mußte ich sie jetzt wohl fragen, ob sie mit hoch kommen will. »Ja, na klar, gerne.« O.k., dachte ich, dann sieht Mom wenigstens, daß ich hier mit einem Mädel durch die Stadt ziehe, und kommt nicht auf dumme Gedanken. Nur war dummerweise niemand zu Hause. Auf dem Eßtisch lag ein Zettel »Sind zur Marienburg!« Dann eben nicht. Wir quatschten und hörten Musik, wobei sie einen völlig uncoolen Musikgeschmack hat und ständig irgendwas von Take That hören wollte. Dann rutschte sie irgendwie immer näher an mich ran, legte ihre Hand auf meine Schulter, kicherte und guckte mir in die Augen. Himmel, was sollte das denn jetzt. Ich wußte wirklich nicht, wie, aber plötzlich küßte ich sie. Es war ganz automatisch. Sie streichelte mir über den Kopf. Ich wußte nun wirklich nicht, was ich machen sollte. Ich stellte mir vor, es wäre Nils, und plötzlich schien es zu klappen.

Ich bekam sogar einen Ständer. Wir knutschten noch ein bißchen rum, und dann war ich der Meinung, daß das jetzt ja nun irgendwie weiter gehen muß. Also ging ich mit meiner Hand unter ihr T-Shirt und begann ihren Busen zu streicheln. Plötzlich stieß sie mich weg und schrie mich an: »Was fällt dir eigentlich ein?! Du bist ja ein totales Schwein!« Ich saß völlig baff da. Ich glaube, so verdattert war ich bisher noch nie. Was war denn plötzlich mit ihr los? Sie sprang auf, zog sich das T-Shirt runter und brüllte total hysterisch so was wie: »Schwein, Drecksau, Penner!« Dann rannte sie raus, und ich hörte unten die Tür zufallen. Ich saß da und habe bestimmt eine halbe Stunde lang die Wand angestarrt. Mein Gott, was war denn passiert? Was hatte ich denn Schlimmes gemacht? Ich bin noch mal Stück für Stück durchgegangen, aber mir fiel wirklich nichts abartiges ein. Dann bekam ich plötzlich den totalen Lachanfall. Und ich beschloß, daß dieses Mädel einfach nur total daneben ist. Ich riß die Fenster auf, überall hing dieser Geruch von ihrem Parfum in meinem Zimmer und in meiner Nase.

Als ich aus der Dusche kam, kamen gerade Mom, Dad und Lisa zurück. »Wie oft am Tag duschst du eigentlich noch?« fragte Mom. »Ich komme gerade vom Joggen«, sagte ich. Diese Szene mit Stefanie konnte ich ihr nun wirklich nicht erzählen. Aber ich würde am liebsten Nils anrufen und ihn fragen, ob das so üblich ist. Dann könnte ich ihn richtig ein wenig bedauern. Aber das würde nun absolut blöd aussehen. Also lasse ich es lieber und spiele noch ein bissel am Computer.

Samstag, 15. Juni 1996

15. Juni

20:05
»Cool, du bist nachher auch in der Tofa?« fragte Nils.
»Yo, ich gehe mit Stefanie hin.«
»Wer ist denn das?«
»Ach so ein Mädel, das ich auf ner Party kennengelernt habe.«
»Ohoo. Und wie ist sie?«
»Woher soll ich denn das wissen? Ich habe sie doch erst einmal gesehen.«
»Na dann, bis später,« grinste er und rauschte zur Umkleide. Es war ein Heimkampf, und eigentlich hätten wir ja haushoch gewinnen müssen. Ich jedenfalls habe mich total heiser geschrien. Aber irgendwie fehlte den Jungs heute was. Die einzigen, die Punkte machten, waren Silvio und Nils. Und der holte sich auch noch kurz vor Schluß ein total blaues Auge. Als er nach oben auf die Tribüne kam, hielt er sich ein Gelkissen vors Auge.
»Wow, du wirst morgen bestimmt total cool aussehen.«
»Ach, das ist doch gar nix, das geht wieder weg.« Mir wurde fast schlecht, als er die Kompresse abnahm. Alles war total dick, vom Auge war fast nichts mehr zu sehen.
»Das soll weggehen? Ich finde, du solltest zum Doktor gehen.«
»Blödsinn, das tut nicht mal weh.« Er schien auf das Ding auch noch stolz zu sein.
»Kommst du noch mit zu mir?«
Shit, das hätte ich so gerne gemacht. Aber ich habe Stefanie versprochen, sie am Bus abzuholen. »Ach jaaaaa,« grinste er, »deine neue Flamme.« Eigentlich hätte ich ihm noch das andere Auge blau schlagen sollen, aber er war schon außer Reichweite. Was mache ich hier bloß? Ich habe eine Date mit einem völlig uninteressanten Mädel und lasse dafür einen Abend mit Nils sausen. Na ja, was soll’s. Ich hätte wahrscheinlich sowieso wieder nur schmachtend dage-sessen, während er halbnackt durch sein Zimmer rennt. Vielleicht ist es ja besser so. Ich glaub, ich werde heute mal im Skaterlook gehen.

Freitag, 14. Juni 1996

14. Juni

»Das ist eine Riesenschweinerei so was«, tobte Alfinger, als wir heute zum Sport kamen. Erst wußte keiner so richtig, was los war. Aber innerhalb von zwei Stunden wußte die ganze Schule, was passiert war. Alfinger hatte, kurz bevor wir Sport hatten, zwei Jungs erwischt, die zusammen unter der Dusche gewichst haben. Es gab wohl einen Riesenterz so mit Direktor und allem Blabla. Na toll, das schien sich ja richtig zur Wir-machen-mal-die-Schwulen-fertig-Woche zu entwickeln. Natürlich gab es jede Menge dummer Sprüche von den anderen, auch von Nils, was mich ziemlich ankotzt. Und als Krönung ging keiner nach der Stunde unter die Dusche.

