Samstag, 31. Januar 1998

31. Januar

"Meine Güte, was ist denn los mit dir? Vielleicht solltest öfters mal ein paar Wochen pausieren. Du ringst ja wie eine gesengte Sau."
"Was?"
"Ein paar Mal hatte ich ja echt Mitleid mit deinem Gegner."
Ich gebe zu, ich war gut. Nein, ich war nicht gut. Ich war aggressiv. Ich war wütend. Und wenn ich aggressiv bin, dann ringe ich ohne nachzudenken und so heftig, daß meine Gegner kaum eine Chance haben. Marcel war mitgekommen. Natürlich hat er nicht in der Mannschaft mitgerungen, aber er fuhr mit uns mit zum Wettkampf. Als ich ihn vor der Halle sah, kochte es in mir wieder hoch. Natürlich war Nils schon da und unterhielt sich mit ihm. Ich wollte eigentlich gar nicht zu den beiden hingehen, aber das ging natürlich nicht. Ok, so habe ich also wenigstens auch schon mal ein paar Sätze mit Marcel gesprochen. Was aber die Sache nicht leichter gemacht hat, denn er ist wirklich richtig cool.
Auf jeden Fall war ich dadurch wieder total schlecht drauf. Und es war meine Wut und meine Aggression, die dazu beigetragen hat, daß ich meinen Gegner nach zwei Minuten auf den Schultern hatte. Er tat mir auch nicht einmal leid. Im Gegenteil, ich war stolz auf mich. Und ich war stolz, daß ich gewonnen hatte, während Marcel mir zuguckte. Jetzt, wo ich das schreibe, wird mir klar, wie daneben das ist.
"Wenn du immer so ringst, dann fahren wir ja vielleicht zusammen nach Leipzig."
"Nach Leipzig?"
"Erzähle ich dir, wenn es so weit ist, ich muß jetzt erst mal auf die Matte."
Ich hatte noch genügend Adrenalin in mir, daß ich mutig wurde. Ich taperte zu Marcel auf die Tribüne.
"Na, wie sieht's aus? Meinst du, du schaffst es zu uns in die Mannschaft?"
"Ich weiß nicht. Außerdem habt ihr ja schon jemanden in der Gewichtsklasse, Kevin. Und der ist doch sehr gut."
"Ja, schon, aber..." Mir fiel irgendwie nichts ein. Ich saß da und mir fiel nichts ein, worüber ich mich mit Marcel unterhalten konnte. Es gibt nichts Schlimmeres als 10, 20, 30 Sekunden Schweigen, wenn man nicht weiß, was man sagen soll. Zum Glück kam Ina auf uns zu: "Nils hat gewonnen."
"Ja? Cool."
Na toll, ich hatte Nils' Kampf verpaßt. Ich ließ Ina und Marcel alleine. Sollten die sich doch beide amüsieren. Ich hatte mich schon genug blamiert.
Nils hatte sich irgendwie den Hals verdreht. Der Sanitäter ließ ihn die Finger bewegen und pieckste mit seinem Kugelschreiber auf jede einzelne Fingerspitze. "Alles ok", meinte er und packte Nils ein Coldpack in den Nacken.
"Was ist passiert?"
"Ich habe meinen Kopf nicht schnell genug rausbekommen und die Muskeln wahrscheinlich etwas überdehnt."
"Na super."
"Das wird schon wieder."
Jetzt habe ich einen lädierten Freund, der seinen Kopf nicht richtig drehen kann. Finde ich nicht besonders witzig.

Unsere Mannschaft hatte mal wieder gewonnen und entsprechend ausgelassen war die Rückfahrt. Sogar Nils mit seinem kaputten Hals grölte mit. Wir stiegen gemeinsam an unserer Kreuzung aus. Marcel saß zusammen mit Flo und Ina in der letzten Reihe des Busses. Sie schienen sich gut zu verstehen. Sehr gut. Sie winkten mir zum Abschied zu.
Es hatte geschneit. Bergbach lag unter einen Schneedecke, die alle Geräusche dämpfte.
"Alles klar mit deinem Hals?"
"Ja, das wird schon wieder, mach dir mal keine Sorgen."
Ich küßte ihn zum Abschied und dann stampfte ich durch den Schnee nach Hause. Es war eine total komische Stimmung. Der Schnee und das Licht ließen die gesamte Umgebung total unwirklich erscheinen. Mom und Dad zu Hause saßen vor dem Fernseher. "Na, wie war es?"
"Gewonnen, die Mannschaft und ich auch."
Mom schüttelte ungläubig den Kopf: "Dann scheint es ja wirklich dein Sport zu sein. Obwohl, ich ja eigentlich..."
Ich grinste, sie ist einfach unverbesserlich. Ich schaute zu Lisa ins Zimmer. Sie schlief friedlich. Ich taperte in mein Zimmer, warf mich aufs Bett. Schloß die Augen. Doch ich konnte nicht schlafen. Irgend etwas pochte ich meinem Kopf. Und es waren nicht die Kopfschmerzen von heute Morgen. Es waren Nils und Marcel. Verdammt noch mal, ich bin immer noch eifersüchtig. Warum denn? Verdammt noch mal wieso? Ich habe einen Freund. Wofür brauche ich diesen Marcel? Aber gleichzeitig denke ich: Wofür braucht denn dann Nils Marcel? Ich rufe Heiko an. Ich muß mit ihm reden. Er ist der Einzige, mit dem ich überhaupt darüber reden kann.

Doch ich kriege nur seine Mutter ans Telefon: "Nein, Heiko ist nicht da. Er ist gar nicht in Köln. Er ist an diesem Wochenende in Stuttgart."
"Glaubst du, du bist fit genug, daß du heute Nachmittag antreten kannst?"
"Das paßt scho'", antworte ich gequält.
"Na, wer saufen kann, kann auch ringen."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang."
"Bis nachher."
In meinem Kopf hämmerte es. Gestern Abend Tofa. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wieviele Bier und Bailey's es waren. Ich weiß nur, daß ich irgendwann auf dem Parkplatz gekotzt habe und daß Jonas einen tierischen Terz gemacht hat, weil er mich nicht in seinem Auto haben wollte. Wie ich dann aber nach Hause und ins Bett gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Aber es muß wohl ohne Probleme gewesen sein, denn alle waren so wie immer am Vormittag. Nur mein Kopf nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich so viel getrunken habe. Die Stimmung war gut, die Musik auch. Keine Ahnung. Ich habe eine halbe Ewigkeit mit Ina getanzt und ich glaube Flo war richtig froh darüber, denn er wußte, daß der Skilehrer, der auch da war, in der Zeit nicht an sie herankam. Ein paar Mal zwinkerte er mir zu. Das war schon eine schrille Situation. Ich tanze den halben Abend mit dem Mädel meines besten Heterofreundes, damit kein Anderer sie anbaggert. Dann kam irgendwie noch ein Bier und noch ein Bailey's und irgendwann muß dann der Filmriß gewesen sein. Ich weiß echt nicht, wie ich nachher kämpfen soll. Ich glaube, ich werde mir mal so einen Schmerztabletten-Cocktail mischen.

Freitag, 30. Januar 1998

30. Januar

Na super, ich habe beinahe einen Unfall gebaut. Weil ich mit den Gedanken wieder bei Nils und Marcel war und darum total sauer geworden bin, als mir jemand die Vorfahrt genommen hat. Ich habe einfach draufgehalten, bis der Fahrlehrer laut motzend auf seine Bremse getreten ist. "Bischt narrisch geworden?"
"Sorry. Aber ich hatte Vorfahrt."
"So eine Einstellung bringt dich eher ins Krankenhaus als dahin, wo du eigentlich hin möchtest."
"Ja ist ja gut." Auf solche Weisheiten kann ich gut verzichten.
Es schneit. Ich habe gerade beschlossen, mich über die Sache mit Nils und Marcel nicht mehr aufzuregen. Ich glaube, ich rede mir da etwas ein. Der Typ ist doch sowieso hetero. Also was soll's. Ich beschließe, die ganze Sache aus meinem Kopf zu streichen. Heute Abend ist Tofa angesagt.
"Ich glaube, es war ganz gut, daß ich sie gestern abgeholt habe."
"Wieso?"
"Ich weiß es nicht. Aber ich hatte es so im Gefühl, als wenn sie bestimmt noch zusammen weggegangen wären, wenn ich nicht vor der Halle gestanden hätte."
"Da haben wir aber noch mal Glück gehabt."
"Was?"
"Ach nichts, ist so ein blöder Satz aus einem Film, der mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf geht."
"Ja und wie geht das jetzt weiter? Ich meine, war es das mit dem Squashspielen oder treffen sie sich jetzt öfters?" Ich gebe zu, daß es mich eigentlich nicht wirklich interessiert, was Ina mit dem Skilehrer treibt. Aber die Fragen und Flos Stimme lenkten mich von meinen eigenen Gedanken ab.
"Ich habe mir vorgenommen, mehr mit ihr zu machen. Öfters irgendwohin zu gehen, gemeinsam etwas zu machen."
In meinem Kopf ging ich die Möglichkeiten durch, sich in Bergbach die Zeit sinnvoll zu vertreiben. Ich war schnell am Ende angelangt.
"Und du? Bist du fit für morgen? Mit deinem Knie alles ok?"
"Ich glaube ja. Und ich habe sogar richtig Lust."
"Der alte Kampfgeist."
"Vielleicht."
Ich weiß, daß es kein Kampfgeist ist. Ich weiß, daß es meine Wut ist, die raus muß. Meine Wut auf Nils. Wir haben heute in der Schule kaum miteinander gesprochen. Ich bin ihm so gut es ging aus dem Weg gegangen. Denn ich wußte, daß ich aggressiv reagiert hätte. Und er hätte es nicht verstanden. Wie auch. Ich selbst verstehe das ja nicht mal. Also wenn ich das jetzt wirklich mal versuche zusammenzupuzzeln: Da taucht also dieser Typ auf, Marcel. Wir findet ihn beide total süß, geil und sonstwas. Und Nils macht sich an ihn ran. Obwohl er weiß, daß ich hinter ihm her bin. Ich glaube, DAS ist es, was mich so wütend macht. Und ich bin wütend, daß Nils es tatsächlich gepackt hat, mit Marcel auf die Matte zu gehen. Was ich mich nicht getraut hatte. Ich konnte mich ja so toll darauf zurückziehen, daß immer der Trainer die Neuen von Anfang bis Ende betreut. Tolle Ausrede. Ausrede für mich. Aber verdammt, wie komme ich da raus? Ich kann doch Nils nicht sagen, daß er die Finger von Marcel lassen soll. Ich merke, wie ich mich wieder im Kreis drehe. Jetzt gehe ich erst mal zur Fahrstunde.

Donnerstag, 29. Januar 1998

29. Januar

"Ina trifft sich mit einem anderen Typen zum Squash."
"Was meinst du damit? Wie treffen? Einfach nur so, oder haben sie was miteinander?"
"Das reicht doch wohl schon, wenn sie sich mit dem Typen trifft, oder?"
"Ich weiß nicht, ob das nun SO dramatisch ist, nur weil sie sich mit jemandem zum Squash-Spielen trifft."
Ich finde das nun wirklich nicht so wild, aber Flo ist total fertig. Ich habe versucht ihm klarzumachen, daß er sich bestimmt keine Gedanken zu machen braucht, aber er wollte irgendwie nicht auf mich hören. Er meinte, er wird sie auf jeden Fall danach von der Squash-Halle abholen. Was ich total daneben finde. Das sieht ja nun wirklich wie totale Kontrolle aus. Aber wenn es um Ina geht, hört er sowieso auf niemanden.

