Sonntag, 31. März 1996

31. März

7:40
»Cool, daß du mitkommst«, hatte Nils gesagt. Wir trafen uns alle auf dem Bahnhof. Der Zug war rappelvoll. Es schien, als wenn ganz Schwaben nach Stuttgart wollte. Ich hasse es, mit der Bahn zu fahren. Ich habe mich lange mit Max unterhalten. Er fährt voll auf Melanie ab, der Ärmste. Daß die Heten immer auf die blödesten Mädels abfahren. In Stuttgart sind wir erst mal zu McDonald’s getapert.

Zum Glück kannte Melanies Bruder den Türsteher vom X1, sonst wären wir wahrscheinlich nicht reingekommen. Aber der Laden ist voll cool, die Leute auch. Die Musik ist geil und dröhnt wie bei den Deichtorfeten. Endlich mal wieder abdancen. Das Schrillste war aber die Schaumkanone. Natürlich rasteten die Typen total aus, als die Mädels mit nassen T-Shirts ihre Titten hüpfen ließen. Ich guckte lieber Nils an, der sein T-Shirt ausgezogen hatte, und bewunderte seine Brustmuskeln und seinen flachen Bauch. Ich habe ihn sogar beim Dancen kurz berührt, er hat es nicht mal gemerkt. Irgendwie bin ich sogar fast froh, daß er hetero ist. Es waren total viele süße Jungs da, ein paar haben mich sogar angelächelt. Als wir gegangen sind, habe ich tatsächlich zwei gesehen, die sich geküßt haben. Ich haben einen Moment überlegt, ob ich noch bleiben sollte, aber alle wollten gehen, um den Zug zu bekommen, also zottelte ich mit ab. Von der Rückfahrt habe ich nicht viel mitbekommen, nur daß Max tatsächlich mit Melanie rumknutschte.

Auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause habe ich mich fast verlaufen. Das wird einen schönen dicken Kopf geben. Mom macht gerade Frühstück, ich habe ihr gesagt, daß ich erstmal pennen will. »Nicht, daß das wieder so ausartet wie in Hamburg«, moserte sie. Ich hab sie einfach stehengelassen.

16:25
»Moin Lütter.«
Phil hat gerade angerufen. Normalerweise bin ich stinkig, wenn mich jemand weckt, aber Phil darf das. Wir haben lange gequatscht, Oma wird sich über die Telefonrechnung freuen. Und mir dröhnt der Kopf. Dad grinste mich an, als ich runterkam: »Na, alles wieder frisch?« Ich murmelte irgendwas. Dann rief auch noch Doris an und fragte, ob wir uns treffen. Ich habe dankend abgelehnt. Sie kicherte, als ich ihr sagte, wo ich war. »Das kann ich mir vorstellen, daß das der richtige Laden für so ein Groß-stadtei wie dich ist«, sagte sie. Sie wollte wissen, ob Tobi dabei war. Erst als ich aufgelegt hatte, wunderte ich mich, warum sie mich das gefragt hatte.

Samstag, 30. März 1996

30. März 1996

»Nein, vergiß es, ich komme nicht mit.«
Ich habe versucht, Tobi zu überreden, doch mit ins X1 zu fahren. Aber er ist stur. Was soll's, dann soll er eben hier versauern. Ich überlege, was ich anziehen soll. Ich glaube, ich werde mein altes Chiemsee-Shirt, das Santa Cruz Basecap und meine weite Levis nehmen, das ist hier in der Provinz bestimmt der Renner.

Freitag, 29. März 1996

29. März

»Hey, guckt mal, Flori hat einen Ständer!«
Wir waren beim Umziehen. Silvio hielt Florian von hinten umklammert und hob ihn hoch. Florian wehrte sich verzweifelt und strampelte, doch Silvio hielt ihn fest. Einige lachten nervös. Es sah tatsächlich aus, als hätte Florian einen Ständer.
»Laß den Scheiß«, rief Nils.
»Wieso, ist doch cool«, grinste Silvio.
Silvio ist einen Kopf größer als Nils aber trotzdem ließ er Florian los, als Nils auf ihn zukam. »Bist du vielleicht auch 'ne Schwuchtel?«
»Ich zeige dir, wer hier die Schwuchtel ist!« Nils wollte auf ihn losgehen, doch in diesem Augenblick kam Alfinger rein: »Was ist denn hier los?« Augenblicklich war Ruhe. Jeder sah zu, daß er in seiner Ecke verschwand.