Das wirklich Spannende an der Sache war, daß niemand wußte, wer die beiden denn nun eigentlich waren. Absolute Nachrichtensperre. Ich guckte in der Pause auf die Stundenpläne. Aber das brachte mich auch nicht weiter, zwei Neunte hatten vor uns Sport, also war es wohl einer von denen. Aber wer? Ansonsten wurde das Thema absolut totgeschwiegen. Zwar wußte jeder Bescheid, was passiert war, aber niemand redete mit dem anderen darüber. Ich fragte Doris nach der Schule, was sie glaubt, was mit den beiden passiert, aber sie sagte nur: »Wahrscheinlich nichts, man wird mit ihren Eltern reden, aber mehr auch nicht. Das will doch keiner hier an die große Glocke hängen.«

Wahrscheinlich hat sie recht. Shit, wie fühlen sich die beiden jetzt bloß? Ich glaube, ich würde sterben, würde mir eine andere Schule suchen, weit, weit weg, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen.

Oh, Telefon. Na toll, diese Stefanie von Benjis Vereinsfest hat gerade angerufen. Und ich Idiot verabrede mich auch noch morgen mit ihr in der Tofa. Vielleicht sollte ich sie noch mal anrufen und absagen. Aber das sieht dann auch absolut blöd aus. Na gut, dann also morgen wieder eine Runde Dorfdisco. Und dann noch mit einem Mädel.

Donnerstag, 13. Juni 1996

13. Juni

»Heute gibt es mal ein etwas anderes Training.«
Statt Dimitri war heute Werner, der Trainer der 1. Männermannschaft, da. Kein Rumgebrülle wie in der Kaserne, das war ganz o.k. Außerdem hat er uns die Griffe absolut super gezeigt, aus allen Lagen und Stellungen. Aber es war tierisch anstrengend. Zuerst habe ich es gar nicht gemerkt, aber es wurde immer heftiger, und nach drei Stunden waren wir alle total fertig, sogar Nils.

»Das war etwa ein Zehntel von dem, was wir in der Ersten machen.«
Ach ja? Na toll, ich wollte sowieso nicht in die Bundesliga. Ich frage mich, wie man so was überhaupt aushalten kann. Ich saß völlig ausgelaugt auf der Bank in der Umkleide, als Nils reinkam. Er schien wieder total frisch zu sein, beneidenswert: »Don't say we didn't warn you!«
»Ach ja?« Ich bekam einen Hustenanfall.
»Na ja, wird schon, war wirklich heftig heute.«
Florian kam rein: »Tim! Du sollst noch mal reinkommen.«
Ich guckte Nils an, aber der zuckte nur mit den Schultern: »Keine Ahnung, vielleicht darfst du die Matte fegen.«
»Du bist der Neue, stimmt's?« fragte Werner.
»Na ja, nicht mehr ganz so neu.«
»Aber du hast vorher nie irgendeinen Kampfsport gemacht, oder?«
»Nein!«
»Na o.k., dann zeige mir mal, was du bisher gelernt hast.«
»Wie jetzt?«
»Na, du sollst mich mal angreifen.«
Ich dachte echt, der Typ hat ein Rad ab. Er war doch mindestens 30 Kilo schwerer als ich und der absolute Crack. Ich stand da und hatte tierisch Schiß.
»Wenn du nicht angreifst, dann greife ich eben an.«
Ich ging zurück und er schob mich quer über die Matte. Ich wußte überhaupt nicht, was ich überhaupt machen sollte, ich hätte bei diesem Koloß nie irgend einen Griff ansetzen können.
»O.k., lassen wir das«, sagte er und setzte sich hin. »Was ist Ringen?«
»Ausdauer, Kraft und Technik«, leierte ich runter, das hatte ich von Nils schon oft gehört.
»Aber zuerst ist es ganz etwas anderes.«
Ich schwieg, weil ich nicht wußte was er sagen wollte.
»Das erste beim Ringen ist, daß du deine Angst überwinden mußt.«
»Welche Angst?«
»Die Angst vor deinem Gegner, die Angst vor dem Kampf, die Angst vor der Auseinandersetzung.«
»Hmmm.«
»Wovor hast du Angst?«
Das werde ich dir gerade auf die Nase binden, dachte ich, aber ich sagte: »Ich weiß nicht.«
»Angst ist wichtig. Sie schützt uns, denn sie läßt uns in bestimmten Situationen vorsichtig handeln. Aber Angst kann dich auch lähmen, sie kann dich total blockieren. Und erst wenn du es schaffst, im richtigen Moment deine Angst zu überwinden, bist du wirklich ein Ringer. Es ist völlig egal, wie groß und schwer dein Gegner ist, wieviele Titel er hat. Du musst rausgehen auf die Matte und das alles vergessen. Wenn du das kannst, wird dir das auch im Leben draußen viel helfen. So, und zum Schluß der Vorlesung zeige ich dir noch mal an einem praktischen Beispiel, was ich meine. Hole noch mal einen von den Jungs raus.«
Ich taperte in die Umkleide. Nils nur im Boxershorts stand vor mir. O.k., Nils, dachte ich, jetzt kommt deine Stunde der Angst: »Du sollst noch mal rauskommen.«
»Etwa so? Und wofür überhaupt.«
Diesmal zuckte ich mit den Schultern: »Vielleicht zum Mattenfegen.«
Er zog sich sein Trikot über und ging mir hinterher.
»O.k.«, sagte Werner, »dann paß mal gut auf.« Und zu Nils sagte er nur: »Standkampf.«
Und Nils griff an. Einfach so, ohne zu zögern griff er diesen Riesen an. Nils hatte keine Chance, aber er war nicht schlecht, und er gab nicht auf. Mir dämmerte, was Werner sagen wollte. Als sie fertig waren, sagte er zu mir: »Das war sozusagen nur die Einführung. Denk einfach ein bissele drüber nach.«
»Was war denn?« fragte Nils, als wir wieder in der Umkleide waren. Die anderen waren schon weg.
»Er hat mir was erklärt.«
»Und was?«
»Ich weiß nicht, ich glaube, ich muß erst mal darüber nachdenken.«
Nils guckte mir in die Augen. Es war wieder dieser Blick, in den ich versinken konnte.
Was hatte Werner eben gesagt? Keine Angst? Verdammt noch mal, ja, ich könnte Nils jetzt einfach umarmen, ihn küssen. Vielleicht würde das alles viel einfacher machen. Shit, aber nein.
»Na, dann denk mal nicht zu lange nach«, riß mich Nils aus meinen Gedanken, »die anderen sind schon in der Pizzeria.«
»Geh' schon mal, ich komme nicht mit.«
Nils zog die Stirn kraus: »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja! Wirklich! Ich muß heute nur über was nachdenken.«
»Na o.k., wir sehen uns morgen.« Nils verschwand.