Heute ist ein Neuer beim Training aufgetaucht. Marcel heißt er. Als er reinkam, haben Nils und ich uns erst mal nur angeguckt. Nils und ich sprechen nur ganz selten darüber, welche Jungs wir süß finden. Aber wenn, dann stellen wir immer wieder fest, daß wir beide einen total anderen Geschmack haben. Aber bei Marcel scheint es anders zu sein. Von der ersten Sekunde als wir ihn gesehen haben, fanden wir ihn beide süß. Er ist ziemlich groß, größer als Nils, und sieht total gut aus, blaue Augen, kurze Haare und eine Stimme und ein Lächeln, bei dem mir ganz anders wird.
"Oh Gott, ist der geil", flüsterte Nils mir zu.
"Ja", mehr brachte ich gar nicht hervor.
"Wo kommt DER denn her?"
"Vielleicht direkt aus dem Genlabor."
In Wirklichkeit kommt er aus Dresden, wie wir erfuhren. Ich konnte nicht anders, als ihn die ganze Zeit anzustarren und Nils ging es genauso.
"Meinst du, er ist...?", flüsterte Nils mir zu, während ich ihn zum dritten Mal im Fireman's Carry durch die Halle schleppte.
"Das glaube ich nicht", keuchte ich, "so jemand kann gar nicht schwul sein. So jemand DARF nicht schwul sein. Das geht einfach nicht."
"Ich glaube, bei dem würde ich mich sofort hinlegen."
Ich blieb wie angewurzelt stehen, so daß Kevin, der hinter uns war, auf uns auflief. "Was ist denn mit euch los? Mittagspause?"
Nils zappelte auf meinen Schultern: "Nun mach schon, was ist denn los? Lauf weiter."
So ein Spruch! So ein Spruch von Nils. Es stimmt ja schon, der Typ ist einfach nur supergeil. Aber das heißt doch noch lange nicht...
Ich versuchte, mich mit aller Gewalt abzulenken. Aber ich konnte nicht anders und mußte immer wieder zu Marcel rübergucken. So wie es ausieht, ringt er nicht so toll. Ich überlegte, ob ich nicht einfach zu ihm rübergehen sollte, ihn irgendwas fragen. Aber was sollte das bringen? Außerdem kümmert sich Mahmout in den ersten Trainings immer um die Neuzugänge. Das würde absolut bekloppt aussehen, wenn ich da einfach so zu Marcel rübertapere. Und überhaupt. Ich habe einen Freund. Und eben dieser Freund guckte mindestens genau so oft zu Marcel rüber wie ich. Brückenübungen. Marcels T-Shirt war hochgerutscht und gab den Blick auf einen makellosen Waschbrettbauch frei.
"Haben wollen."
"Ja, da mußt du aber noch eine Menge Situps für machen."
"So was ist ungerecht. Der Typ kann noch nicht mal richtig gut ringen."
Wir rissen uns zusammen und trainierten weiter. Und es ging. Wir konzentrierten uns auf Mahmouts Erklärungen, auf die Griffe und schafften es sogar, eine Stunde lang nicht rüberzugucken. Dann wollte Nils was mit Werner besprechen. Ich taperte zu Flo: "Du siehst ja immer noch so durch den Wind aus."
"Ja, ich verschwinde auch gleich. Ich will Ina vom Squash abholen."
"Ich finde das keine tolle Idee."
"Soll ich sie vielleicht noch mit dem Typen auf einen romantischen Abend ins La Perla gehen lassen?"
"Woher kennt sie ihn überhaupt?"
"Er ist aus der Stufe über uns. Sie haben sich auf dem Hof kennengelernt. Er ist so ein Typ Skilehrer."
"Die Frauen fallen eben immer auf die gleichen Typen rein."
"Woher willst denn ausgerechnet DU das wissen?" Seine Stimme klang aggressiv. Ok, ich gebe ja zu, daß meine Bemerkung nicht besonders geistreich war und sie paßt auch überhaupt nicht zu meinem 'mach dir keine Sorgen'. Aber mußte er gleich so aggressiv reagieren? Ich beschloß einzulenken. Wenn Flo der Meinung ist, daß der Typ eine Gefahr ist, dann bitte. Hinterher bin ich noch Schuld, weil ich das verharmlost habe.
"Stell dir doch mal vor", Flo redete einfach weiter, während ich mit meinen Schnürsenkeln spielte, "stell dir doch einfach mal vor, Nils geht mit einem anderen Typen Squash spielen."
"Nils spielt kein Squash."
"Mensch Tim! Du weißt genau, was ich meine. Stell dir doch mal vor DEIN Nils würde zum Beispiel heute Abend mit diesem Neuen in die Tofa gehen, ohne dich." Flo zeigte mit seinem Kopf in Richtung Kampffläche. Ich blickte rüber und sah, wie Nils gerade mit Marcel auf die Matte ging. Was sollte DAS denn?
"Ich glaube ich wäre stinksauer", murmelte ich.
"Siehst du. Und deshalb gehe ich jetzt los, Ina abholen."
Ich guckte nicht einmal hoch, als ich Flo verabschiedete. Ich guckte nur noch auf die Matte, wo Nils, MEIN Nils, mit Marcel rang. Und ich merkte, wie mir heiß und kalt wurde. Ich merkte, wie ich plötzlich, von einen auf den anderen Moment, nicht nur sauer, sondern auch tierisch wütend wurde. Was fiel Nils eigentlich ein? Was machte er da? Hatten wir uns nicht vorgenommen, uns zusammenzunehmen? Nils rang mit Marcel und ich kochte. Und Nils rang überhaupt nicht so, wie er es sonst machte. Er ließ den Neuen ja fast gewinnen. Was sollte denn das?
Nach einer Viertelstunde hatten sie genug und Nils kam zu mir: "Ist noch ausbaufähig", meinte er, "im Boden total schwach, aber im Stand gar nicht schlecht."
"Aha", murmelte ich.
"Was ist denn los?"
"Nichts." Ich wollte mit Nils nicht darüber reden. Nicht in dem Moment. "Flo ist schon weg, will Ina vom Squash mit einem Typen abholen."
Nils hatte gar nicht zugehört: "Man merkt überhaupt nicht, daß er aus Sachsen kommt. Und er ist auch total nett. Aber ich glaube nicht, daß er schwul ist."
Seltsamerweise fiel mir gerade in diesem Augenblick der Spruch aus 'Das Leben des Brian' ein: "Da haben wir aber noch mal Glück gehabt."
"Was?"
"Ach vergiß es."
"Was ist denn los mit dir?"
"Nichts. Ich bin müde, mir tut mein Knie weh und ich will nach Hause." Das war alles gelogen, aber etwas anderes fiel mir sowieso nicht ein.

Den ganzen Rückweg über war ich ziemlich einsilbig. Nils sagte, daß Werner ihm von einem Treffen der Talentscouts der Bundesligavereine erzählt hatte. Es interessierte mich nicht. Ich bekam dieses Bild nicht aus dem Kopf. Nils und Marcel zusammen auf der Matte.

Und ich bekomme dieses Bild jetzt noch immer nicht aus dem Kopf. Es hat sich da festgesetzt und springt immer wieder wie ein kleiner Teufel hoch. Ich finde es einfach unfair von Nils. Unfair und daneben. Oh Shit, verdammt noch mal, ich bin eifersüchtig. Und ich kann noch nicht einmal sagen auf wen. So was ist doch völlig krank. Ich kann nicht mehr weiter schreiben.

Mittwoch, 28. Januar 1998

28. Januar

"Was willst du denn? Ich meine, was habe ich denn Aufregendes?"
"Du hast immerhin Lena, um die du dich kümmerst. Das ist doch eine Aufgabe."
"Ich beklage mich ja auch gar nicht. Aber ich will mal wissen, was du erwartest? Willst du als großer Forscher den Amazonas raufpaddeln oder per Anhalter durch die Galaxis düsen?"
"Gibt es denn auf dieser Welt niemanden, der mich versteht?"
"Na ich kann mit so einem pauschalen 'Ich will endlich mal was Neues erleben' nicht so sehr viel anfangen. Sag mir doch einfach mal WAS Neues du erleben willst."
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß es irgendwie so nicht weitergehen kann."
"Warum redest du eigentlich nicht mal mit Nils darüber?"
"Der würde mich als Letzter verstehen. Er fühlt sich doch wohl, so wie es ist. Er fühlt sich hier wohl. Er fühlt sich in der Situation wohl. Er hat sein Ringen und das ist sein ganzes Leben und damit ist er glücklich. Keine Veränderung. Bloß nichts Neues."
"Bist du dir da sicher? Vielleicht ist er ja auch unzufrieden?"
"Ich habe schon ein paar Mal mit ihm darüber geredet. Ich habe es jedenfalls versucht. Es endet immer damit, daß wir uns streiten."
Doris seufzte und blickte aus dem Fenster. "Vielleicht", meinte sie nach einer Weile, "vielleicht brauchst du ja einfach irgendein Ziel, auf das du hinarbeiten kannst."
Was sollte das denn nun wieder? Mein Leben dreht sich nur im Kreis und Doris meint, ich brauche ein Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Na toll. Und vor allem, was soll das für ein Ziel sein? Ok, meine eigene Wohnung wäre so ein Ziel. Vielleicht sollte ich mir ja wirklich einfach mal Gedanken machen, wie ich das erreichen kann. Und wenn Nils nicht mitmachen will, dann eben alleine.

Ha! Heute war noch mal der Überwurf dran. Ich habe mich an den Rand gesetzt und ihn nicht trainiert. Und Nils hat NICHTS gesagt. Ich glaube, er hat es jetzt verstanden, was ich meine.

Dienstag, 27. Januar 1998

27. Janaur

"Vorsicht, nach links! Und langsamer."
"Jeeez."
Ich weiß ja auch nicht, warum der Fahrlehrer mich heute unbedingt durch die Altstadt gurken ließ. Die Straßen sind viel zu eng, dann noch Schnee, Eis und Matsch. Jedenfalls hätte ich beinahe einen anderen Wagen an der Seite erwischt. Außerdem scheine ich irgendwie heute nicht so gut drauf gewesen zu sein. Ich habe permanent den Motor abgewürgt und bin bestimmt insgesamt total bekloppt gefahren. Ich hoffe mal, daß es am Freitag besser wird.

Nils war heute wie immer. Als wäre gestern nichts gewesen, als hätten wir uns nicht gestritten. Naja, wir haben uns ja auch wieder versöhnt. Ich bin nach der Fahrstunde sogar noch ganz brav zum Krafttraining getapert. Nachdem ich mich auf dem Weg nach Hause von Nils verabschiedet hatte und ich so ganz allein durch den Schnee stapfte, kam mir so langsam hoch, warum es mir im Moment so komisch geht. Sicherlich ist es auch die Situation mit dem Schwulsein, mit dem Versteckspielen, mit dem Lügen und dem ganzen Hin und Her. Aber irgendwie ist es noch was anderes. Irgendwie ist alles immer wieder das Gleiche. Was passiert denn eigentlich Aufregendes? Ok, ich mache jetzt Führerschein, das ist ja auch ok. Aber sonst? Ich tapere zur Schule, zum Training, treffe mich ab und zu mit Nils, mit Doris, mit Flo. Ab und zu gehen wir mal in die Tofa, ins Kino oder zu einer Party. Ja und? War es das? Ist es das? IST DAS ALLES??? Ich glaube, mein Leben dreht sich nur im Kreis. Es ist echt immer das Gleiche. Es gibt nichts mehr Spannendes. Nichts, was wirklich aufregend ist. Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher wird mir das. ICH WILL HIER RAUS!!! Ich will was erleben. Neue Leute kennenlernen.

Shit, ich weiß nicht. Ich gehe jetzt erst mal joggen. Egal, ob Schnee oder nicht. Vielleicht ist mein Kopf danach ein bißchen klarer.

Montag, 26. Januar 1998

26. Januar

"Los, jetzt du."
"Nein."
"Wie nein?"
"Das mache ich nicht. Weder mache ich den Überwurf noch lasse ich werfen."
"Du machst das. Los jetzt."
"Ich habe gesagt, ich mache das nicht und fertig."
"Tim, los auf die Matte!" Nils' Stimme hatte mal wieder diesen Ton, der keinen Widerspruch, nicht die kleinste Diskussion überhaupt zuließ. Aber ich kannte diesen Ton und es ist genau dieser Tonfall, der mich erst recht bockig werden läßt.
Ich stand auf und ging in die Umkleide. Ich hatte keinen Bock auf Diskussionen, weder mit Mahmout und erst recht nicht mit Nils. Ich stand einfach auf. Ich glaube, alle haben ziemlich verdattert geguckt. Zwei Minuten später stand Nils in der Tür zur Umkleide.
"Bist du jetzt völlig abgedreht, oder wie? Was soll DAS denn jetzt?"
"Ich habe gesagt ich mache keinen Überwurf und fertig. Ich habe einfach keine Lust auf Diskussionen. Ganz einfach. Und auf so einen überheblichen Tonfall von dir vor den ganzen anderen habe ich erst recht keine Lust. Das kotzt mich an. Echt. Und das weißt du."
"Da passiert nichts dabei. Dabei kann gar nichts passieren."
"Das ist mir total egal, ob da was passieren kann oder nicht. Ich habe 'nein' gesagt und damit basta."
"Hier kann doch nicht jeder machen, was er will. Schließlich trainierst du hier, um was zu erreichen."
"Ich trainiere hier, weil es mir Spaß macht. Deshalb. Und wenn es mir keinen Spaß macht, dann höre ich eben auf."
"Denkst du denn, das ist deine Privatveranstaltung? Du hast doch gehört: Du sollst am Samstag wieder antreten. Da kannst du doch nicht einfach sagen, das mache ich und das nicht."
"Mich stört dein Ton. Mich stört dein Ton total. Merkst du denn nicht, daß du mit der Art, wie du Anweisungen gibst, genau das Gegenteil erreichst?" Ich war so richtig in Fahrt: "Und noch mal: Wenn es mir keinen Spaß mehr macht, dann höre ich eben mit dem Ringen auf. Ganz einfach so."
Ich sah ihm in die Augen und bemerkte eine Sekunde lang tatsächlich so etwas wie Panik darin. Und dann sah ich, wie er unsicher wurde. Es dauerte einen Moment, bis er überhaupt etwas sagen konnte.
"Ich mache das doch, damit du was lernst und weiterkommst." Seine Stimme klang plötzlich müde. Ich hatte ihn. Ich hatte ihn genau auf dem richtigen Fuß erwischt.
"Ich weiß. Aber manchmal bist du einfach unausstehlich."
"Denkst du, du bist viel besser?"
Ich mußte lachen: "Ich hoffe doch."
Er grinste.
"Ich gehe nach Hause. Das bringt mir heute nichts. Wir sehen uns morgen in der Schule."
Ein schneller Kuß, dann taperte er wieder in die Halle. Vielleicht höre ich ja wirklich auf. Aber irgendwie geht das nicht einfach so. Nils würde mir das nie verzeihen.
Zu Hause rief ich Heiko an. Ich weiß nicht wieseo. Doch, ich weiß natürlich schon wieso, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wieso ich ausgerechnet Heiko anrief. Er war total übergerascht: "Oh, du rufst mich an? Ist ja mal ganz was ungewöhnliches. Aber schön. Wie geht's?"
Ich erzählte ihm ein bißchen, wie es mir geht und was ich im Moment mache. Dann erzählte ich ihm die Sache heute mit Nils beim Training. Ich wollte einfach wissen, was er dazu sagt. Wollte seine Meinung hören.
"Naja, Nils ist eben sehr ehrgeizig. Und bestimmt nicht nur für sich sondern auch gleich für dich noch mit. Wenn du gewinnst, ist es eben auch sein Erfolg."
"Ich finde das affig."
"Ist aber so."
"Aber das macht keinen Spaß. Ich werde immer öfters bockig, wenn er mir irgendwelche Anweisungen beim Training gibt."
"Ich glaube, ihr spielt da noch so einen Machtkampf."
"Wie meinst du das?"
"Wer ist bei euch der Aktive?"
"Wie meinst du das?"
"Meine Güte! Wer fickt wen bei euch?"
"Borrh, das werde ich dir gerade erzählen."
"Natürlich, wenn nicht mir, wem denn dann?" Ich konnte sehen, wie er am anderen Ende der Leitung grinste. Das war Heiko pur.
"Laß mich raten, eigentlich eher mehr du. Hab ich recht?"
"Ja doch."
"Na also. Ist doch auch ok."
"Ja und? Was soll ich jetzt mit der Situation machen?"
"Ich weiß nicht. Warte halt ab. Das geht vorbei. Und nimm das einfach doch alles nicht so ernst."
"Na toll."
"Und sonst?"
"Nix besonders. Ich mache jetzt Führerschein. Morgen habe ich die zweite Fahrstunde."
"Cool, dann kannst du mich ja mal wieder besuchen kommen."
Ich lachte: "Erst mal ein Auto haben."
Wir redeten noch eine ganze Weile. Heiko erzählte mir von seinen letzten Sexabenteuern. Und auch wenn er mir eigentlich mit der Sache mit Nils nicht so richtig weiterhelfen konnte, so geht es mir doch nach dem Telefonat irgendwie besser. Heiko. Ich glaube, wenn er mit mir trainieren würde, hätte ich nicht diese Probleme. Aber er ist eben auch ein paar hundert Kilometer weit weg.