Ich guckte zu Tobi. Der schien von der ganzen Szene völlig unbeeindruckt zu sein und kramte in seiner Sporttasche. Florian saß auf der Bank, stierte auf den Boden und rieb sich seinen Arm. Plötzlich fing Max an zu lachen und löste die Situation auf. Das heißt, bis auf Flori, der wutentbrannt davonstapfte. Ich hätte Tobi auf dem Nachhauseweg zu gern gefragt, was er von der ganzen Szene hielt, doch ich ließ es lieber.

Gerade hab ich Melanie angerufen und ihr gesagt, daß ich morgen mitkomme. Ich bin gespannt, wie der Laden ist. Ist Florian schwul? Nein, ich glaube nicht. Er ist mit Anja aus der Nachbarklasse zusammen. Und Silvio ist sowieso ein Arsch, das steht fest. Aber irgendwie stelle ich mir gerade vor, er würde mich in so einem Griff festhalten. Natürlich nicht in der Umkleide. Nee, lieber doch nicht.

Donnerstag, 28. März 1996

28. März

»Wie wär’s mit Chopin?« Tobi saß an seinem Klavier und wollte wissen, was er spielen sollte.
»Öhmmm.«
»Aha, also lieber was Modernes. Elton John?«
»Von mir aus.« Etwas modernes?
Ich saß auf seinem Bett und lehnte mich zurück. Hier schlief Tobi. Ich schloß die Augen. Ob er sich auch jede Nacht einen runterholt? Zum Glück saß er mit dem Rücken zu mir und spielte ein herrlich trauriges Stück. Und dann plötzlich, ich weiß nicht wie, schossen mir Tränen in die Augen. Verdammt, mußte er ausgerechnet so ein trauriges Lied spielen? Gott sei Dank hatte ich mich wieder im Griff, als er fertig war, und ich brachte sogar ein »sehr schön« hervor. Tobi lächelte. »Laß uns noch etwas in die Stadt gehen«, schlug ich vor. Nur raus aus diesem Zimmer. Wir gingen zum Marktplatz und lästerten über die vorbeikommenden Leute.
»Wie ist es in Hamburg?« wollte er wissen.
»Größer.«
»Wow! Und mehr nicht?«
Ich erzählte ihm von Hamburg, wohin man gehen konnte, daß man dort nicht nur einen popeligen Marktplatz zum Abhängen hatte. Tobi hörte interessiert zu. Weiter als bis Stuttgart schien er noch nicht in seinem Leben gekommen zu sein. Ich schlug ihm vor, Ostern mitzukommen. Doch er schüttelte nur den Kopf. Es wäre auch schwierig gewesen, Mom und Dad das klarzumachen.
Tobi, Tobi, was soll ich nur machen? Warum, verdammt noch mal, kann ich ihm nicht einfach sagen, was ich für ihn empfinde? Wenn er mich anschaut, rast mein Herz, und mir
wird ganz warm. Ich möchte ihn einfach ihn die Arme nehmen, festhalten und drücken. Ja, schaut nur alle her! Scheiß drauf, was ihr denkt! Warum ist das alles so schwer?

Mittwoch, 27. März 1996

27. März

»Kommst du Samstag mit ins X1?« Melanie hatte mich in einem unachtsamen Moment auf dem Hof erwischt.
»Wohin?«
»Ins X1, ein Laden in Stuttgart.«
»Und was geht da ab?«
»Ich glaube, ist genau der richtige Laden für dich. Total cool, coole Leute, coole Musik.«
»Woher weißt du, auf was für Läden ich stehe?« Meine Stimme klang gereizt.
»Na ja, ich dachte ...«
»Und wie kommt man da hin?«
»Na, mit der Bahn und morgens mit dem ersten Zug wieder zurück.«
Die Aussicht, völlig fertig früh morgens mit dem Zug durch Schwaben zu fahren, finde ich nicht so verlockend. Andererseits, endlich mal wieder richtig abdancen, volldröhnen. Ich werde es mir überlegen. Tobi will natürlich nicht mitkommen. »Nicht mein Ding«, meinte er. Und als ich ihm sagte, wer alles mitfährt, verzog er das Gesicht: »Na, viel Spaß.« Das regte mich tierisch auf, aber ich sagte nichts. Er hat kein Recht, eifersüchtig zu sein. Mom und Dad sind nicht sonderlich begeistert von der Idee. Dad hat sogar angeboten, mich dann aus Stuttgart abzuholen. Das ist ja nund total daneben. Das letzte Mal, daß ich so was zugelassen hatte, war in der siebenten Klasse nach der Geburtstagsfete bei Tassi. Ich kam mir vor wie ein kleines Kind.
Etwas TV und dann schlafen.