Meine ganz eigene Liste:
Wovor ich Angst habe:
– Daß jemand rauskriegt, daß ich schwul bin
– Niemanden zu haben
– Daß jemandem aus meiner Family was passiert
– Alleine zu sein

So ein Mist, das hat doch alles nichts mit dem Ringen zu tun, also noch mal:
Wovor ich Angst habe:

– Schmerzen zu haben
– Mich zu verletzen
– Mich zu blamieren
– Nicht mehr zu wissen, wie es weitergeht
– Zu verlieren

O.k., aber was macht man jetzt dagegen? Das hätte ich Werner eigentlich fragen müssen.

12. Juni

»Wie lange willst du denn noch unter der Dusche bleiben?«
Na ja, es war ein Versuch. Aber Benji hat überall hingeguckt, nur nicht dahin, wo er sollte oder wo ich gehofft habe. Statt dessen war er fast die ganze Zeit damit beschäftigt, vom Sprungtrum per Salto oder sonst was ins Wasser zu fallen. O.k., abgehakt.

Gerade mit Doris telefoniert. Sie hat sich noch mal für gestern entschuldigt. Ich habe ihr das von Benji heute erzählt. Das heißt, ich hab natürlich nicht seinen Namen genannt. Doris fragte mich was ganz Komisches: »Teilst du eigentlich alle Jungs in zwei Kategorien ein?«
»Was für Kategorien?«
»Na schwul und nicht schwul.«
Shit, ist mir noch gar nicht aufgefallen, aber vielleicht hat sie recht.
»Ich kenne hier gar keine Schwulen«, log ich
»Das war nicht meine Frage.«
Mist, sie ist hartnäckig. Ich sagte ihr, daß ich darüber eine Weile nachdenken muß. Und wenn ich es mir richtig überlege, ist es wirklich so. Aber nicht immer. Ich glaube, es ist nur so, wenn ich einen Jungen süß finde. Dann will ich unbedingt wissen, ob er schwul ist oder nicht. Nur leider sind gerade die süßesten Jungs eben nicht schwul und dann werden sie halt abgehakt. Oje, das klingt ja jetzt komisch. Ich meine, das heißt ja jetzt nicht, daß ich nichts mehr mit ihnen zu tun haben will, aber sie sind eben nicht mehr so interessant. Was aber vielleicht auch gar nicht so schlecht ist. Ich überlege gerade, was wäre, wenn so ein niedlicher Typ wirklich mal schwul ist und er dann genauso wenig von mir wissen will wie ich von Boris. Aber ich glaube, darüber mache ich mir jetzt lieber keine Gedanken, sonst werde ich noch absolut paranoia. Ich muß mal Nils fragen, wie das bei den Heten läuft. Ob das da auch so kompliziert ist?

Dienstag, 11. Juni 1996

11. Juni

»Wir machen im Oktober eine Studienfahrt«, überraschte uns Körber heute morgen.
Wow, eine Projekt-Studienfahrt von Bio, Deutsch und GK, na ja, das ist ja nicht so spannend, aber was eben doch cool ist: Wir fahren nach Sylt! Yeah! Ein paar haben natürlich gemotzt, weil wohl andere aus der Schule nach Rom fahren, aber ich finde es cool. Nils findet es überhaupt nicht spannend: »Du warst wohl noch nie auf Sylt, was?« fragte ich ihn.
»Nein. Wir fahren eigentlich in den Ferien immer zum Skilaufen.«
»Ich hasse Berge, und ich hasse Schnee.«
»Gibt's in Hamburg koi Schnee?«
»Natürlich, aber Schnnee ist doch voll eklig, Mann. Immmer ist alles matschig und dreckig.«
»In den Bergen nicht.«
»Pff, auf Berge muß man erst mal raufkommen.«
»Bist du blöd, dafür gibt's Lifte.«
»Ja, aber nur, um dann möglichst schnell wieder nach unten zu fahren.«
»Und was gibt's auf Sylt? Bestimmt nur Sand und Wasser.«
»Ist doch cool, man kann schwimmen, am Strand in der Sonne liegen.«
»Na klar, im Oktober.«
Na ja, da hatte er nun wirklich recht. Aber was soll's. Cool ist es trotzdem.
In Musik hat Doris einen völlig abartigen Spruch abgelassen. Wir haben über irgendwelche Komponisten gesprochen, und Doris blökte plötzlich laut raus: »War er schwul?«
Totenstille. Ich guckte sie nur völlig baff an.
»Nee, Schwule machen andere Musik«, meinte Lehmann, »weiche, tuffige Musik.«
»Anstatt brutaler, atonaler, disharmonischer Musik. Stimmt, das können nur Heteros.«
»Schwule machen nur anale Musik, nicht atonale.«
Alles grölt, es klingelt. Na toll.
»Sag mal, was sollte denn das eben?«
»Kam mir gerade so in den Sinn.«
»Echt krass, die Antwort von der Lehmann, und alle grölen mit.«
»Hätte ich auch nicht gedacht, daß die so drauf ist.«
»Vielleicht sagst du das nächste Mal, wenn dir so was in den Sinn kommt, lieber gar nichts.«

Ich war ziemlich sauer. Eigentlich nicht so sehr auf Doris, sondern auf die Reaktion von Lehmann und den anderen. So sieht das dann nämlich aus. »Ich dachte halt, es wäre eine gute Gelegenheit, das Thema mal aufzubringen.«
»Aber doch nicht so! Du siehst ja, was hier für ne Stimmung herrscht.«
»Ja, isch schon gut.« Sie nahm mich in den Arm und drückte mich: »Es tut mir leid.« Danach ging's mir etwas besser.