Sonntag, 25. Januar 1998

25. Januar

"Meinst du nicht, daß es auf Dauer etwas verdächtig ist, wenn Nils andauernd bei dir übernachtet und umgekehrt?"
"Das ist mir egal."
"Das ist dir nicht egal. Das glaube ich dir nicht."
"Mein Gott, was soll ich denn machen?"
"Keine Ahnung, ich weiß es doch auch nicht. Gibt es nicht irgendwo eine Hotline für ältere Brüder von kleinen Schwulen?"
"Haben wir gelacht."
"Was?"
"Ach, vergiß es. Ich weiß doch auch nicht. Und das dauert noch eine halbe Ewigkeit, bis ich ausziehen kann."
"Die Frage ist, ob das überhaupt geht?"
"Wieso soll denn das nicht gehen?"
"Wo willst du hinziehen? Und vor allem: Wer soll das bezahlen?"
"Irgendwas wird sich schon finden."
"Irgendwas, irgendwas. Sehr detaillierte Zukunftsplanung."
"Nörgel mich doch hier nicht voll. Woher soll ich denn wissen, wie das weitergeht?"
Phil macht es sich aber auch wirklich leicht. Er kann ja auch einfach hier zu Hause wohnen bleiben, bis er mit seinem Studium fertig ist.

Ich habe Jonas angerufen. Irgendwie war mir danach. Ich wollte wissen, wie er die Sache so sieht. Er meinte, ich soll nach dem Abi in eine WG ziehen, wenn ich kein Geld habe.
"Na toll, in eine WG. Das ist ja nun genau das, was ich nun garantiert nicht brauche."
"Denkst du denn, du findest hier irgendwo eine billige Wohnung? Hier nicht und in Stuttgart schon erst recht nicht."
"Dann gehe ich eben zurück nach Hamburg."
"Meinscht, da ist es besser?"
"Ich dachte, du hilft mir irgendwie weiter. Aber du bist auch echt wie alle anderen."
"Oh Entschuldigung, daß ich dir keine Wolkenschlösser baue."

Ich weiß nicht, irgendwie ödet mich im Moment alles und jeder an. Ich würde gerne ein bissele joggen gehen, aber der Schnee liegt heute so hoch, daß das irgendwie nicht richtig gehen würde. Also habe ich ein bissele im Internet gesurft, ferngesehen und gegammelt. Das Einzige, worauf ich mich im Moment freue, ist meine nächste Fahrstunde am Dienstag. Hoffentlich ist der Schnee bis dahin weg.

Samstag, 24. Januar 1998

24. Januar

"Laß ihm Zeit", meinte Doris.
"Ich lasse ihm alle Zeit der Welt. Er hat davon angefangen, daß er nicht mehr Versteck spielen will."
"Ja, aber du hast ihn bestimmt wieder überfahren."
"Überfahren?"
"Für dich sind bestimmte Sachen ganz klar. Du hast dir dazu schon deine eigenen Gedanken gemacht und deine Meinung steht fest. Aber du kannst doch nicht davon ausgehen, daß alle so schnell sind wie du. Und vor allem, daß alle zu den gleichen Schlußfolgerungen kommen wie du, oder die gleiche Meinung haben."
"Aha."
"Tim, du bist wieder mal unmöglich."
"Ich bin nicht unmöglich, ich bin nur irgendwie, irgendwie, ich weiß auch nicht."
"Unzufrieden?"
"Keine Ahnung. Nein, auch nicht richtig."
"WAS WILLST du denn dann?"
"Keine Ahnung. Ich glaube, ich will zurück nach Hamburg. Mit Nils zusammen nach Hamburg und nicht mehr verstecken."
"Ja, ja."
"Siehst du. Nicht mal du nimmst mich ernst."
"Ich nehme dich ernst, aber sei doch mal realistisch."
"Realistisch. Ist das SO abartig, was ich will?"
"Nein", seufzte sie.
"Na also. Ach, ich weiß auch nicht."
Nach dem Auflegen gingen mir wieder mal so viele Sachen durch den Kopf. Irgendwie weiß ich ja wirklich schon, was ich will. Aber was ist denn da dran so schlimm? Ich glaube, Nils macht sich gar keine Gedanken, wie es mit uns weitergeht. Wie es überhaupt weitergeht. Für ihn ist nur wichtig, was mit seinem Ringen passiert. Mehr nicht. Ich glaube, wenn morgen einer von den Talentscouts kommt und ihn nach Leipzig mitnimmt, würde er sogar dahin gehen. Und ich wäre ihm völlig egal. Hauptsache, das Ringen stimmt.

Flo verlor gegen Benji. Das war aber auch die einzige Niederlage unserer Mannschaft. Ansonsten haben wir haushoch gewonnen. "Ich dachte, ich trete endlich mal wieder gegen dich an", meinte Benji.
"Tja, wird wohl erst mal nichts draus. Ich hätte sowieso keine Chance."
"Stimmt", meinte er grinsend. Und ich nahm es ihm nicht mal übel.
"Wer ist denn das Mädchen, was die ganze Zeit mit dir zusammengehockt hat. Deine Freundin?"
"Nein. Das ist", ich drehte mich in Richtung Ausgang, "die Freundin von deinem unterlegenen Gegner."
"Oh, die ist aber niedlich."
"Na, vorsicht. Ich glaube, das würde Flo SEHR übel nehmen und dann hast du kein so leichtes Spiel wie heute beim Wettkampf."
"Schon gut, schon gut. Ich habe sowieso keine Zeit für eine Freudin. So mit Training und meiner Internetseite und den ganzen Sachen."
"Aha."
Benji hat immer genau das gleiche Leuchten in den Augen wie Nils, wenn es ums Ringen geht. Was mich dann immer ganz automatisch in eine Art Abwehrhaltung bringt.

Zum Pizzabuffet waren die Jungs von Degendorf gleich mit eingeladen. Was Benji gleich dazu nutzte, mit Ina zu baggern. Hatte er nicht gerade noch eine Stunde zuvor etwas davon erzählt, daß er keine Zeit für Mädchen hat? Ich bin ja auch irgendwie gemein, aber ich ging zu Flo, der sich lautstark mit einem Degendorfer Schwergewicht über Fußball (FUSSBALL!!!) stritt und meinte, er soll mal mehr auf Ina aufpassen. Was er dann auch gleich machte. Ok, vielleicht war das ja auch gar nicht gemein, sondern genau richtig. Es wäre ja auch total daneben, wenn Ina jetzt mit Benji rummachen würde. Dann müßte ich mir schon wieder eine neue Kombination merken... und überhaupt.

"Ich finde", meinte Nils auf dem Heimweg, "ich finde, es sollte doch wenigstens Bier geben auf unseren Nachwettkampfmeetings."
"Ich finde, es sollte nicht so viel Pizza geben. Ich bin pappsatt und kann mich nur noch sehr rudimentär bewegen."
"Rudimentär? Rudimentär? Was kennst du denn für komische Wörter?"
"Worte, in diesem Falle Worte."
"Du bist zu viel mit Flo zusammen. Du bist eindeutig zu viel mit diesem Hetero Florian zusammen."
"Du bist ja tatsächlich besoffen. Wo hattest du denn den Alk her? Und vor allem, warum hast du mir nichts abgegeben?"
"Das war Lippenzeller Hüttengeist. Gab es vorne an der Theke."
"Ich kriege 'ne Krise. Du bist ja echt total verrallert."
"So schlimm ist es ja auch nicht. Und überhaupt, dafür bist du verfressen. So viel Pizza, wie du in dich reingestopft hast."
"Das merke ich auch. Ich kann mich kaum bewegen."
"Dann los", meinte er und begann zu laufen. "Laß uns zum Kochertalweg joggen."
"Bischt bekloppt? Jetzt? Mitten in der Nacht? Es schneit. Es ist kalt."
"Ja und? Hascht Angst?" Damit lief er los. Er lief einfach los in Richtung Kochertalweg. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm hinterherzulaufen. Und irgendwie bewunderte ich ihn, wie er es schaffte, doch noch so gleichmäßig zu laufen, obwohl er doch bestimmt total angesoffen war.
Er kam vor mir an und war auch noch kaum außer Atem. Unter uns lag Bergbach und der Schnee dämpfte jedes Geräusch um uns herum.
"Ich will dich haben. Ich will dich jetzt sofort haben", meinte Nils und umarmte mich.
"Es ist arschkalt. Nils, es schneit. Hallo!"
"Verflucht, ich bin geil auf dich."
Mir ging es genau so, doch es war wirklich einfach zu kalt. Es klappte nichts. Wir froren und bibberten. Arm in Arm taperten wir wieder ins Tal. Mir war es egal, ob uns jemand sah und Nils war in dem Zustand wohl sowieso alles egal. Aber natürlich sah uns niemand. Wer sollte auch nachts um elf im Schneetreiben den Römerberg hochkommen? Wir taperten zu mir. Es war viel weiter als zu ihm, aber irgendwie wollte ich ihn nicht einfach so zu Hause bei ihm 'abliefern'. So, und jetzt liegt er auf meinem Bett und pennt. Einfach nur so, mein Nils, besoffen und pennt. Und ich sitze hier und schreibe Tagebuch. Es ist schon alles ganz schön strange, was hier so abgeht. Ich schließe die Tür ab. Nicht, daß Lisa morgen früh hineinstürmt. Ich mache das Fenster auf. Es schneit immer noch. Ich hasse Schnee. Schnee bedeutet Matsch, Dreck und bedeutet Rumeiern, bis man die Straße runtergegangen ist. Nils schnarcht. Ich liebe Nils. So wie er ist. Einfach nur so. So kompliziert wie er ist. So schwierig, so seltsam, ich liebe ihn einfach.

Freitag, 23. Januar 1998

23. Januar

"Meine Güte, nicht so schnell!"
Ja was denn nun? Erst soll ich nicht fahren wie 'Klein Erna mit Plüschohren' und dann fahre ich angeblich zu schnell. Dabei bin ich gar nicht so schnell gefahren. Erste Fahrstunde. Es war richtig cool. Ich meine, auch der Fahrlehrer ist ganz ok. Obwohl er wirklich so ist, wie man sich einen Fahrlehrer vorstellt. Oder einen Taxifahrer. So mit Halbglatze und Lederweste. Aber irgendwie war es lustig. Als erstes war Flo dran und er hat das richtig gut gemacht. Nicht einmal hat er den Motor abgewürgt. Ich wette, er hat vorher irgendwo heimlich geübt. Ich hab zweimal irgendwie nicht richtig gekuppelt und dann ging der Motor aus. Aber trotzdem. Was wirklich komisch ist: Wenn ich mit dem Rad fahre, dann trete ich eben schneller, wenn ich schneller fahren will, bis ich nicht mehr kann. Mit dem Auto ist es ja eigentlich ähnlich, nur kann ich da einfach schneller fahren, ohne daß es anstrengender ist. Das ging irgendwie ganz automatisch, da war ich auf der Friedrichstraße auf 70 Kilometer und da meinte der Fahrlehrer eben, daß ich zu schnell fahre. Aber ich finde es super. Ich mache Führerschein, yeah!
Als wir zur Fahrschule zurück kamen, stand Nils da. Irgendwie muß er rausgekriegt haben, wann die Stunde zu Ende ist.
"Ist ja nicht mal eine Beule im Auto."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang. Und? Wie war es?"
"Cool. Einfach nur cool. Willst du dich wirklich nicht noch anmelden?"
"Ne, laß mal. Außerdem kann ICH dann abends, wenn wir weggehen, was trinken, wenn du einen Führerschein hast und fährst."
Ich grinste. Dann fand ich es auf irgendeine Art schon mutig. Also mutig deshalb, weil... naja, also er holt mich von der Fahrschule ab, redet davon, daß ich ihn ja fahren kann, wenn ich den Führerschein habe. Und das alles vor Flo, von dem Nils ja gar nicht weiß, daß der weiß... Habe ICH jetzt schon Verfolgungswahn?
"Und jetzt? Wollen wir nicht noch eine bissele ins Zollhaus oder so gehen?"
"Ich weiß nicht, ich wollte mich noch mit Ina treffen."
"Borrh, sie kann doch auch hinkommen."
"Ich meine treffen, nur zu zweit."
"Dann sag 'ficken' und nicht 'treffen'."
"TIM!" Beide, Flo und Nils, im Chor. Eigentlich hätte wahrscheinlich ich rot werden sollen. Statt dessen grinste ich nur.
Wir gingen doch noch ins Zollhaus und Ina kam irgendwann dazu und holte Flo ab.
"Und jetzt?", fragte Nils.
"Keine Ahnung. Wollen wir noch weiter tapern, in die Tofa, oder nicht?"
"Ich weiß nicht."
"Wenn du nicht weißt, dann nicht. Ich bin auch nicht so richtig drauf für die Tofa."
Auf dem Heimweg fragte ich Nils, ob er nicht Angst hätte, daß Flo etwas mitkriegen könnte, wenn er mich von der Fahrschule abholt und solche Sprüche wie vorhin abläßt. Nils blieb stehen, zog die Stirn kraus und guckte mich an: "Das hätte ich von dir jetzt aber nicht erwartet."
"Wie?"
"Seit wann bist du denn so übervorsichtig?"
"Ich bin nicht übervorsichtig. Ich denke nur, daran, daß du.... ach ich weiß auch nicht. War nur so eine Idee."
"Meinst du, er ahnt was?"
"Flo? Naja...."
Was sollte ich machen? Ich wollte nicht lügen.
"Das ist doch alles einfach nur beschissen. Dieses ganze Versteckspielen. Soll das jetzt ewig so weitergehen?"
"Ich weiß es nicht. Nein, soll es nicht. Aber was sollen wir denn machen?"
"Keine Ahnung."
"Nach dem Abi. Wenn wir zusammenziehen, nach Stuttgart oder so. Wenn wir an der Uni sind. Dann, dann spielen wir nicht mehr Versteck."
"Super, ganz toll. Herr Berger hat ja sein Leben wieder mal PERFEKT durchgeplant."
"Hast du eben nicht gesagt, daß du nicht mehr Versteck spielen willst?"
"Darum geht es doch gar nicht. Es geht darum, daß für dich ja anscheinend alles wieder sooo klar ist. Abi, Stuttgart, Uni und dann sollen alle wissen, daß du schwul bist. Daß WIR schwul sind."
Ich wollte nicht mehr darüber diskutieren. Dieses Thema haben wir schon so oft gehabt. Ich nahm ihn einfach in den Arm und küßte ihn: "Hältst du jetzt endlich mal den Mund?! Verdammt noch mal, ich liebe dich. Und ich möchte mit dir zusammen sein. Immer. Ewig. Ich möchte mit dir zusammen ziehen und ich will genauso wenig Versteck spielen wie du."
Als wir uns voneinander verabschiedeten, hatte er Tränen in den Augen. "Ich liebe dich", flüsterte er mir zu.