Dienstag, 26. März 1996

26. März

»Hey, kommst du mit, was essen?«
Immer dienstags gibt es Mittagessen in einer Art Schulkantine, und Max fragte mich, ob ich mitkomme. Bisher fand ich ihn ziemlich nichtssagend, warum fragte er mich denn jetzt? Ich ging mit. Er ist ganz witzig und brachte mich etwas auf andere Gedanken.
Den Nachmittag verbrachte ich damit, Ordnung in meine CDs zu bringen. Irgendwann kam Mom, und wir fuhren nach Stuttgart, um Dad vom Flughafen abzuholen. Während wir warteten, fiel mir ein anderer Junge auf. Er sah richtig niedlich aus, viel kleiner als ich, ganz kurze blonde Haare und guckte ständig zu mir rüber. Einmal lächelten wir uns sogar an. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, was sollte ich machen? Was wäre, wenn ich einfach zu ihm rübergehe und ihm sage, daß ich ihn niedlich finde? Ich vertrieb den Gedanken wieder und kaufte lieber ein Eis für Lisa. Dad sieht bedrückt aus, die fast 200 Leute muß er wohl wirklich entlassen. Die Zentrale hat ihm das Go gegeben, jetzt muß er das durchsetzen.

Ich liege ich auf dem Bett und denke wieder an den Jungen vom Flughafen, den ich Jan nenne. Ich male mir aus, er wäre jetzt hier und alles wäre so einfach.

Montag, 25. März 1996

25. März

»Na, das war ja nicht so toll.«
Ich nickte, das war mir klar, Mathe total verhauen. Was soll's, es ist mir egal. Ich lasse die Schule an mir vorbeirauschen und freue mich auf die Pausen, in denen ich mit Tobi und Doris quatschen kann. Heute nachmittag war ich bei Tobi, wir haben Musik gehört, gequatscht und gelesen. Ich versuche, ihn einfach als einen Kumpel zu sehen, mehr nicht. Es klappt ganz gut. Mom war etwas verwundert über die Mathearbeit. Sie wollte wissen, ob der Stoff hier zu schwer wäre. Ich schüttelte nur den Kopf und sagte, daß ich an diesem Tag nicht gut drauf war. Es schien ihr zu reichen. Am Abend rief Phil an, und ich habe lange mit ihm gequatscht. Wir sollen zu Ostern nach Hamburg kommen. Ich freue mich. Endlich raus aus diesem Muff-Kaff hier.

Sonntag, 24. März 1996

24. März

»Hast du mal Feuer?«
»Nein, ich rauche nicht.« Das Mädel zieht ab. Ich sitze auf dem Markplatz. Es ist wieder einer dieser Sonntagnachmittage, die ich so hasse. Ich habe lange geschlafen, Frühstück und Mittag ausfallen lassen. Als ich runter kam, hatte Mom nur milde gelächelt und Gott sei Dank nichts gefragt. Irgendwann bin ich in die Stadt gefahren. Es ist, als wenn ich suche. Selbst hier muß es doch Jungs wie mich geben. Wo, verdammt noch mal, sind sie? Sitzen sie alle zu Hause? Es ist wie in Hamburg. Ich laufe stundenlang durch die Stadt und gucke jeden Jungen an. Geht es ihm genauso wie mir? Warum ist es nur so schwer? Ich stelle mir vor, was wäre, wenn sich alle, denen es so geht wie mir, auf den Markplätzen überall auf der Welt treffen würden. So habe ich schon ewige Zeiten in Hamburg gesessen, auf dem Rathausplatz, an der Alster, am Gänsemarkt. Doch alle, die vorüberkamen, schienen unheimlich beschäftigt zu sein und düsten nur so vorbei. Wo seid ihr?
Tobi, Tobi, vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß ich ihm gestern nichts gesagt habe. Obwohl, ach, ich weiß nicht. Es ist irgendwie alle Scheiße.