Na, wenigstens war es beim Krafttraining heute o.k. Ich konnte wieder ein paar Gewichte höher gehen, und ich finde, meine Brustmuskeln sehen schon ziemlich gut aus. Nils war jedenfalls wieder ganz der alte. Wir üben jetzt immer nur einen Griff pro Session und den bis zum Umfallen. Nils meint, man muß den Bewegungsablauf ins Gehirn einbrennen. Na ja, o.k., er ist der Fachmann, Hauptsache es bleibt danach noch was anderes drin in meinem Kopf. Ansonsten habe ich noch mit Benji telefoniert. Ich weiß gar nicht, wieso, plötzlich hatte ich die Idee, mit ihm schwimmen zu gehen. Yo, wir treffen uns morgen.

Montag, 10. Juni 1996

10. Juni

»Los, in die Mitte!«
Dimitris Finger zeigte auf den inneren Mattenkreis. Na toll, wieder so ein Showkampf. »Nils!« Shit, warum denn schon wieder Nils? Hätte er nicht irgend jemanden anderes nehmen können, Florian zum Beispiel. Wahrscheinlich wäre mir sogar dieser Schwergewichtsidiot Silvio lieber gewesen als Nils. Aber nein, Dimitri war unerbittlich. Ich versuchte, mir alles noch mal ins Gedächtnis zurückzuholen, was er mal gesagt hatte: Nicht in die Augen gucken, keine Angst zeigen. Ich versuchte es. Nur wie soll ich beobachten, was jemand macht, wenn ich ihn nicht richtig angucken kann? Jedenfalls schaffte ich es, unter Nils durchzutauchen und ihn von hinten auszuheben und auf die Matte zu befördern. Plötzlich war ich voll in meinem Element und ließ mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn rauffallen. Ich hörte, wie er schwer pustete, aber es war mir egal. Ich dachte nur: Ich krieg' dich, diesmal kriege ich dich und setze einen Seiteneinsteiger an. Ich hatte ihn fast auf den Schultern. Dummerweise lag mein eigener Arm im Weg, und als ich versuchte, ihn rauszuziehen, konterte Nils, umklammerte mich so fest, daß mir die Luft wegblieb und drehte mich wie ein Baby auf den Rücken.

»Nicht schlecht«, schnalzte Dimitri, aber mir war nicht so ganz klar, ob er damit Nils oder mich meinte. Nils grinste. »Du bist richtig gut geworden«, meinte er später in der Umkleide.
»Danke, ich hab auch einen guten Privattrainer.«
»Morgen wieder?!« Es war eher ein Befehl als eine Frage.
»Yo!«
»In zwei Monaten hab ich dich soweit, daß du deinen ersten Wettkampf machen kannst.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt schon will.«
Nils hörte auf zu grinsen: »Paß mal auf ...!« Er zog mich am T-Shirt aus der Umkleide zurück in die Halle und schleuderte mich gegen die Wand: »Was glaubst du eigentlich, wofür du hier bist, hä?« Ich war so verdattert über seinen Gefühlsausbruch, daß ich mich überhaupt nicht wehren konnte.
»Du wirst in der Mannschaft ringen, und wenn es nur die Zweite ist. Aber ich krieg' dich schon dahin, und wenn ich es in dich reinprügeln muß.« Was war denn nun wieder mit ihm los? Und dann sagte er noch etwas ganz komisches: »Wenn du dich nur mit anderen Jungs auf dem Boden rumwälzen willst, dann such' dir was anderes, aber nicht diesen Verein hier!« Damit ließ er mich stehen und stapfte zurück in die Umkleide. Ich klebte immer noch an der Wand und überlegte, was er mit dem letzten Satz gemeint hatte. Oh Shit, weiß er irgendwas? Hat er irgendwas mitbekommen? Als ich zurück in die Umkleide kam, war er wieder ganz der alte: »Na? Wieder alles o.k. mit dir?«
Eigentlich hätte ich jetzt auf total sauer machen müssen, aber es ging einfach nicht, also sagte ich so was wie: »Ja, vielleicht hast du ja recht.«
»Ich habe immer recht«, grinste er.

Verdammt, was hat er mit seinem Satz bloß gemeint? Am liebsten würde ich ihn anrufen und fragen. Aber das würde absolut bekloppt aussehen. Shit, weiß er etwa, daß ich schwul bin? Aber woher sollte er es wissen? Vielleicht muß ich in Zukunft mehr aufpassen, was ich sage und wohin ich gucke.

Sonntag, 9. Juni 1996

9. Juni

15:10
»Kannst du vielleicht einmal vorher Bescheid sagen oder anrufen, wenn du wieder mal eine ganze Nacht wegbleibst?«
Mom und Dad sind sauer. Meine Güte, hätte ich sie mitten in der Nacht um 3 Uhr anrufen sollen? Na schönen Dank.

Degendorf ist das absolute Kaff. Wenigstens kann man sich da nicht verlaufen. Wahrscheinlich war das ganze Dorf zum Vereinsfest, jedenfalls kannte jeder jeden. Na ja, und es waren nicht nur Ringer da, sondern scheinbar alles, was in dem Verein so rumrennt, Fußball, Turnen, Tischtennis. Ich kam mir am Anfang schon etwas blöd vor, weil das Ganze schon voll im Gange war und ich niemanden kannte. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich Benji gefunden hatte. Als er mich sah, stürmte er auf mich zu, hob mich hoch, drehte mich ein paar Mal herum und grölte: »Hey, unser Neuzugang aus Bergbach!« und ließ mich dann wieder runter. Ich wußte nicht, ob ich das komisch finden sollte oder sauer war. Na ja, so wußte nun mindestens die Hälfte der Leute, wer ich war. Irgendwie müssen mich alle wohl für den absoluten Exoten gehalten haben: Wow, Bergbach. Aber sie haben ziemlich verdattert geguckt, als ich erzählt habe, daß ich noch gar keinen Wettkampf mitgemacht habe und nicht schon mal irgendein Meister von irgendwas geworden bin. So wie Benji, der wohl schon zigmal Württembergischer Meister geworden ist. Pff, na und? Dann begann mich Benji irgendwelchen Mädels aus der Turnabteilung vorzustellen. Die kicherten nur blöde, und ich wäre am liebsten wieder abgehauen. Doch er plazierte mich neben einer dickbusigen Blonden und meinte, ich solle sitzenbleiben, er würde gleich was zu essen bringen. Meine Gott, kam ich mir blöd vor. Das Mädel, Stefanie, stellte wieder mal die üblichen Standardfragen. Na ja, es ging dann doch, wir unterhielten uns eine ganze Weile. Nur Benji kam natürlich nicht wieder zurück. Und so zottelten Stefanie und ich dann selber los, um was Eßbares und was zu trinken aufzutreiben. Irgendwann begann dann diese sogenannte Jugenddisco unter freiem Himmel. Na ja, das war ja nun der absolute Krampf. Das Erwachsenenvolk hatte sich allmählich abgesetzt, und der Möchtegern-DJ spielte nur so einen Mist wie »Macarena« oder »Captain Jack«.