Donnerstag, 22. Januar 1998

22. Januar

"Eigentlich schade, daß du am Samstag nicht mit dabei bist."
"Wenn Mahmout mich nicht dabei haben will..."
"Bist du etwa ein ganz klein bissele beleidigt?"
Es ist manchmal echt blöd, wenn ich für andere so durchschaubar bin.
"Ich weiß nicht, nein beleidigt vielleicht nicht, aber ich finde es halt komisch, daß er mir das nicht gesagt hat. Daß er gar nicht mit mir darüber geredet hat oder mich gefragt hat."
"Dann frag ihn doch gleich beim Training."
"Laß mal, was soll's."

Heute war wieder mal Wurftraining dran. Mahmout meinte zum hundertsten Mal, ich soll einfach den Kopf ausschalten, wenn ich geworfen werde. Aber es will einfach nicht klappen. Und deshalb lande ich regelmäßig total schmerzhaft auf der Matte. Und wenn ich dann wirklich an nichts denke, oder an was anderes denke, um den Kopf auszuschalten, dann tut es erst recht weh. Überhaupt, diese ganzen blöden Tips bringen doch sowieso nichts. Also was soll's.

Nach dem Training saßen Nils und ich noch ein bissele auf den Matten und schauten der Ersten Mannschaft zu.
"Meinst, daß dein Knie nächschte Woche wieder fit ist?"
"Ich denke schon."
"Na, dann kannst du ja wieder mitmachen."
"Ja", seufzte ich, legte mich auf den Rücken und blinzelte in den Neonröhren.
"Aber dann mußt du noch etwas trainieren vorher."
"Mein Gott, wir haben doch dreimal in der Woche Training."
"Das reicht nicht. Du willst doch besser werden."
"Ja und?"
"Push it to beyond your limits."
"Ich bin nur begrenzt begeistert."
"Das ist dein Problem."
"Nils, hallo, das Thema hatten wir schon oft genug."
"Na, dann solltest du es doch langsam gefressen haben."
Ich schwieg. Und ich schluckte runter, was mir auf der Zunge lag.

Mittwoch, 21. Januar 1998

21. Januar

"Freitag geht's los", meinte Flo.
"Yo, das wird bestimmt total cool."
"Was geht los?", wollte Nils wissen.
"Na, unsere Fahrschule."
"Das wird ja was geben. Tim lernt Auto fahren. Da müssen wir ja wahrscheinlich das ganze Kochertal evakuieren."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang. Wer fährt eigentlich als Erster von euch? Ich muß das unbedingt sehen."
"Nix da, entweder selber Führerschein machen oder Trauer. Am Rand nur zugucken und blöde Sprüche machen ist nicht. Ist wie beim Ringen."
"Na, du mußt tönen. Du darfst ja am Samstag immer noch auf der Ersatzbank sitzen", Nils' Stimme war nicht ganz ohne Spott. "Und das, wo wir doch gegen Degendorf antreten."
"Na super, dann ist es ja nicht so weit. Und Flo schafft Benji bestimmt spielend."
Flo hörte schon gar nicht mehr zu, sondern stürmte zu seinem Mädel.
"Heteros haben es doch viel, viel besser", meinte Nils.
"Ich weiß nicht. Würdest du mit Ina vögeln wollen?"
"Tim!"
"Ja? Was ist?"
"Du bist unmöglich."
"Nö, nur ehrlich."
"Du bist ehrlich unmöglich."
Na und wenn schon.

Dienstag, 20. Januar 1998

20. Januar

"Du brauchst am Samstag noch nicht antreten. Mahmout hat das gestern nach dem Training gesagt."
"Ach ja? Und mir hat er das nicht gesagt?"
"Keine Ahnung. Jedenfalls meint er, daß du durch dein Knie noch nicht wieder richtig fit bist. Also hast du noch eine Woche Schonfrist."
"Na toll."
Ich war sauer. Ich war tierisch sauer. Nicht, daß ich unbedingt scharf darauf war, am Samstag wieder einen Wettkampf zu machen. Aber die Tatsache, daß ich so einfach ausgebootet wurde, fand ich dann schon ziemlich daneben.
"Dann brauche ich ja heute auch nicht zum Krafttraining zu gehen und kann Tobias besuchen."
"Wie geht es ihm denn?"
Ich erzählte Nils, daß Tobias gestern angerufen hat und daß es ihm wohl etwas besser geht. Ich habe Nils auch gefragt, ob er mitkommen will, aber er meinte, daß er bei dem Besuch in Heidelberg schon so fertig war, daß er lieber diesmal nicht mitkommt.

Und so bin ich alleine zu Tobias getapert. Zum Glück scheint es ihm inzwischen wirklich etwas besser zu gehen. So wie es aussieht, kommen seine Haare auch ganz langsam wieder und diese ganz kurzen Stoppeln stehen ihm eigentlich auch ganz gut. Er meint, daß die Ärzte jetzt wohl ganz zufrieden sind, daß seine Werte wohl ok sind und daß auch seine Lymphknoten nicht mehr vergrößert waren. Das sagt mir alles zwar nichts, aber er erzählte es mit so einer Energie, daß ich schon glaube, daß es wirklich etwas Gutes bedeutet. Das mit der Schule ist natürlich blöd, aber dann macht er eben ein Jahr später Abi. Es ist schon ziemlich strange mit ihm. Ich glaube, er hat wirklich keine Freunde bei uns an der Schule.

Montag, 19. Januar 1998

19. Januar

"Ich bin wieder aus der Klinik raus und zu Hause."
Das war Tobi am Telefon. Shit, ich wollte ihn ja eigentlich schon längst mal angerufen haben. Er war tatsächlich zu Weihnachten nach Hause gekommen, mußte aber dann noch mal rein. Jetzt ist er seit Freitag richtig zu Hause und wenigstens am Telefon klang er richtig glücklich. Ich gehe ihn morgen zu Hause besuchen. Mal sehen, ob Nils mitkommt.

Jonas wollte heute wissen, wie es im X1 war. Ich habe ihm natürlich total vorgeschwärmt, daß er die Party versäumt hat, aber er meinte, er hätte auch jede Menge Spaß mit seinem Freund gehabt. Es ist ja auch ok, ich freue mich auch irgendwie für ihn, daß er jetzt einen Freund hat. Er meint, daß er nach dem Abi mit André, so heißt sein Freund, zusammen nach Köln ziehen will.

Köln, na toll, da fällt mir natürlich gleich wieder Heiko ein. Es ist irgendwie merkwürdig. Er ist immer noch tief drin in meinem Kopf. Ich könnte ja fast sagen Herz. Aber irgendwie, irgendwie tut es nicht mehr weh. Und irgendwie ist es nicht mehr so verrückt, wie noch vor ein paar Monaten. Ich weiß gar nicht, woran es liegt. Vielleicht ist es auch ganz gut so. Doch ich weiß, daß es nie wirklich aufhören wird. Wahrscheinlich werde ich noch in fünf Jahren, wenn Nils und ich schon längst in Hamburg sind, irgendwie in ihn verknallt sein. Und wahrscheinlich wird er noch in fünf Jahren einfach so mit dem Finger schnippen können und wir würden zusammen Sex haben. Doch so offensichtlich würde er das sowieso nie machen. Irgendwie wünsche ich mir einmal, ein einziges Mal eine Situation, wo ich 'nein' zu ihm sagen könnte. Nur ein einziges Mal. Ich würde gerne wissen, ob ich das fertig bringen würde. Bis jetzt hätte ich es nie geschafft. Bis jetzt WOLLTE ich auch nie 'nein' sagen. Und eigentlich will ich es jetzt auch nicht. Aber vielleicht muß ich es einfach ein einziges Mal machen, nur damit ich selber wieder die Kontrolle habe. Vielleicht wirklich nur für ein einziges Mal. Danach darf er wieder die Kontrolle haben.

Oh mein Gott, was schreibe ich für eine Scheiße zusammen?!

Sonntag, 18. Januar 1998

18. Janaur

"Du holst dir noch den Tod."
"Mir ist warm. Heiß!"
"Tim weiß eben genau, wie er seine körperlichen Reize einsetzt, um die Mädchen rumzukriegen."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang."
"Komm, gib zu, daß das eine hervorragende Bemerkung war, um zu zeigen, daß ich glaube, daß du ein Hetero bist", flüsterte Flo mir zu.
"Und das in DEINEM Zustand. Ich bin beeindruckt."
"In meinem Zustand. Ich glaube, ich habe weniger Bier getrunken als du."
"Bei den Preisen wundere ich mich, daß wir überhaupt was getrunken haben."
"Hauptsache, du findest dein T-Shirt nachher wieder, draußen ist es unter null Grad."
Es war ein Super-Abend im X1. Es war überhaupt ein Super-Tag heute. Ich habe mich beim Wettkampf ein bissele mit Ina unterhalten. Sie ist wirklich ganz ok und ich glaube, sie mag Flo auch wirklich. Auf jeden Fall hat sie tierischen Schiß gehabt, daß ihm beim Kampf was passiert. Sie hat mir erzählt, daß ich der erste Schwule bin, den sie kennt und daß sie ja das nie von mir geglaubt hätte, wenn Flo ihr das nicht gesagt hätte. Ich weiß nicht, ob ich das jetzt toll oder weniger toll finden soll. Auf jeden Fall hat unser Verein gewonnen und alle waren glücklich. Den Bauch am Pizzabuffet vollgeschlagen, dann holte uns Jonas von der Halle ab. Die Bundesstraße war wieder mal total glatt, aber zum Glück ist Jonas echt total vorsichtig gefahren. Und was das Ding mit dem Schwulsein angeht: Alle haben sich wirklich tapfer gehalten, so daß Nils bestimmt nichts mitgekriegt hat. Eigentlich, wenn ich mir das so überlege, ist es schon eine ziemlich bekloppte Situation. Mein Freund darf nicht wissen, daß alle anderen, mit denen wir zusammen im Auto sitzen, wissen, daß wir schwul sind. Und eigentlich ist das doch total toll, daß Flo und Ina so super drauf sind, daß sie damit keine Probleme haben. Auf jeden Fall habe ich fast den ganzen Abend im X1 getanzt. Und das lag eigentlich gar nicht so sehr an den Tanztabletten, die Flo dabei hatte, sondern die Musik war einfach gut und die Stimmung toll. Und auch Nils war richtig gut drauf. Was, glaube ich, vor allem da dran lag, daß wir heute gewonnen haben. Mich hat sogar ein Mädel angesprochen und gefragt, ob ich sie nicht mal anrufen will. Ich habe ihr gesagt, daß ich in festen Händen bin. Daraufhin hat sie zu Ina geguckt und ist beleidigt abgezottelt. Herrlich. Irgendwie macht es auch Spaß, schwul zu sein.

Leider war die Rückfahrt wieder mal der absolute Krampf. Zum Bahnhof tapern, auf den ersten Zug warten, total fertig, müde sich in die Sitze fallen lassen. Pennen, aber gleichzeitig aufpassen, daß man die Station nicht verpaßt. Dann in Bergbach ankommen. Das Dorf ist tot. Zum Glück ein Taxi am Bahnhof. Wir verhandeln und haben Glück, daß er uns mitnimmt und für 10 Mark bei Flo und bei Nils absetzt.
"Pennst du heute bei mir?", hatte mir Nils zugeflüstert.
Ich freute mich. Ich freute mich, wieder mal eine Nacht mit Nils verbringen zu dürfen. Aber ich freute mich auch, einfach nicht alleine zu sein. Und es war absolut toll. Denn obwohl wir beide total müde und fertig waren, haben wir miteinander geschlafen. Es war einfach nur schön.

Frühstück am Morgen dann auf seinem Zimmer. Er meint, er hat seiner Mom gesagt, daß wir beide so breit waren, daß ich bei ihm gepennt habe. Irgendwie die glatte Lüge. Aber es ist ok. So waren wir wenigstens zusammen.

Dann irgendwann nach Hause getapert. Mom mal wieder schlecht gelaunt, nach dem Motto, ich käme ja sowieso nur noch zum Wäschewechseln nach Hause. Ich höre schon nimmer hin. Statt dessen baue ich lieber mit Lisa einen Schneemann.

Samstag, 17. Januar 1998

17. Janaur

"Wie jetzt? Das mußt du mir noch mal erklären."
"So schwer ist das doch nicht: Nils weiß nicht, daß Flo weiß, daß Nils und ich schwul sind."
"Laß mich raten: Weil dein toller Nils ausrasten würde, daß du fröhlich durch die Gegend rennst und dich munter outest."
"Ich renne nicht..."
"Schon gut, schon gut. Also ist das Thema Schwulsein tabu für die Fahrt."
"Hauptsache, du verplapperst dich nicht, wenn du breit bist auf der Rückfahrt."
"Wieso Rückfahrt? Ich fahre doch nicht gleich wieder zurück. Sondern erst am Sonntagabend."
"Na super, ganz toll."
"Kannscht ja auch laufen, den Hinweg."
"Wäre vielleicht eh besser, hier zu bleiben."
"Mein Gott, nun hab mal keine Panik. Ich krieg das schon geregelt. Dein Nils kriegt von mir nichts zu hören und fertig. Jetzt mußt du nur Flo und seine Flamme irgendwie dazu bekommen, den Mund zu halten."