Wenigstens hatte jemand ein Faß Bier besorgt, das machte das Ganze noch halbwegs erträglich. Jedenfalls habe ich noch eine Weile mit Peter gesprochen, Er meinte, er wäre auch ein »Freshman« (wow, was für ein Wort) und ob wir nicht mal zusammen trainieren wollten. Ich habe ihm gesagt, daß Degendorf nun doch ein Stück von Bergbach weg liegt, aber da er nicht aufhörte, hab ich ihm eben meine Telefonnummer gegeben. Ich muß wohl auch schon ziemlich breit gewesen sein, denn ich kann mich nicht mal mehr an sein Gesicht erinnern. Gegen zwei tauchte dann die gesammelte Elternschaft wieder auf und beteiligte sich am Abbau und machte Stunk wegen dem Bier. Es schien aber alles irgendwie perfekt organisiert zu sein. Alle Leute wuselten rum, jeder lud etwas in irgendein Auto, und innerhalb kurzer Zeit war der ganze Festplatz leer. Ich glaube, mir wäre es absolut peinlich gewesen, wenn Mom und Dad nach so einem Fest auftauchen und alle gemeinsam abbauen. Na ja, in Degendorf scheinen aber alle eine große Familie zu sein. Schließlich standen Benjamin und ich ziemlich alleine auf der Wiese.
»Wie kommst du denn wieder zurück?«
»Mit dem Bus.«
»Witzbold, der erste Bus fährt erst um sechs.«
»Keine Ahnung, dann trampe ich eben.«
»So ein Quark, du kannst bei mir pennen, mein Vater bringt dich dann morgen früh nach Hause.«
Die Idee hatte ja was, also willigte ich ein. Wir gondelten also mit Benjis Vater durch das nächtliche Degendorf, luden die Tische bei der Freiwilligen Feuerwehr ab und landeten schließlich bei Benji zu Hause. Dann hievten wir eine Matratze in Benjis Zimmer. Wir quatschten noch eine bißchen, und Benji meinte, daß Stefanie mich voll total niedlich gefunden hätte und daß er ihr meine Nummer gegeben hat. Na toll, aber ich war einfach zu müde und zu breit, um mich aufzuregen. Außerdem hatte ich damit zu tun, woanders hinzugucken als zu Benji, der nur in seinen Boxershorts auf seinem Bett lag. Dann schlief er ein, fing an zu schnarchen, und ich war hellwach.

So eine Scheiße. Da lag ich mit meinem Ständer neben Benji und konnte nicht mehr einschlafen. Ich mußte irgendwas machen. Also habe ich mir so leise, wie es ging, einen runtergeholt. Als ich wieder aufwachte, war es schon nach neun. Mein Kopf dröhnte, und ich rannte erstmal aufs Klo, um mein Bier von gestern loszuwerden. Benji schlief noch, als ich wieder in sein Zimmer kam. Er hatte eine Morgenlatte. Auf was hatte ich mich da bloß eingelassen? Ein paar Meter weiter wuselten Benjis Eltern durch die Gegend, und hier sind zwei fast nackte Jungs mit einem Ständer im Raum. Ich beeilte mich, meine Klamotten zu finden, und zog mich so leise wie möglich an. Doch Benji wachte auf: »Na, gut gepennt?«
»Ging so«, sagte ich
Dann bemerkte er seinen Ständer und kriegte wohl auch mit, daß ich hingeguckt habe. Er bekam einen knallroten Kopf und griff sich die Decke.
»Ich geh schon mal vor«, sagte ich und beeilte mich, aus diesem Zimmer zu kommen.
»Na, alles wieder frisch?« grinste Benjis Vater.
»Geht so, der Kopf dreht sich noch etwas.«

Nach einer Tablette und einer riesigen Portion Flakes ging es mir dann besser. Benji kam raus, zum Glück vollständig angezogen. Aber er hatte immer noch einen roten Kopf und guckte immer wieder verstohlen zu mir rüber. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, daß er sich keine Gedanken zu machen braucht, aber das ging ja nun nicht, weil seine Eltern dabei waren. Na ja, jedenfalls hat mich dann sein Dad nach Hause gefahren. Benji meinte noch zum Abschied, er würde mich heute noch anrufen. Na ja, mal sehen.

Ich überlege mir gerade, ob Benji von meiner nächtlichen Aktion was mitbekommen hat. Aber eigentlich glaube ich das nicht, jedenfalls nicht so, wie er geschnarcht hat. Shit, aber was hätte ich tun sollen, ich war so geil. Jetzt werde ich erstmal ein bissel in den Garten gehen und etwas auf Familie machen, damit Mom und Dad sich wieder etwas beruhigen.

21:30
Ächz, ich glaub, ich hab mir heute einen Sonnenbrand eingefangen. Den ganzen Nachmittag war ich im Garten, hab mich gesonnt, mit Lisa gespielt, Dad beim Reparieren vom Rasenmäher geholfen (wir haben's zum Glück nicht hinbekommen!). Mom und Dad haben sich jedenfalls wieder beruhigt. Sie meinten nur noch, ich soll das nächste Mal wenigstens auf den Aba sprechen, damit sie wissen, wo ich bin, man weiß ja nie, was so alles passieren kann, na ja, und so weiter. Pfff, als wenn hier auf dem Land irgendwas passieren könnte. Komisch, in Hamburg waren sie nicht so komisch, na ja, was soll's.

23:05
Gerade hat Benji angerufen. Er hat ziemlich rumgedruckst. Er stotterte so was wie: »Wegen heute morgen, also nicht daß du denkst, ich wäre irgendwie, na ja, äh anders...« Ich hätte am liebsten laut losgeprustet. statt dessen hab ich ihn beruhigt und ihm gesagt, daß mir das morgens auch immer so geht, na ja, und so ein Blabla halt. Es schien ihm auf jeden Fall unheimlich wichtig zu sein, daß ich ihn nicht für schwul halte. Diese Hetero-Jungs! Wenn er wüßte!

Samstag, 8. Juni 1996

8. Juni

»Was soll ich denn bei dem Idioten?«
Ich weiß gar nicht, was mich geritten hat, Nils zu fragen, ob er heute abend mitkommt. Erst hinterher fiel mir wieder ein, daß Benji ja mal unbedingt mit Nils ringen wollte. Und ich Idiot hätte da noch den Vermittler gespielt. Obwohl, was mache ich mir eigentlich für komische Gedanken? Nils ist ein Hetero und Benji garantiert auch. Shit, bin ich etwa eifersüchtig? Aber auf wen und warum? Keine Ahnung, na ja, zum Glück will Nils ja nicht mitkommen. Am Nachmittag war ich mit Doris und ihrem Clemens Eis essen. Er sieht zwar voll scheiße aus, aber ist total nett. Als er kurz auf dem Klo war, flüsterte Doris mir zu: »Er weiß übrigens nicht, daß du schwul bist, ich hab ihm nichts davon erzählt, ich denke, das ist deine Sache.« Finde ich richtig goldig von ihr. Hoffentlich bleiben die beiden lange zusammen, ich finde, sie passen gut zusammen.

Jetzt muß ich mich langsam fertig machen für nachher. Ich weiß noch gar nicht, wie ich zurückkomme, Shit, in der Nacht fährt bestimmt kein Bus, na ja, und mit dem Rad bis nach Degendorf ist Scheiße. Mal sehen, vielleicht fällt mir noch was ein.

Freitag, 7. Juni 1996

7. Juni

»Kommst du morgen?«
Gerade hat Benji angerufen und mich morgen zu einer Party von seinem Verein eingeladen. Ich bin eigentlich etwas stinkig auf ihn, weil er sich so lange nicht gemeldet hat, aber gleichzeitig freue ich mich, daß er mich eingeladen hat. Ich habe mir die Sache mit Silvio noch mal durch den Kopf gehen lassen und habe entschieden, daß Doris recht hat, er ist ein Idiot und ein Nazi. Ich habe beschlossen, ihn einfach zu ignorieren.

Und noch etwas geht mir im Kopf rum: Boris. Ich weiß nicht, wieso. Ich finde ihn wirklich nicht spannend. Eigentlich weiß ich gar nicht, wieso ich überhaupt damals mit ihm aufs Klo gegangen bin. Auf der anderen Seite muß ich immer wieder daran denken, wie es wohl wäre, eine ganz lange Zeit mit ihm im Bett zu verbringen. Es wäre doch wirklich einmal die Chance, es auszuprobieren. Shit, was soll ich nur machen?

Donnerstag, 6. Juni 1996

6. Juni

»Faß mich nicht noch mal an, du Schwanzlutscher!« schrie Silvio.
Plötzlich war es totenstill in der Halle, alle starrten zu Silvio, der Markus aus der 2. Mannschaft anbrüllte. Dann stapfte er zu uns rüber. »Diese Scheiß-Schwuchtel, den mach ich kalt, wenn der mich noch mal anfäßt!« Zum Glück saß ich gerade in der Ecke, und so konnte niemand sehen, wie ich immer kleiner wurde. Markus hatte Silvio wohl nach einem Trainingskampf auf den Hintern gehauen. Die anderen lachten nervös.

Shit, so sieht es also aus. Niemand hat Markus verteidigt, nicht mal Dimitri. Ich auch nicht. Seit heute nachmittag ist mir klar geworden, was es heißt, wenn man schwul ist und jemand kommt dahinter. Ich meine, in der Umkleide werden immer irgendwelche dummen Sprüche über Schwule gemacht, aber bisher hat es mir nichts ausgemacht, denn es wird ja genauso über irgendwelche Mädels gelästert.

Habe es gerade Doris erzählt. Sie meint, ich soll mir das nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Silvio ist ein Idiot und ein halber Nazi. Sie meint, daß bestimmt nicht alle in der Schule oder in der Mannschaft so sind. Vielleicht hat sie recht. Aber wenn es gerade die sind, die ständig den Colonel schieben, dann ist es schon ganz schön heftig. Am liebsten würde ich Nils fragen, was er von der Sache hält. Aber vielleicht bringe ich ihn dadurch erst auf die Spur.

Mittwoch, 5. Juni 1996

5. Juni

»Hi, Tim, können wir mal miteinander reden?«
Boris ist in der großen Pause zu mir gekommen und hat mich angesprochen. Ich war völlig verdattert. Er wollte aber nicht in der Schule mit mir sprechen. Also haben wir uns am Nachmittag auf dem Marktplatz verabredet.