Also rief ich Flo an und sagte ihm, was los ist.
"Ob das wohl gut geht?"
"Jetzt haben wir das alles eingerührt und jetzt kommt sogar Nils mit nach Stuttgart. Verplappert euch bloß nicht."
"Wie lange willst du ihn denn noch anlügen?"
"Das hat doch nichts mit anlügen zu tun. Was soll ich denn machen? Wenn Nils mitkriegt, daß du Bescheid weißt, dann ist es aus. Ich bin ja schon total übergerascht gewesen, daß er nicht bei Phil ausgerastet ist."
"Na, vielleicht rastet er ja gar nicht aus."
"Ich möchte das nicht ausprobieren."
"Schon gut, schon gut. Ich sag Ina auch Bescheid. Du, die findet dich übrigens total süß. Da kann ich ja echt froh sein, daß du schwul bischt. Kommscht nachher zum Wettkampf?"
"Yo. Und was Ina betrifft, keine Sorge. Ich meine, sie sieht zwar recht niedlich aus, für ein Mädel, meine ich, aber sonst."
"Hast du echt noch nie mit einem Mädchen geschlafen?"
"Nö, du etwa?"
"Haha, na klar."
"Dafür hast du noch nie mit einem Jungen geschlafen."
"Ich habe auch gar nicht das Bedürfnis danach."
"Ich habe auch gar nicht das Bedürfnis danach... wie das klingt. Willst du wirklich Journalist werden nach dem Abi?"
"Ja, auf jeden Fall. Am liebsten irgendwo Korrespondent, in New York oder London."
"Wow, klingt irgendwie spannend."
"Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, daß 'irgendwie' und 'irgendwas' zwei deiner Lieblingsworte sind?"
"Ne, sind sie?"
"Ja."
"Ja und?"
"Ich geb' es auf. Ok, wir sehen uns nachher in der Halle. Und keine Angst, Ina und ich werden jede Silbe, die in Richtung 'schwul' geht, vermeiden."
Flo ist schon verrückt. Ich mag ihn wirklich gerne. Er ist wirklich irgendwie schon total erwachsen oder vernünftig, wie man das auch nennen will. Wenn nicht diese total verkorksten Sachen mit seinen Mädels wären...
Ich hoffe ja, daß das heute Abend gut geht mit der Fahrt nach Stuttgart und vor allem dann auch im X1. Aber ich habe richtig Lust, Party zu machen.

Freitag, 16. Januar 1998

16. Januar

"Na, was geht?"
"Bei mir ist alles klar und bei dir?"
"Auch. Wann bist du denn mal wieder in der Tofa?"
"Keine Ahnung."
"Stell dir vor, ich habe jetzt einen Freund."
"Echt? Woher?" Kaum hatte ich das ausgesprochen, war mir auch schon klar, daß das eine ziemlich bekloppte Frage wäre. Als wenn man einen Freund im Kaufhaus kriegt.
"Silvester, auf einer Party in Stuttgart."
"Na cool. Und, erzähl, wie ist er so?" Ich wurde seltsamerweise neugierig. Neugierig zu erfahren, was Jonas für einen Freund hat.
"Na lieb ist er, und nett und richtig kernig."
"Kernig?"
"Na handfest. Zum Zupacken."
"Zum Zupacken", murmelte ich.
"Naja, nicht so eine Tucke."
"Ach so."
"Ich fahr' am Samstag übrigens runter nach Stuttgart. Soll ich dich vielleicht mitnehmen? Vielleicht ist ja irgendwo Party."
"Ich weiß nicht. Wir wissen noch nicht, ob wir nach Stuttgart fahren am Wochenende. Mal sehen."
Irgendwie habe ich keine Lust, mit Jonas zusammen nach Stuttgart zu fahren. Auch wenn es natürlich viel schneller und einfacher geht als mit dem Zug.
Flo stapfte auf mich zu und fragte, was denn nun eigentlich mit dem X1 wäre. Toll, das paßte ja hervorragend zusammen. "Nils und ich wissen noch nicht, ob wir fahren."
"Wieso das denn nicht?"
"Männerzicken", meinte Jonas.
"Was?" Flo guckte total verwirrt.
Das war ja eine Super-Situation. Hätte eigentlich nur noch Nils gefehlt und ich hätte den totalen Schreikrampf gekriegt. Ich beschloß, die Flucht nach vorn anzutreten: "Darf ich vorstellen: Florian, Hetero, aber wissend."
"Und ich bin Jonas, schwul und auch wissend."
"Wo bin ich denn hier gelandet? Sind jetzt alle hier auf dieser Schule schwul?"
"Nicht alle, nur die gutaussehenden Jungs", kicherte Jonas.
"Das hältst du ja im Kopf nicht aus. Was ist denn nun mit morgen?"
"Jonas hat gerade eine Mitfahrgelegenheit nach Stuttgart angeboten. Und wenn Nils und ich nicht fahren, kannst du ja vielleicht mit Ina..."
"Heteros nehme ich doch nicht mit nach Stuttgart."
"Männerzicken", zitierte ich.
Daraufhin gab es einen allgemeinen Lachkrampf.
"Na ich sehe schon", prustete Jonas vor sich hin, "unser kleines schwules Ehepaar, Tim und Nils, müssen sich erst mal beraten, ob sie in die große weite Welt wollen. Und ich sehe mich auch schon mit einem Heterotypen und seiner Flamme durch die Gegend fahren, während die beiden auf meinem Rücksitz unanständige Dinge tun und mir die Sitze vollsauen."
Wir waren so angegackert, daß wir gar nicht mehr aufhören konnten. Irgendwann kam Nils an und ich sah, wie er schon von Weitem die Stirn krauszog: "Was ist denn hier los?"
"Nichts", sagte ich glucksend und zog in beiseite. "Wir haben uns nur etwas verblödelt."
Und während Flo und Jonas weiter tuschelten und kicherten, schob ich Nils die Treppe hoch.
"Was war denn nun so lustig?"
"Jonas hat Flo angeboten, ihn und Ina mit nach Stuttgart zu nehmen. Und irgendwie, ach ich weiß auch nicht, es war jedenfalls wahnsinnig komisch."
"Ich verstehe absolut überhaupt nichts."
"Ist doch jetzt egal."
"Warum nimmt Jonas Flo mit nach Stuttgart? Ich dachte, wir beide fahren mit Flo und Ina?"
"Fahren wir?"
"Doch, ja, ich glaube schon. Vielleicht passen wir ja auch noch in den Wagen rein."
Mein Freund Nils, irgendwie total seltsam! Aber eine Sache fällt mir jetzt gerade beim Schreiben auf. Flo weiß Bescheid, Jonas weiß Bescheid. Aber Nils weiß nicht, daß Flo weiß, daß... Oh Shit. Wenn er jetzt anfängt eins und eins zusammenzuzählen. Oder morgen. Wenn sich einer von den beiden verplappert. Jonas weiß noch überhaupt nicht, daß Nils nicht weiß, daß... HILFE! Oh Shit, ich muß das unbedingt vorher klären, sonst gibt es die totale Szene!

Donnerstag, 15. Januar 1998

15. Januar

"Sag mal, Freitag in einer Woche... hast du nicht Lust, am Abend mit Nils zu mir zu kommen?"
"Ist irgendwas zu feiern? Hab ich was verpaßt? Dein Geburtstag, Lenas Geburtstag?"
"Nein, einfach nur so."
"Eine Party-Party also."
"Ich weiß nicht, nein, keine Party. Kommt einfach, ich frage auch noch Flo und ein paar andere. Einfach so zum Treffen."
"Also ich komme gerne. Und ich hoffe Nils auch."
"Wieso? Habt ihr immer noch Streß miteinander?"
"Ein bissele schon noch."
"Männer", seufzte Doris und taperte los.

Mir geht aber eine Sache auch immer wieder durch den Kopf. Ich habe Doris, um über die Probleme, die ich habe, zu reden. Vielleicht auch noch Phil. Aber wen hat Nils? Er hat niemand, mit dem er über seine Gedanken und Probleme reden kann. Niemand außer mir. Und wenn er ein Problem mit mir hat, dann kann er mit niemand darüber reden. Das ist bestimmt ziemlich heftig für ihn.
Ich setze mich vor den PC, surfe ein bißchen im Internet. Suche irgendwelche Seiten über das Coming Out, irgendwelche Geschichten, über das Schwulsein, wenn man merkt, daß man schwul ist, wie es ist, wenn man seinen ersten Freund hat. Das meiste ist ziemlich nichtssagend. Eine spezielle Seite habe ich dann doch gefunden für schwule Jungs. Aber so richtig Antworten hat sie mir auch nicht geben können. Da sind zwar immerhin Coming Out Geschichten drauf, die ich mir auch alle durchgelesen habe. Aber das sind eben Geschichten zum Coming Out und nicht, was man macht, wenn man solche Probleme mit seinem Freund hat. Aber was erwarte ich denn überhaupt?
Und diese schwule Ringerseite habe ich wiedergefunden. Jetzt habe ich einfach mal eine Mail hingeschickt. Einfach nur so.

Ich bin fast 18. Aber irgendwie geht es mir fast so verwirrt wie als ich 14 oder 15 war. Ok, nicht ganz so schlimm. Aber es ist schon schwierig, auch wenn ich zum Beispiel Doris zum Reden habe. So richtig reden kann ich mit ihr über bestimmte Sachen nicht. Weil sie sie nicht versteht, gar nicht verstehen kann, weil sie eben ein Mädel ist. Und mit Nils, mit ihm kann ich über so viele Dinge nicht reden. Ist schon alles ziemlich verworren!

Mittwoch, 14. Januar 1998

14. Januar

Ein seltsamer Abend. Beim Training habe ich Flo dreimal hintereinander besiegt. Ich habe ihm gesagt, daß ich es hasse, wenn man mich gewinnen läßt, aber er meinte, er hätte mich nicht gewinnen lassen. Ich habe trotzdem beschlossen, daß ich diesen Samstag noch nicht antrete.

Nils und ich redeten auf dem Heimweg übers Training, über die nächsten Wettkämpfe, über die Schule. Nur nicht über uns. Wir haben es perfekt hingekriegt, bis zu unserer Kreuzung jedes Thema total zu vermeiden, was auch nur in die Richtung gegangen wäre. Aber ich glaube, wir beide merkten, daß da was total schief läuft.
"Es tut mir leid", sagte ich. "Es tut mir leid, die Sache heute mit Flo. Wir gehen am Samstag nach dem Wettkampf zu mir und du pennst bei mir, ok?"
Nils lächelte. Ich weiß nicht, ob ich eine Spur Triumph in seinen Augen aufblitzen sah oder ob ich mir das nur einbildete.
"Wir überlegen uns das noch bis Freitag, ok?"
Ich nickte. Unser langer Abschiedskuß. Als hätten wir nie ein Problem gehabt.
"Wann habt ihr denn das letzte Mal zusammen Sex gehabt?"
"Was hat denn das damit zu tun?"
"Das hat eine ganze Menge damit zu tun. Vielleicht will er wirklich einfach nur mit dir alleine sein, kuscheln oder was weiß ich."
"Ja doch, mein Gott, das ist mir doch klar. Aber ich weiß echt nicht, was wir da machen können. Es ist doch immer irgendwo irgend jemand. Bei mir zu Hause sind meine Eltern ständig irgendwie im Haus, bei ihm genauso. Wie sollen wir denn da wirklich Ruhe und Zeit haben, um alleine zu sein?"
Nils kam auf uns zu. "Na ihrs, alles klar?"
"Yo, bis darauf, daß ich mich heute mit Falkenberg angelegt habe, wegen einem Rechenweg."
"Wegen EINES Rechenweges", meinte Flo, der auf einmal hinter mir stand.
"Borrh, jetzt geht DAS wieder los."
"Was macht ihr denn am Wochenende?"
"Nils und ich wollten ins X1 gehen."
"Cool, da komme ich mit. Ich frage gleich nachher mal Ina."
Ich guckte absichtlich nicht zu Nils rüber.
"Ich bleibe zu Hause und passe auf Lena auf."
"Klingt spannend."
"Dieses Techno-Gehopse ist sowieso nix für mich."
"Grandma in da house."
"Tim ist aber heute auch wat witzig."
Es gongte. Nils blieb sitzen.
"Hast eine Freistunde?"
"Ja."
"Ich glaube, dann laß ich Bio auch sausen. Laß uns einfach runter ins Cafe gehen."
"Haben wir nicht gestern besprochen, daß ich keine Lust habe, am Samstag ins X1 zu gehen?"
"So deutlich hast du das nicht gesagt. Und ich dachte, jetzt wenn Flo auch fährt..."
"Du bist manchmal unmöglich Tim, weißt du das eigentlich?"
"Manchmal muß man einfach Entscheidungen treffen."
"Was ist denn DAS für ein Spruch? Hast du den in einem Managermagazin von deinem Vater gelesen?"
"Ach Mensch Nils, höre doch irgendwann mal auf zu nörgeln."
"Nerve ich dich etwa?"
"Du nervst mich nicht, aber... Mensch, verdammt noch mal, eigentlich wollen wir beide doch das Gleiche. Warum streiten wir uns denn eigentlich?"
"Wir streiten uns, weil DU immer der sein willst, nach dessen Kopf alles geht."
"Das stimmt doch gar nicht."
"Das stimmt. Das stimmt absolut. Und vielleicht, vielleicht habe ich einfach keine Lust, immer nur zu allem Ja zu sagen."
Damit stand er auf und ging die Treppe hoch. Und zurück blieb ein total verstörter Tim. Ich schwänzte tatsächlich Bio und taperte ziemlich verloren nach Hause. Bin ich wirklich so schlimm? Will ich wirklich immer nur meinen Kopf durchsetzen? Ok, das Ding heute mit Flo, das war nicht ganz ok. Aber so schlimm finde ich es auch nicht.

Dienstag, 13. Januar 1998

13. Januar

"Und?"
"Was und?"
"15 Kilo mehr beim Bankdrücken als vor Weihnachten."
"Toll."
"Gibt es eigentlich irgend etwas, was DICH beeindruckt?"
"Na jedenfalls nicht so was."
"Wann machst du wieder bei den Wettkämpfen mit, mit deinem Knie?"
"Ich glaube, frühestens nächste Woche, diesmal noch nicht."
"Meinst du nicht, du solltest das mal röntgen lassen?"
"Nee, diese Diskussion hatte ich schon mit Doris. Halte bloß den Mund, wenn meine Eltern dabei sind. Die schicken mich auch gleich los."
"Na, wäre doch aber besser. Vielleicht ist es ja wirklich was Ernstes."
"Unsinn. Ein bissele Ruhe und das war es dann."
Nils zuckte mit den Schultern.
"Haben wir am Samstag Heimkampf?"
Er nickte.
"Wollen wir nicht mal wieder ins X1 fahren?"
"Meinscht?"
"Ja doch. Irgendwie hätte ich mal wieder Bock."
"Und wenn du alleine fährst?"
"Was soll denn das? Hallo? Noch alles klar bei dir? Ich fahr doch nicht alleine nach Stuttgart ins X1. Du kommst mit."
"Ich habe aber, glaube ich, nicht so richtig Lust."
Nils ist manchmal schrecklich. Ich weiß dann gar nicht, was er immer hat. Ich erwische mich kurz bei dem Gedanken, tatsächlich alleine nach Stuttgart zu fahren. Aber ich glaube, das würde ich sowieso nie machen.
"Wir machen immer weniger Sachen zusammen", sagte ich.
"Wie bitte?"
Ich wußte, daß ich ungerecht war. Aber auf der anderen Seite wollte ich auch irgendwie nicht locker lassen, nicht nachgeben: "Du willst nicht, daß wir zusammen Fahrschule machen, du willst nicht mit zum CSD nach Hamburg kommen, du willst nicht am Samstag ins X1."
Nils schwieg und guckte mich verständnislos an. Dann sagte er: "Habe ich da irgend etwas verpaßt? Ich meine, wir waren vielleicht gerade zusammen in Hamburg, oder?"
"Ja schon", maulte ich.
"Weißt du, das Problem ist eher was anderes: Wir sind immer weniger alleine zusammen. Immer sind andere Leute dabei. Wir sind auf Parties, gehen in Clubs oder in irgendwelche Läden. Aber nur wir zwei, ganz alleine, das sind wir kaum noch."
"Was soll ich denn machen? Verdammt noch mal, soll ich zu meinen Eltern gehen und sagen: Hallo, ich bin schwul und übrigens Nils ist mein Freund und der pennt jetzt ab sofort hier?"
"Du weißt ganz genau, daß es das nicht ist. Ich glaube, du willst mich nicht verstehen."
"Ich will dich verstehen und ich verstehe dich doch auch. Aber was sollen wir denn MACHEN? So wie es jetzt läuft, sind wir doch wenigstens irgendwie zusammen. Auch wenn andere Leute dabei sind."
Schweigend taperten wir nebeneinander nach Hause. Ich weiß ja, was er meint, aber ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das ändern kann. Wie WIR das ändern können.