Er war schon komisch: Als er über den Platz lief, drehte er sich ständig um, so als wenn ihn jemand verfolgen würde.
»Hi!«
»Hi!«
Dann Schweigen. Na toll, das war ja ein tolles Gespräch. Er guckte sich immer noch um. Ich war kurz davor, ihn zu fragen, ob er von der CIA verfolgt wird. Als niemand in unserer Nähe war fragte er leise: »Bist du schwul?«
Meine Güte, was für eine bescheuerte Frage, dachte ich.
»Ja, ich glaube schon, und du?«
Er verzog das Gesicht: »Ja, ich fürchte auch.« Irgendwie fand ich die ganze Situation ziemlich lächerlich, doch ich versuchte, mich zu beherrschen. Dann begann er zu reden: »Niemand weiß, daß ich schwul bin. Und ich kenne auch keinen anderen Schwulen. Jedenfalls nicht richtig. Ich glaube, wenn das irgend jemand rausbekommt, bin ich geliefert.«
»Keine Angst, ich werde es schon nicht rausposaunen.«
Er schien erleichtert. »Weiß es bei dir jemand?«
»Nur eine sehr gute Freundin. Die erzählt es aber garantiert nicht weiter.«
»Hast du ihr etwa was von uns erzählt?«
»Von uns? Was hätte ich ihr denn von uns erzählen sollen? Denkst du, ich erzähle den Leuten meine Sexstories?«
»Nein, ich hoffe jedenfalls nicht.«
»Und überhaupt, was heißt denn von uns? O.k., wir haben ein bissele rumgemacht, aber das ist auch alles. Deswegen sind wir noch lange nicht verheiratet!« Langsam wurde ich sauer.
»Um Gottes Willen, schrei' doch nicht so.« Er blickte sich wieder um. »Du scheinst damit ziemlich locker umzugehen.«
»Womit?«
»Na, damit, daß du, na ja, daß du ...«, er stotterte, »daß du schwul bist.«
»Locker? Na, ich weiß nicht. Was findest du denn daran locker?«
»Na ja, so wie du darüber redest. Hast du es schon oft mit anderen Jungs gemacht?«
»Einige Male schon.« Mir fiel ein, daß ich gar nicht spontan sagen könnte, wie oft eigentlich. Ich muß das bei Gelegenheit mal aufschreiben.
»Und wo? Auch in der Schule?«
»Bin ich bekloppt? Nein, meistens im Schwimmbad.«
»Und wie machst du das da?«
»Na, in der Kabine.«
»Nein, ich meine, wie lernst du die Leute da kennen?«
Das schien ja in eine Fragestunde auszuarten. »Na ja, ich stehe halt unter der Dusche und gucke, wer guckt und wie er guckt und wohin er guckt. Ich meine, wenn er auch einen Ständer bekommt, ist es doch wohl ziemlich eindeutig, oder?«
»Ja.«
Schweigen, na toll. »Und wie lernst du deine Typen kennen?«
»Meistens auf der Klappe am Bahnhof«
»Wo?«
»Auf der Klappe am Bahnhof, meistens in Stuttgart oder Ulm, jedenfalls nicht hier.«
»Was ist denn die Klappe?«
»Mensch, das Klo!«
»Warum heißt denn das Klappe?«
»Was weiß ich. Vielleicht, weil die Türen da auf- und zuklappen? Ist doch egal.«
»Klo finde ich eigentlich voll eklig.«
»Na ja, im X1 ja wohl nicht.«
»Gemütlich war's nicht.«
»Ich würde es gerne mal mit einem Typen richtig lange im Bett machen.«
»Rat mal, wer noch.«
Er guckte mich an. »Hast du nicht mal Lust?«
Oh Shit, da hatte ich mich ja in was reingeritten. »Nein, jedenfalls nicht im Moment.«
»Gehst du eigentlich in die Szene?« Uff, Themawechsel. Noch mal Glück gehabt. »Welche Szene?«
»Ich meine die Szene, du weißt schon, Bars und Discos, wo nur Männer sind.«
»Nee, solche Läden kenne ich gar nicht.«
Tassilo hatte mir mal erzählt, daß er sich mit seinen Kumpels wohl aus Versehen in solch einen Laden verirrt hatte. Er fand die Leute da drin voll abgedreht, wie er sagte. Ich traute mich damals aber nicht zu fragen, wo der Laden war. Hätte ja auch bestimmt komisch ausgesehen.

»Es gibt ein paar in Stuttgart, aber ich gehe da auch nicht hin. Wenn mich jemand erkennt.« Ich überlege mir gerade, wie es wohl in solch einem Laden ist. Irgendwie ist es bestimmt spannend, ob da tatsächlich alle Typen schwul sind? Dann wieder Schweigen. Eigentlich ist er ja ganz nett. Nur so entsetzlich steif und uncool. Wir haben dann noch ein bißchen über die Schule gequatscht, und dann mußte er los. Zum Abschied hat er mich noch gebeten, ihn nicht in der Schule anzusprechen. Na toll, er ist wirklich absolut seltsam. Bevor ich ihn überhaupt fragen konnte, wieso denn nicht, war er schon weg. Meine Gü-te, wird man so, wenn man schwul ist und hier lebt? Werd ich mich in zwei, drei Jahren auch ständig umgucken, ob irgend jemand da ist, der mich beobachtet, mit wem ich mich unterhalte. Nein, bestimmt nicht. Der Typ ist einfach nur strange.

Dienstag, 4. Juni 1996

4. Juni

»Ich habe mit ihr geschlafen.«
»Was?« Ich hatte ihn schon verstanden, aber trotzdem konnte ich es nicht glauben. Wir waren nach dem Krafttraining in der Umkleide, und Nils erzählte mir von seinem Wochenend-Mädel. Mir fiel irgendwie nichts besseres ein als zu fragen: »Wo?«
»Na, bei mir zu Hause, ich bin doch die Woche über alleine.«
»Na, herzlichen Glückwunsch«, sagte ich, und ich meinte es wirklich ehrlich.
»Weißt du«, sagte er, »wir haben doch neulich genau darüber gesprochen, und ich dachte, es ist jetzt wirklich an der Zeit es mal zu machen.«
»Wie schön, macht 3 Mark 50 für die Beratung.«
»Du Penner, als nächstes bist du dran.«
»Ja, ja, das ist mein Ding, o.k.?«
Was sollte ich ihm sagen? Daß ich nicht vorhabe, mit einem Mädchen ins Bett zu springen? Daß ich statt dessen viel lieber ihn gleich hier abknutschen würde und eine Nacht (was heißt nur eine??) mit ihm verbringen möchte?
»Und wie war's?«
»Nett.«
»Das klingt ja nicht sehr begeistert.«
»Nee, es war schon o.k. Ich weiß ja nicht, es war schließlich das erste Mal. Ich habe ja keinen Vergleich. Vielleicht hätte sie, na, wie soll ich sagen ...«, Nils begann zu stottern, »etwas lauter sein können, ich meine, mehr abgehen können.«
»Mehr losgehen können?« Ich prustete los. Nils guckte mich ganz verwirrt an und bekam einen knallroten Kopf. In dem Moment tat es mir wieder fast leid, daß ich gelacht hatte.
»Sorry«, sagte ich, »aber das klang eben einfach so komisch. Aber ich denke mal, das ist völlig o.k. so, ihr habt ja schließlich keinen Porno gedreht.« Nils grinste: »Na ja, wer weiß. Und überhaupt, woher willst du denn wissen, wie so was richtig gemacht wird?«
»Ich weiß mehr, als du ahnst.«
»Ach ja? Erzähl!«
»Nix da, sonst kriegst du noch Komplexe.«
Naja, wir haben noch eine Weile rumgeblödelt, dann meinte er, er muß los, noch ein paar Präser kaufen. »Kleiner Tip«, er schraubte seine Stimme ganz tief, und machte einen auf erfahrenen Weltmann, »immer mehr als einen Gummi dabei haben, du weißt ja nie, wie oft du kommen willst.« Dann zischte er ab.