Montag, 12. Januar 1998

12. Januar

"Kein Problem, wir haben eine Menge Aufträge zur Zeit und können wirklich Hilfe gebrauchen. Wenn du willst, kannst du sogar vorher schon kommen."
"Cool, ich muß nur sehen, wie ich das mit der Fahrschule auf die Reihe kriege."
"Ok, melde dich einfach, dann sehen wir weiter."
Super. Ich habe einen Job bei Jürgen in den Osterferien und ja vielleicht auch vorher. Damit ist mein Führerschein gesichert, und vielleicht ja auch ein bißchen mehr, daß ich noch etwas auf ein Auto sparen kann.
Nils ist nicht so begeistert. Und erst recht nicht so begeistert davon, daß ich nun auch noch jobbe. Er meint, daß wir uns ja dann kaum noch sehen und daß ich dann gar nicht mehr zum Training komme. Wenn ich böse bin, dann würde ich sagen, daß er vor allem wegen des Trainings sauer ist. Aber das ist jetzt wirklich böse. Aber ich glaube, ich kriege das alles schon irgendwie auf die Reihe. Ist bestimmt nur eine Sache der optimalen Planung.
Und überhaupt. Ich war heute sogar beim Training. Trotz meines Knies. Ich glaube, das hat Nils sogar beeindruckt. Zum Glück hat es auch gar nicht mehr wehgetan und ich war richtig gut. Finde ich jedenfalls. Aber wir haben heute ja auch nur Bodenkampf trainiert, das ist dann nicht so wild mit dem Knie. Mahmout meinte, ich soll einfach mehr meinen Kopf ausschalten. Mehr meinen Kopf ausschalten. Na toll, wie soll das denn gehen?
Auf dem Heimweg haben Nils und ich uns über unsere Planung für die Sommerferien unterhalten. Ich finde das ja noch echt zu früh, aber er meinte, wenn ich jetzt schon Ostern verplant habe, müssen wir eben jetzt schon mal überlegen, was wir im Sommer machen. "Das heißt, wenn du überhaupt mit mir zusammen wegfahren willst."
"Hallo? Bist du noch ganz klar? Natürlich will ich mit dir zusammen wegfahren. Was soll denn das für eine Frage sein?"
Nils grinste: "Schon gut, nicht gleich aufregen. Irgendwie verstehst du gar keinen Spaß mehr, was?"
"Und wohin fahren wir nun?"
"Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Wie wäre es mal mit Österreich?"
"Österreich? Da kann man Urlaub machen? Im Sommer? Wie jetzt, wohin denn nach Österreich? Was MACHT man da denn?"
"Ich sehe schon, du bist ein total hoffnungsloser Fall. Also wieder irgendwohin, wo Strand ist?"
"Ja aber klar doch. Kein vernünftiger Mensch fährt im Sommer nach Österreich. Nicht mal im Winter."
Nils verdrehte die Augen: "Du bist unmöglich."
"Ich weiß, meine Eltern haben vergessen, mir irgendein Modul einzubauen."
"Was?"
"Ach vergiß es. Ich werde mir mal was überlegen. So ganz spontan fällt mir nichts ein. Jedenfalls nichts, was halbwegs bezahlbar ist. Vor allem, wir wollen doch dieses Jahr noch nach Hamburg zum CSD und zur Loveparade nach Berlin."
"Na, du hast ja dann ein Auto, da kommen wir dann ja überall schnell hin."
"Haben wir gelacht. Wenn ich Glück habe, habe ich erst mal den Führerschein. Das war es dann aber auch für eine Weile."
"CSD in Hamburg", murmelte Nils, "ich weiß nicht."
"Was ist denn. Wir haben das doch schon ausgemacht."
"Ich weiß nicht, ob ich in so einer Horde von Schwulen mitlaufen will. Wenn uns da jemand sieht."
"Das ist in Hamburg. Da sieht uns niemand, da kennt uns niemand. Jedenfalls DICH nicht. Und mir ist es egal, ob mich jemand von den Leuten, die ich in Hamburg kenne, da sieht. Meine Oma wird sich den CSD bestimmt nicht anschauen."
"Ich überlege es mir noch bis dahin."
"Da gibt's nichts zu überlegen. Wir fahren da hin und fertig."
"Tim, der Dominator."
"Genau, irgend jemand muß ja hier die Entscheidungen treffen."
"Und irgend jemand muß dich jetzt unbedingt ganz schnell küssen, bevor du weiter solchen Blödsinn redest."
Wieso eigentlich Blödsinn???

Sonntag, 11. Januar 1998

11. Januar

"Ist dein Knie wieder ok?"
"Ja, ich merke jedenfalls nichts mehr."
"Meinst du nicht, daß es besser ist, das wirklich mal untersuchen zu lassen?"
"Nein, ich meine nicht, daß ich das untersuchen lassen will."
"Wie männlich. Ein ganzer Kerl."
"Jaja, genauso muß ein Cowboy sein..."
"Dreckig, feige und gemein."
"Ich habe es übrigens Flo erzählt. Am Freitag."
"Was? Das mit deinem Knie?" Frauen können manchmal reichlich dusselig sein.
"Daß ich schwul bin."
"Wie jetzt? Einfach so?"
"Naja, nicht ganz einfach so. Er hat gefragt."
"Ha!", kreischte Doris heraus. "Gar nicht doof, der Flo."
"Anscheinend bin ich für alle auf der Welt ein offenes Buch, nur für mich nicht."
"Wie hat er denn reagiert?"
"Ich glaube, er war etwas enttäuscht, daß ich es ihm nicht schon längst gesagt habe. Aber sonst hat er eigentlich ganz ok reagiert. Das heißt eigentlich gar nicht. Es war eigentlich gar nicht mehr so besonders Thema."
"Geistige Reife eben."
"Jeez, ich glaube eher, daß er nun froh ist, daß er keine Angst mehr haben braucht, daß ich irgendwelche Mädels angrabe, hinter denen er her ist."
"Eingebildet bist du aber gar nicht, oder?"
"Nö, das hat ER gesagt."
"Und was meint Nils dazu, daß du inzwischen so locker rumläufst und dich überall outest?"
"Ich laufe doch nicht mit einem Schild rum und oute mich überall. Nils weiß nichts davon, daß Flo es weiß und Flo hat mir auch versprochen, daß er es Nils nicht sagt."
"Seid ihr kompliziert."
"Du weiß doch, wie Nils ist. Er würde ausrasten, vielleicht noch schlimmeres."
"Wie geht es dir denn nun damit, daß es Flo weiß?"
"Es ist ok, es ist irgendwie, als wenn es immer schon so war."
"Schön. Und wann wirst du es deinen Eltern sagen?"
"Ich weiß es nicht. Echt nicht. Daran will ich im Augenblick auch gar nicht denken. Wenn ich mitkriege, wie meine Mutter über Schwule denkt und redet. Bloß nicht. Ich glaube, ich werde ihr das nie sagen können."
"Irgendwann mußt du. Spätestens, wenn du mal mit einem Jungen zusammenlebst."
"One step after anotha, brotha!"
"Paß mal einen Moment auf Lena auf, ich muß in die Küche."
Also paßte ich auf Lena auf, die durch das Zimmer robbte und Schubladen aufzog.
"Wann bringst du ihr denn das Laufen bei?", rief ich.
"So was bringt man nicht bei, das kommt irgendwann", kam aus der Küche.
Lena zog sich an einem Stuhlbein hoch, ließ los und fiel auf den Hintern.
"Vielleicht mußt du einfach mal die Batterien wechseln."
"Du bist unmöglich. Du mußt doch noch wissen, wie es bei deiner kleinen Schwester war."
"Ich weiß nicht mehr genau, irgendwann konnte sie plötzlich laufen, glaube ich. Vielleicht haben meine Eltern heimlich irgendein Modul nachgerüstet."
"Und bei dir scheinen sie irgendein Modul vergessen zu haben."
"Habe ich eigentlich schon erzählt, daß ich demnächst Fahrschule mache?"
"Ja. Finde ich gut. Dann kannst du mich viel leichter immer hier besuchen und abholen."
"Erst mal ein Auto haben."
"Na DAS finanzieren dir doch deine Eltern locker, oder?"
"Das glaub ich eher nicht. Ich meine, Phil hat ja auch kein Auto. Das wird ein tolles Durcheinander geben, wenn ich dann mal den Wagen von Mom haben will."
"Dann nimmst du halt den von deinem Vater."
"Na klar, ich fahre mit diesem Schiff vor der Tofa vor. Kommt bestimmt total cool. Dann hänge ich mir noch eine dicke HipHop-Kette um, lade ein paar Mädels ins Auto, die mit den Titten wackeln und tanze um brennende Ölfässer rum. Yo, yo, yo!"
"Nein, ich glaube, das paßt dann doch nicht so ganz zu dir."

Aber ich freue mich echt auf den Führerschein. Das heißt natürlich, ich muß ihn ja erst mal machen. Aber dann wird es bestimmt total cool. Endlich nicht mehr dieses ewige Rumgegurke mit Fahrrad und Bus und dem Zug. Ich muß nur sehen, daß ich mir vielleicht echt einen Job in den Osterferien suche, damit mein Konto nicht so leer geräumt ist hinterher. Ich glaube, ich werde mal morgen Jürgen anrufen.

Samstag, 10. Januar 1998

10. Januar

"Tim, kann ich dich mal sprechen?"
"Meine Güte, ja doch, was ist denn?"
"Nicht hier, laß uns mal rausgehen."
"Du machst das aber auch wat geheimnisvoll, was ist denn los?" Ich griff meine Jacke und wir gingen in den Garten. Es hatte in den letzten Stunden heftig geschneit und alles sah wieder total kitschig aus. Der Schnee dämpfte alle Geräusche und ich hätte mich nicht gewundert, wenn jetzt noch irgendwo Weihnachtsbäume gestanden hätten.
"Also, was ist denn?"
Flo druckste rum: "Du mußt mir aber versprechen, daß du nicht sauer bist, wenn ich dich jetzt was frage."
"Meine Güte, ich werde gleich sauer, wenn du noch weiter rumeierst. Also, was ist los?"
Flo schaute mich an und mir wurde auf einmal ziemlich mulmig. Dann holte er tief Luft und fragte: "Kann es sein, daß du schwul bist? Ich meine du und Nils, seid ihr schwul?"
Bin ich eigentlich für alle auf dieser Welt ein offenes Buch? Wie kommt Flo darauf, daß ich schwul bin? Daß Nils und ich schwul sind? Ich will irgendeine dumme Gegenfrage stellen. Irgend etwas nach dem Motto: Wieso willst du das wissen? Aber ich weiß, daß das alles nur hinauszögern würde. Ich könnte es abstreiten. Ich könnte sagen, daß er sich irrt. Daß Nils und ich nicht schwul sind sondern nur gute Freunde. Ich könnte sehr glaubwürdig ausrasten, ihm an den Kopf werfen, daß er spinnt und ihn einfach stehen lassen. Alles das ging mir durch den Kopf. Aber es war irgendwie klar, daß ich das alles NICHT machen konnte. Flo war so was wie mein bester Freund. Mein bester Hetero-Freund. Verdammt, was sollte ich machen. Ich versuchte innerhalb von zwei Sekunden zu entscheiden, was richtig war. Ich beschloß, daß es nicht ohne Gegenfrage ging. Einen Augenblick mehr Zeit, nur einen Moment noch: "Wie kommst du da drauf?"
"Ich weiß nicht. Wenn man euch beide anguckt. Wie ihr miteinander umgeht, redet, wie ihr euch anguckt. Da kommt man ganz automatisch auf die Idee, daß ihr schwul seid."
"Du scheinst dich ja da super auszukennen." Ich weiß nicht, wieso ich so aggressiv antwortete.
"Ich kenne mich da nicht aus, wenn du das meinst. ICH bin nicht schwul. Ich dachte mir ja schon, daß du sauer reagierst." Er drehte sich um und ging wieder ins Haus. Verdammt, was sollte ich machen? Warum nur bin ich so feige? Warum sage ich es nicht einfach?
"Warte! Flo, es tut mir leid, ich wollte nicht sauer reagieren. Echt nicht." Ich guckte ihm in die Augen. Flo, gar nicht mehr so flippig, wie ich ihn kennengelernt habe. Ich habe in den fast zwei Jahren gar nicht gemerkt, wie ernsthaft, wie erwachsen er geworden ist. Ich nicke: "Du hast recht, ich bin schwul."
Flos Gesicht bleibt unbewegt, als er fragt: "War das nun so schwer?"
"Was?"
"War das wirklich so schwer, mir das zu sagen?"
"Ja doch, verdammt noch mal ja."
"Wieso?"
"Wieso? Ich verstehe deine Frage nicht? Wieso das schwer ist? Ja was glaubst du denn? Glaubst du, man kann hier so einfach rumlaufen, hier in der Schule, im Verein und allen Leuten erzählen, daß man schwul ist? Glaubst du das echt? Du bist wirklich ein Hetero. Ein Hetero mit null Plan."
"Aber wir sind befreundet. Du hättest es mir sagen können. Du hättest es mir sagen MÜSSEN. Wenn du ehrlich gewesen wärest. Diese ganzen Sachen mit den Mädels und das alles."
Ina kam raus und umarmte Flo: "Hier bist du. Hast du was zu rauchen?"
Flo schüttelte den Kopf: "Nada. Sorry, ich habe hier gerade eine wichtige Sache mit Tim zu klären. Ich komme bald wieder rein zu dir, ok?"
Ina zog ab. Ich war beeindruckt. Vielleicht sogar etwas geschmeichelt.
"Sorry, aber du hast vielleicht wirklich keine Ahnung, als Hetero. Das ist nicht so easy, so locker. Du erzählst mal eben allen Leuten, daß du schwul bist."
"Und Nils? Ist er dein Freund? Ist er auch schwul?"
Ich schwieg. Ich weiß, wie Nils über das Coming Out denkt. Ich weiß, wie er ausrasten würde, wenn noch mehr Leute wüßten, daß er schwul ist. Also schwieg ich.
"Was ist los."
"Ich will nicht darüber reden."
"Also ja. Oder doch nicht und du bist nur unglücklich in ihn verknallt?"
Ich wollte es nicht, aber ich wurde wieder aggressiv: "Verdammt noch mal, Florian, denkst du denn, das alles ist wirklich so einfach?"
"Mein Gott, jetzt wo ich sowieso schon weiß, daß du schwul bist, kannst du mir auch sagen, was mit Nils ist."
Ich wollte nicht mehr Widerstand leisten. Ich konnte nicht mehr. Theater zu spielen machte keinen Sinn mehr. "Ich werde es dir sagen. Aber du behältst es für dich. Du behältst es für dich auch Nils gegenüber, ist das klar?! Kein Wort zu Nils!"
"Ok."
"Ja, Nils und ich sind befreundet. Er ist MEIN Freund."
"Und warum ist das jetzt so ein Problem."
"Weil Nils damit ein Problem hat."
"Nicht nur Nils, wie mir scheint."
"Das ist total was anderes, total. Nils hätte dir das nicht gesagt, so wie ich, er hätte dir gar nichts erzählt."
"Vielleicht weiß ich ja wirklich nicht Bescheid. Aber ich hätte mich gefreut, wenn du es mir von dir aus erzählt hättest."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das war Florian. Mein bester Hetero-Freund. Und er ist enttäuscht, daß ich ihm nicht gesagt habe, daß ich schwul bin. Manchmal verstehe ich die Welt nicht.
"Wird man sehr mißtrauisch, wenn man schwul ist?"
"Uff, keine Ahnung. Mißtrauisch? Wachsam vielleicht eher. Man paßt auf, daß es die anderen nicht mitkriegen."
"Also ein Versteckspiel"
"Ja, irgendwie schon. Nein, nicht nur irgendwie."
"Aber wie habt ihr euch denn gefunden? Ich meine, bevor du zu uns in die Klasse kamst, hätte ich nie gedacht, daß Nils schwul ist. Auch als ich dich gesehen habe, wäre ich nie auf die Idee gekommen. Nur nach ein paar Monaten, nachdem ich gesehen habe, wie ihr miteinander umgeht, da war es mir ziemlich klar. Also, wie habt ihr euch denn gefunden? Gibt es irgendwelche geheimen Erkennungszeichen?"
"Nein, ich weiß nicht, ich glaube nicht. Es ist passiert, einfach so passiert. Ich bin ausgerastet, er hat mich gegen einen Schrank geworfen und da ist es dann eben passiert."
"Klingt ja höchst spannend."
"Es war vor allem... es war schön. Diese Sekunde, diese erste Sekunde, in der alles so klar war, als sich alles plötzlich auflöste. Ich glaube, daß war bisher der schönste Moment in meinem Leben."
"Wow, du kannst ja richtig romantisch sein."
Ich mußte lachen, Flos Humor ist manchmal einfach nur zum Brüllen. "Und, war es nun so schlimm, mir das zu erzählen?"
"Natürlich nicht schlimm, aber das ändert doch insgesamt nichts da dran, daß ich mich bestimmt nicht vor die Schule stelle und allen erzähle, daß ich schwul bin."
"Du kannst jedenfalls beruhigt sein, ich erzähle es niemandem."
"Und Nils bitte auch nicht."
"Schon verstanden. Irgendwie finde ich das ganz cool. Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen wirst."
"Garantiert nicht. Und jetzt geh wieder rein, sonst schnappt dir noch irgendein anderer Ina weg."
Flo hat irgendwie recht. Es hat nicht wehgetan. Aber es ist halt Flo, ich weiß nicht, wie andere Leute reagieren würden. Aber es ist schon Wahnsinn, wie viele Leute es inzwischen wissen, wie vielen Leuten ich es inzwischen erzählt habe, daß ich schwul bin. Und alle haben eigentlich super reagiert. 'Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen wirst.' Ich muß grinsen. Es ist schon verrückt.
"Hier bist du. Was machst du denn hier draußen?"
"Ich hatte was mit Flo zu besprechen."
"Was denn?"
"Wir haben geklärt, daß ich ihm Ina NICHT wegschnappen werde."
"Haha, sehr witzig."
"Nee echt mal. Naja, jedenfalls so ähnlich."
"Obwohl, niedlich ist sie ja doch irgendwie."
"Nils! Wenn ich da was mitkriege..."
Er kicherte: "Ganz bestimmt nicht."

Freitag, 9. Januar 1998

9. Januar

"Na dann wollen wir mal schauen. Wie wäre es heute genau in zwei Wochen mit der ersten Stunde?"
"Klar, von mir aus auch gleich."
Flos Onkel grinste. Cool! Ich fange in zwei Wochen mit der Fahrschule an. Super! Flo und ich haben uns heute angemeldet. Nils wollte absolut nicht. Ich habe nach der Schule noch mal lange mit ihm geredet. Er hat mir auch noch mal erklärt, daß es wirklich nichts mit dem Geld zu tun hat sondern daß er sich jetzt erst mal richtig intensiv auf irgendwelche Qualifikationen für irgendwelche Erste Mannschaften vorbereiten will. Davon hatte er mir bisher noch nie was erzählt. Und ich bin ehrlich gesagt ein bißchen verwundert darüber. Vielleicht auch etwas sauer. Weil er mir eben jetzt erst was davon erzählt hat, daß er in einer Ligamannschaft mitmachen will. Ok, eigentlich hätte ich es mir ja denken können, bei dem Ehrgeiz, den er entwickelt hat. Aber ich habe im Moment gar keinen Plan, wie das dann weitergeht. Er hat gemeint, daß es durchaus sein kann, daß er dann nach Schifferstadt oder Goldbach oder nach Leipzig geht. Toll, ganz toll. Mir lag auf der Zunge zu fragen, was dann aus uns wird. Aber ich tat es nicht. Das hätte dann wieder eine ewig lange Diskussion nach sich gezogen, so von wegen ich mache mir ja auch Gedanken, wo ich nach dem Abi hingehe ohne ihn zu fragen und überhaupt. Ich warte jetzt einfach erst mal ab.
Überhaupt Geld... das kostet ja echt ein kleines Vermögen, wenn man Fahrschule macht. Das hätte ich gar nicht gedacht. Wahnsinn. Ich glaube, ich muß doch in den Osterferien irgendwie jobben, sonst ist mein Konto wieder total runter. Aber ich freue mich schon tierisch drauf. Endlich nicht mehr diese ewige Fahrerei mit Fahrrad oder Bus oder dem Zug.

Meinem Knie geht es übrigens schon wieder viel besser. Ein wenig merke ich schon noch, daß es wehtut und ich kann auch noch nicht super schnell laufen, aber es ist schon deutlich besser. Also zum Glück nicht zum Arzt und keine Operation.

Flo macht heute Abend eine kleine Party für unseren Inner Circle. Nils holt mich gleich ab und wir tapern gemeinsam hin. Eine Flasche Bailey's habe ich schon besorgt und es wird bestimmt wieder mal total lustig.

Donnerstag, 8. Januar 1998

8. Januar

"Vielleicht solltest du doch lieber Minigolf spielen?"
"Das kannst du ihm ja mal vorschlagen." Ich zeigte auf Nils. Er und Doris waren nach der Schule zu mir gekommen. Ich hatte beschlossen, mir den heutigen Tag schulmäßig zu sparen. Es wäre ja vielleicht gegangen, so mit hinken und humpeln. Aber erstens will ich meinem Knie tatsächlich noch einen Tag Erholung zukommen lassen und außerdem habe ich keine Lust, allen Leuten zu erzählen, was passiert ist. Heute Morgen hat schon Kevin angerufen und sich erkundigt, wie es mir geht. Ich glaube er, hat sich Sorgen gemacht, daß er daran schuld ist. Aber ich habe ihn beruhigt, daß er nichts dafür kann.
"Tim hat noch nicht die richtigen Bewegungen drauf."
Es gibt Momente, wo ich Nils am liebsten an die Wand klatschen könnte. Ich habe ein zerdöppertes Knie und Nils labert klug von "nicht die richtigen Bewegungen draufhaben". Unbelievable!
So ein Tag zu Hause ist aber auch nicht schlecht. Ich habe ein bissele im Internet geguckt, so was man in Richtung Architektur studieren könnte. Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob das wirklich was ist für mich. Irgendwie ist das alles dann doch zu theoretisch. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich genug verrückte Ideen habe, um Architekt zu werden.
"Ich nehme an, du kommst heute nicht zum Training?"
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang. Mein Gott, sei doch nicht so stinkig. Ich kann doch nichts dafür, daß du dir dein Knie verdreht hast."
"Ich sage doch gar nichts."
"Du sagst sehr wohl was, vor allem WIE du was sagst und wie du guckst."
"Wie gucke ich denn? Doris? Gucke ich vielleicht irgendwie anders als sonst? Soll ich mir vielleicht eine Sonnenbrille aufsetzen?"
"Euch kann man ja echt nicht zuhören. Ihr seid ja wie ein altes Ehepaar."
"Ich habe nichts gemacht."
"Du bist zickig."
"ICH bin zickig? Ich glaub das alles nicht. Wieso bin ich zickig, nur weil ich sage, daß ich heute nicht zum Training komme. Hallo? Geht's euch noch gut?"
"Ist ja schon gut."
"Wenn du weiter mit mir redest wie mit einem kleinen Kind, dann werde ich wirklich zickig."
"Du bist süß, wenn du dich so aufregst."
"Na toll."
Nils nahm mich in den Arm und küßte mich: "Verrücktes Teil."

Mittwoch, 7. Januar 1998

7. Januar

"Tim? Tim! Verdammt noch mal, sag doch was."
"Shit!" war alles, was ich hervorbrachte. Mein Knie! Mein Knie tat höllisch weh. Ich schloß die Augen und mir wurde übel. Nur nicht kotzen, dachte ich. Nur jetzt nicht hier kotzen. Es mußte natürlich genau im letzten Trainingskampf passieren. Und es mußte ja unbedingt Kevin sein, der sowieso mindestens 15 Kilo schwerer ist als ich.

Toll, ganz toll. Ringen ist ja so ein toller Sport. Und ich weiß gar nicht mal, wie das passiert ist. Ich weiß nur noch, daß ich auf einmal so einen stechenden Schmerz im Knie hatte und aufschrie.
Nachdem Mahmout ein Coldpack draufgebeppt hatte, ging es etwas besser. Aber richtig gut war es nicht. Zum Glück hat er mich über sein Handy Dad anrufen lassen, der mich dann abgeholt hat. So eine Scheiße, echt. Zu Hause brauchte Mom nichts zu sagen. Ich weiß genau, was sie denkt. Die ganze Familie steht um mein Bett herum. Toll, ganz toll!

"Vielleicht ist es besser, wenn wir dich zum Arzt bringen."
"Jetzt! Um halb zehn, mitten in der Nacht. Außerdem ist es schon viel besser, morgen ist es bestimmt wieder völlig ok."
Das war glatt gelogen, aber was sollte ich machen.
"Laßt mich einfach in Ruhe, ich lege mich hin, penne eine Runde und morgen ist wieder alles ok. Und wir", ich nehme Lisas Hand, "wir bauen am Samstag einen großen Schneemann, ok?"
Lisa lächelt wieder und das allein läßt meine Schmerzen schon fast wieder verschwinden. Es klingelt. Es ist Nils. Mein Nils.
"Wie geht's", will er wissen.
"Geht so, ich glaube nur, ich brauch' mal morgen eine Auszeit."
"Willst du das nicht mal untersuchen lassen? Das ist doch jetzt schon das zweite oder dritte Mal, daß du was mit dem Knie hast. Vielleicht ist es der Meniskus oder so."
"Vom Untersuchen wird es auch nicht besser."
"Vielleicht muß da was operiert werden."
"Ich laß mich doch nicht operieren."
Wir waren allein. Nils drückte mein Hand und küßte mich auf die Stirn. "Du bist unmöglich. Da muß doch echt was passieren."
"Wenn es in den nächsten Tagen nicht besser wird, gehe ich zum Arzt, versprochen."
"Soll ich da bleiben heute?"
"Brauchst du nicht, das pack ich schon."

Jetzt bin ich allein. Es ist zwar irgendwie auch schön, wenn sich alle Welt um einen kümmert, aber eigentlich mag ich es nicht, wenn mich alle betutteln. Ich versuche aufzustehen, humpele zum Schreibtisch. Es geht so halbwegs, aber richtig toll ist es nicht. Shit, was mache ich, wenn es nicht besser wird? Vielleicht ist es ja wirklich was mit dem Meniskus oder der Kniescheibe. Das ist irgendwie seit damals beim Tennis immer wieder gekommen. Zwischendurch merke ich gar nichts, dann mache ich mal eine blöde Bewegung und schon dreht sich wieder alles um mich. Mom hat mir was gegen die Schmerzen gegeben, und es wirkt langsam. Jetzt versuche ich erst mal zu pennen.