Es ist seltsam, ich freue mich wirklich für ihn. Und für mich paßt wieder alles zusammen und ist so, wie es sein muß. Und ich bin ein bißchen stolz, daß er es mir erzählt hat. Komisch, wenn ich daran denke, wie Nils es mit einem Mädel treibt, kriege ich einen Ständer. Na gut, ich kriege ihn ja schon, wenn ich mir nur vorstelle, wie er nackt ist. Vielleicht hätte sie etwas lauter sein können. Ich glaube, ich kriege wieder einen Lachanfall.

Montag, 3. Juni 1996

3. Juni

»Hey, warum hast du nicht mal angerufen in den Ferien?«
Tobias' Locken sind fast wieder komplett. Ich habe ihm gesagt, daß er sich ja auch mal hätte melden können. Na ja, aber er scheint wieder ganz vernünftig zu sein. Doris hat mich noch gefragt, was mit mir denn los ist. Ich habe ihr nur gesagt, daß es mir im Moment nicht so doll geht. Sie meinte, ich könne mit ihr reden. Sie ist wirklich lieb, aber ich glaube, da muß ich irgendwie alleine durch. Außerdem geht es mir heute etwas besser.

Nils hat mich gefragt, warum ich am Samstag so schnell weg war, na ja, ich habe ihm irgendwas erzählt, ich glaube, es hat ihn gar nicht wirklich interessiert, denn er hat mich mit dem Mädel (Bierdeckel!) vollgebrabbelt. Schön für ihn, aber das hat mich nun nicht sonderlich interessiert.

Vielleicht lag es ja daran, daß ich sauer auf Nils war, vielleicht waren es ja seine Tips vom letzten Mal. Aber als ich heute beim Training wieder gegen Nils gerungen habe (das scheint jetzt mein Dauertrainingsgegner zu werden), hat er es nicht geschafft, mich zu pinnen. O.k., er hat mit Punktsieg gewonnen (wer hat sich so ein dusseliges Punktesystem ausgedacht?), aber ich habe länger durchgehalten, und er hat mich nicht gepinnt.

Sonntag, 2. Juni 1996

2 Juni

»Magst du nicht rumkommen?«
Doris hat angerufen. Aber ich habe ihr gesagt, daß es mir nicht so toll geht und daß ich keine Lust habe. Noch so ein beschissener Tag, na ja, Sonntag eben. Das ist absolut ungerecht. Wenn ich all die niedlichen Typen sehe, schick gemacht, gestylt, und auf in die Disco. Und wofür? Nur um irgendwelche kreischenden, gackernden Mädels anzubaggern. Ich frage mich, was in ihren Köpfen vorgeht, wenn sie sich abends fertigmachen. So was wie: 'Heute schleppe ich die kleine Blonde ins Bett ab'?

Scheiße, was mache ich mir denn für blöde Gedanken? Aber es ist doch wirklich voll daneben. Nils zum Beispiel hat sich gestern benommen wie in der Grundschule und dieses Mädchen permanent mit Bierdeckeln beworfen. Man muß sich das mal vorstellen! Ein 16jähriger Typ bewirft ein Mädchen mit Bierdeckeln! Und was macht sie? Sie kreischt und schreit, er soll sie in Ruhe lassen. Tut so, als wenn sie wegrennt, und setzt sich dann wieder an unseren Tisch, damit er auch schön weitermachen kann. Ist das etwa normal? Sind Heten so? Scheiße, sind Schwule untereinander etwa auch so? Nee, die treffen sich auf Klos und in Umkleidekabinen, um Sex zu haben, und das war's.

Was ist das alles für ein Scheiß-Leben?

Samstag, 1. Juni 1996

1 Juni

23:50
»Also, ich finde es cool, ich bleibe noch.«
Ich glaube, das ist überhaupt das erste Mal, daß ich so früh aus einem Laden gekommen bin. Wir hatten uns nach den Wettkämpfen alle um halb zehn vor der Tofa verabredet. Eigentlich hatte ich sowieso keine richtige Lust. Na ja, es war auch total frustrierend. Erstmal ist es wirklich die absolute Dorfdisco. Die Musik war scheußlich und die Leute auch. Absolut kein Vergleich zum X1. Aber was mich irgendwie völlig fertiggemacht hat, war was anderes. Ich kam mir völlig allein und überflüssig vor. Ich saß da und sah die ganzen rausgeputzten Mädels und die dazugehörigen Jungs. Es waren wirklich einige nette Jungs dabei. Aber sie waren ständig und immer nur mit den Mädels beschäftigt. Ich meine, es war wirklich zum Verzweifeln, wie absolut bekloppt sich selbst die coolsten und niedlichsten Typen benehmen, wenn Mädchen dabei sind. Es ist, als wenn man einen Schalter umgelegt hat. Nils zum Beispiel habe ich überhaupt nicht wiedererkannt. Er baggerte ständig an einem absolut dusseligen Mädel rum. Und benahm sich absolut kindisch und wie der letzte Idiot. Na ja, ich bin dann nach einer Stunde wieder gegangen. Die anderen sind noch geblieben. Ich könnte heulen. Das ist wirklich absolut ungerecht. Ich sehe die Typen, die sich schick gemacht haben. Aber einzig nur für die Mädels rennen sie in die Disco. Shit, ich kann nicht mehr richtig klar denken, ich glaube, ich gehe schlafen.