Dienstag, 6. Januar 1998

6. Januar

"Jetzt schon?"
"Wie 'jetzt schon'? Natürlich jetzt schon, ich werde bald 18."
"Laß mich raten, und deine Eltern finanzieren dir den Führerschein und natürlich ein Auto."
"Quatsch nicht. Die wissen noch gar nichts davon."
"Ich weiß nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt einen Führerschein machen will."
"WAAAS? Wieso denn nicht? Ohne Führerschein... das geht doch nicht. Da ist man ja gar kein richtiger Mensch. Erst recht hier nicht."
Nils verdrehte die Augen.
"Na ihrs, was geht?" Flo grinste uns an.
"Nils will keinen Führerschein machen."
"Hab ich gar nicht gesagt. Vielleicht will ich ja nur nicht gerade JETZT den Führerschein machen."
"Ihr könnte zu meinem Onkel gehen, der hat die Fahrschule hinterm Bahnhof. Da ist es billiger und überhaupt."
"Und? Was ist nun?"
"Ich weiß nicht, ich will jetzt noch nicht."
Es gongte. Ich war sauer. Irgendwann kam mir dann aber die Idee, daß Nils vielleicht deshalb nicht den Führerschein machen will, weil er nicht genug Geld hat. Ich habe ihn beim KT danach gefragt, aber er meinte, daß es das nicht ist. Er versuchte mir zu erklären, daß er das zeitlich gar nicht auf die Reihe kriegen würde, Training, Fahrstunden und Theorie und so. Na toll. Was soll denn das mit dem Training? Na und? Dann fällt halt ein Training aus, wenn man Fahrstunde hat. Aber nein, das kann Nils natürlich nicht. Ich rufe Flo an.

Ok. Flo und ich haben uns für Freitag verabredet. Da gehen wir zur Fahrschule von seinem Onkel und melden uns an. Und entweder kommt Nils mit oder nicht. Jetzt muß ich das Ganze nur irgendwie Mom und Dad beibringen. Aber es wird schon irgendwie gehen.

Montag, 5. Januar 1998

5. Januar

"Kaum ist mal ein paar Tage kein Training und schon stellst du dich an wie am ersten Tag."
"Na schönen Dank." Ich war mal wieder stinkig. "Vielleicht kannst du ja besser ringen als ich, aber der große Motivator bist du nun echt nicht. So jedenfalls nicht."
"Ich heiße eben nicht Heiko."
"Jeez, geht das schon wieder los." Ich legte mich auf den Rücken, machte die Augen zu und beschloß, liegenzubleiben.
"Na komm schon, einmal wenigstens noch. Probieren."
"Ich kriege das nicht hin mit dieser komischen Beinschraube. Alles, was irgendwie da unten an den Beinen gemacht wird, kriege ich nicht auf die Reihe."
"Deine Beinangriffe sind doch nicht schlecht."
"Also gut, probieren wir's noch mal."
Ich glaube, es war ein Fehler gewesen, Nils dieses Trainingsbuch zu schenken. Jetzt muß ich es ausbaden.
Bergbach ist voller Schnee. Wie unpraktisch.
"Wir könnten nächste Woche ein bißchen Skifahren."
"Ohne mich. Mich kriegst du garantiert nie auf solche Dinger."
"Sei nicht so affig."
"Ich bin nicht affig. Aber was soll ich auf so einen Berg erst hoch, um dann wie ein Besengter wieder auf zwei Brettern runterzurasen?"
"Tim, der Verkünder aller Wahrheiten."
"Jawoll. Aber echt mal. Das ist doch voll daneben."
"Das ist nicht daneben, das macht Spaß."
"Wat de Buer nich kennt, dat frett hei nich."
"Was?"
"Das ist Platt und das beschreibt es eigentlich ganz genau."
"Und was heißt das nun?"
"Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht."
"Das beschreibt nicht die Sache, sondern eher DICH ganz genau."
"Ja und?"
"Du bist unmöglich." Nils mußte kichern.
"Ja, und ich bin auch noch stolz drauf."

Wir sind zurück in Bergbach und mir fehlt Hamburg viel mehr als in den Monaten vorher. Ich habe echt wirklich das Gefühl, daß ich überhaupt nicht hierher gehöre. Das Blöde ist nur, ich habe niemanden, mit dem ich darüber reden kann. Nils würde es nicht verstehen. Vor allem würde er es gleich total auf sich beziehen. Mit Mom und Dad kann ich sowieso nicht darüber reden. Vielleicht ja noch mit Phil.
Das Problem ist nur, was mache ich nach dem Abi? Ich will irgendwas studieren. Aber was? Shit, und ich befürchte echt, daß es dann in Stuttgart ist. Vielleicht sollte ich mir ja was zum Studieren aussuchen, was man nur in Hamburg studieren kann. Schiffbau vielleicht. Na toll, so interessant finde ich DAS auch nicht. Studieren, ja was studiere ich denn? Ich habe keine Ahnung. Irgendwie würde mich ja was mit Architektur interessieren. Aber ich kann irgendwie nicht gut genug zeichnen. Zum Glück habe ich ja noch ein bissele Zeit. Zeit. Zeit! Was jetzt erst mal ansteht, ist der Führerschein. Yeah! In zwei Monaten werde ich 18. Da kann ich meinen Führerschein machen. Ich muß gleich mal morgen mit Nils reden, vielleicht machen wir den zusammen.

Sonntag, 4. Januar 1998

4. Januar

"Du schreibst wohl ewig Tagebuch."
"Warum nicht."
"Mich würde ja mal total interessieren, WAS du das reinschreibst."
"Nix da. Das ist MEIN Tagebuch."
"Komme ich da drin auch vor?"
"Na klar."
"Was schreibst du denn da über mich?"
"Geheim. No chance."
"Pfff."
Wir sitzen im Zug zurück nach Bergbach. Gestern haben Nils und ich zum ersten Mal zusammen geschlafen seit wir in Hamburg waren. Es war einfach nur schön. Mehr kann ich gar nicht sagen. Am Bahnhof dann die große Verabschiedung von Oma. Sie hat tatsächlich einen großen Apfelkuchen für mich gebacken und ihn mir mitgegeben. Ich freue mich total drauf, ihn heute Abend mit Nils zu essen. Ok, vielleicht nicht den ganzen Kuchen.
"Morgen ist wieder Training."
"Erinnere mich nicht da dran."
"Wieso denn nicht? Wird höchste Zeit, daß es wieder losgeht."
"Meinst du?"
"Na klar! Schließlich willst du dir doch die Loveparade und den CSD verdienen oder?"
"Verdienen?"
"Na klar", Nils sitzt mir gegenüber und grinst. 'Verdienen' hatte er gesagt, ganz schön strange. Und verrückt.

Samstag, 3. Januar 1998

3. Januar

"Nun sei doch mal ehrlich. Wieso glaubst du, daß Hamburg irgendwie schwuler ist als Stuttgart?"
"Ich glaube doch nicht, daß Hamburg schwuler ist als Stuttgart. In Hamburg ist nur einfach mehr los. Es ist größer und überhaupt."
"Du willst wirklich wieder zurück, oder?"
"Ich weiß es nicht. Es ist für mich hier so, als wenn ich nach Hause komme. Nach Stuttgart, nach Bergbach, da gehöre ich nicht hin. Ich gehöre hier hin. Aber ich weiß auch, daß ich noch woanders hingehöre. Nämlich zu dir. Ich will dich nicht verlieren. Ich will dich nicht verlassen."
Nils guckte mich einfach nur an und dann lächelte er. Er nahm mich in den Arm und hielt mich fest.
"Was machen wir nur mit dir?", murmelte er.
"Keine Ahnung. Laß uns abwarten, was passiert. Einfach abwarten."
"Ist vielleicht wirklich das Beste."
"Weißt du was? Was hältst du davon, wenn wir im Sommer zur Loveparade nach Berlin fahren? Und zum CSD nach Hamburg?"
"CSD?"
"Christopher Street Day. Sag bloß, das kennst du nicht."
"Irgendwie kommt mir das bekannt vor."
"Jeez, dann laß dich überraschen."
"Wir können doch nicht immer wieder durch halb Deutschland gurken."
"Warum nicht? Wenn wir schon da unten im Ländle bleiben, können wir ja wenigstens mal ab und zu ausbrechen."
"Ich sehe schon, das heißt wieder jobben gehen."
"Im Leben gibt es nichts umsonst."
"Laß mich raten: Das kommt von deiner Mutter."
"Von meinem Dad. Ist ein alter hanseatischer Kaufmannsgrundsatz."
"Berlin. Na ich weiß nicht. Würdest du nach Berlin ziehen wollen?"
"Wenn nicht Hamburg, ja vielleicht dann Berlin."
"In Berlin gibt es doch auch nichts Gescheites zum Ringen. Kein Verein in der Bundesliga, alles nur viertklassig."
"Vielleicht sollte ich mir doch einen Freund mit einem anderen Sport suchen."
Ich glaube, Nils fand das gar nicht lustig. Aber vielleicht machen wir das ja wirklich. Vielleicht ja wenigstens mit der LP in Berlin. Das kann ich mir ganz witzig vorstellen. Und das mit dem CSD ist auch schon eine komische Sache. Auf einmal habe ich überhaupt keine Probleme, hier in Hamburg allen möglichen Leuten zu erzählen, daß ich schwul bin. Ok, vielleicht nicht gerade Oma. Aber den anderen Leuten, bei denen ist es mir total egal. Und ich glaube, ich hätte auch überhaupt kein Problem damit, hier bei CSD mitzulaufen. In Stuttgart wäre das schon was anderes. Ich weiß gar nicht, ob es da überhaupt einen CSD gibt. Wahrscheinlich nicht.

Morgen geht es zurück nach Bergbach. Und ich habe überhaupt keine Lust. Ich würde am liebsten mit Nils hier bleiben. Bei Oma im Haus. Wir könnten in dem großen Zimmer wohnen bleiben. Wir würden aufs GySue gehen, auch wenn wir dafür durch die halbe Stadt fahren müßten. Nach der Schule mit Tassi und Dommes im Flag Billard spielen, an der Alster sitzen, einfach nur in irgendwelche coolen Läden gehen, interessante Leute treffen, im Sommer an der Elbe langradeln, nach Sylt fahren, am Strand liegen, endlich irgendwann meinen Bootsführerschein machen. Nein, es geht zurück nach Bergbach. Da, wo die Zeit stillzustehen scheint. Aber irgendwie, ja, es geht auch zurück zu Doris, zu Flo, zu Lisa, zu Mom und Dad, zu Max und Kevin, zu Lena, zu Tobias und irgendwie, ja auch zu den anderen Jungs im Verein. Es ist verrückt. Ich bin noch gar nicht so lange dort, aber trotzdem gibt es bereits so viele Leute, die mir irgendwie wichtig sind.
Aber es ist wirklich seltsam. Warum bin ich mir nicht so darüber klargeworden, daß ich schwul bin, als ich hier noch gewohnt habe? Ok, ich bin älter geworden. Vielleicht auch wirklich ein bissele selbstbewußter. Aber es wäre alles vielleicht viel einfacher gewesen, wenn ich mir schon hier darüber im Klaren gewesen wäre. Hier bin ich und ich habe überhaupt kein Problem, mit meinem Freund Hand in Hand über den Rathausmarkt zu tapern. Das würde ich nie auf der Königstraße machen. Verdammt, warum eigentlich nicht? Verdammt noch mal. Irgendwie habe ich absolut keinen Bock mehr darauf, mich immer zu verstecken, immer nur zu lügen, Theater zu spielen. Nur weil ich einen Jungen liebe muß ich alle Leute, die halbe, nein fast die ganze Welt anlügen, Versteck spielen. DAS ist doch nicht normal!
Nils und Phil reparieren die Regenrinne am Schuppen. Und ich stehe wieder am Fenster und schaue Nils zu. Irgendwie bin ich stolz darauf, einen Freund zu haben. Nils zu haben. Einen Freund, der wahrscheinlich genauso kompliziert ist wie ich. Heute Abend werden wir nicht weggehen, obwohl Samstag ist. Wir werden alle am Kamin sitzen, einfach nur so, Klönsnack. Das Feuer wird knistern, Phil und ich werden uns angucken und daran denken, wie ich als kleines Kind einfach mal so einen Holzscheit aus dem Feuer gezogen habe und ihn durch das Zimmer tragen wollte: Natürlich so glühend wie er war. Die Story kommt so ziemlich bei jeder Familenfeier auf den Tisch. Und ich werde Nils angucken, wir werden uns in die Augen blicken und nichts sagen. Weil wir genau wissen, was wir fühlen.

Freitag, 2. Januar 1998

2. Januar

"Irgendwie muß ich mich ein bissele bewegen. Ich werde ja total fett."
"Wat nich' alles."
"Doch echt." Wie zum Beweis, zog Nils sein Sweatshirt hoch.
"Spinner, wenn du nicht sofort damit aufhörst, falle ich sofort über dich her."
"Mach doch."
"Wir könnten in die ASH gehen, ein wenig schwimmen."
"Ahaaa, in DEINE berühmte ASH? Da wo du früher immer alle Jungs abgeschleppt hast?"
"Ich habe nicht 'IMMER ALLE' Jungs da abgeschleppt. Unbelievable!"
"Aber warum eigentlich nicht, ist ja vielleicht eine ganz nette Idee. Gehen wir etwas schwimmen. Ist ganz gut für die Kondi."
"Ich dachte ja echt schon, daß du krank bist, weil du bisher kaum was von Training geredet hast."
"Das wird alles anders, jetzt im neuen Jahr. Da gibt's keine Schlamperei mehr."
Ja, ja. Es wird alles anders. Was soll denn anders werden? Noch mehr Trainings-Streß? Wenn ich ehrlich bin, genieße ich die trainingsfreie Zeit. Ok, ein bißchen vermisse ich das Ringen schon, aber eben nur das Ringen und nicht das Trara drumherum mit Training und Wettkämpfen. Auf der anderen Seite, wenn ich mir überlege, wie weit ich schon gekommen bin.
Auf jeden Fall sind wir in die ASH getapert und sind ewig lange geschwommen. Und ich habe nicht nach schnuckeligen Jungs geguckt und auch nicht unter der Dusche oder sonstwo gebaggert. Nils meinte, so langsam lernt er alle Orte aus meiner Vergangenheit kennen. Das stimmt irgendwie schon. Wobei die ASH ja nun bestimmt kein Highlight ist. Aber irgendwie, irgendwie ist es komisch. Irgendwie zieht mich dieses Schwimmbad schon magisch an. Ok, nicht nur dieses. Seltsam.
Auf jeden Fall sind wir noch hinterher ins Feuerstein getapert und haben uns den Bauch ordentlich vollgeschlagen. Nils mußte natürlich mosern, weil ihm die Ecke von Hamburg nun überhaupt nicht gefallen hat. Aber das kann ich jetzt auch irgendwie nicht ändern. Ist eben nicht alles so ordentlich und sauber wie im Schwabenland.

Heute Abend werden wir mal einen neuen Laden austesten, den Dommes entdeckt hat. Ich bin gesp