Samstag, 23. März 1996

23. März

»Soll ich dich nicht wenigstens abholen?«
»Ma, bitte! Ich fahre mit dem Rad hin, das ist überhaupt kein Problem. Außerdem weiß ich gar nicht, wie lange das heute abend dauert.«
»Aber du hast gesagt, der Seehof liegt ziemlich weit draußen, und du kennst dich doch auch noch nicht so gut aus hier, stell dir mal vor, du verfährst dich.«
»Erstens kommt Tobias aus meiner Klasse mit, der kennt sich hier aus, und so weit ist es ja nun auch nicht, jedenfalls nicht so weit wie von Ohlstedt nach Wedel.«
Mom mußte lachen. Sie wußte genau, worauf ich anspielte, und die Diskussion war zu Ende. Sie wünschte mir viel Spaß, aber natürlich nicht ohne mir ihr obligatorisches »Paß auf, und komm' nicht zu spät!« hinterherzurufen.
Uff, ich war draußen und fuhr zu Tobi. Der maulte, weil er plötzlich doch nicht mitkommen wollte. Wir diskutierten tatsächlich eine halbe Stunde lang und ich war kurz davor, ihn einfach stehenzulassen. Schließlich kam er doch mit und wir fuhren in Richtung Kocherseetal. Tobi redete kaum, und wenn, war er nur total kurz angebunden. Ich versuchte, ihn nach allen möglichen Leuten auszufragen, die vielleicht kommen würden, aber meistens zuckte er nur mit den Schultern. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich hielt an. »Paß mal auf«, sagte ich. »Wenn du absolut keinen Bock hast, dann fahr' zurück. Ich habe jedenfalls keine Lust, daß du mich den ganzen Abend vollmaulst mit deiner Stink-Laune.« Ich erschrak selbst, wie laut ich auf einmal geworden bin.
»Das verstehst du nicht.«
»Ach ja?«
»Tim, das hat nichts mit dir zu tun, o.k.? Ich bin bloß im Moment nicht so gut drauf.«
»Was ist denn los?« Ich suchte in seinem Gesicht nach Antworten, doch er schaute weg.
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Nicht? Komm, ich dachte, wir sind Freunde.«
»Freunde?« Seine Stimme wurde schärfer. »Wie lange kennen wir uns schon? Hä? Du scheinst ja sehr schnell Freundschaften zu schließen. Aber bei mir geht das ein bissele langsamer.«
Ich war völlig verwirrt: »Äh, ich dachte nur... ich kann dir irgendwie helfen.«
Wir sahen uns eine halbe Ewigkeit an. Dann lächelte er: »Tut mir leid, war nicht so gemeint. Komm, heute abend gibt's Fun bei unserer Öko-Trine. Los, wer zuerst am Bahnübergang ist.« Er raste los, und ich hatte Mühe hinterherzukommen. Plötzlich war er wie ausgewechselt und redete wie ein Wasserfall. Doch was eigentlich mit ihm los war, sagte er nicht.

»Hallo, schön, daß ihr da seid.« Doris schob uns ins Haus. Es waren so etwa zwanzig Leute da. Aus unserer Klasse aber nur Sophie und Maria, aber wenigsten kannte ich ein paar andere vom Sehen aus unserer Schule. Tobi wich die erste Zeit überhaupt nicht von meiner Seite, aber das war gut so. Es gab kein Bier, nur Rotwein, der mich ziemlich wirr machte. Wir spielten ein paar Runden DSA, quatschten, es war eine voll gute Stimmung, obwohl die meisten Leute die totalen Ökos waren.

»Was, du warst noch nie auf einem Bauernhof?« Doris schaute mich ganz erstaunt an. Oh Shit, was hatte ich gesagt? Ich stand wieder mal da wie der totale Depp. Ich versuchte, die Situation irgendwie zu retten: »Nö, so was haben wir in Hamburg nicht«, lachte ich. »Na dann komm mit, ich zeige dir den Hof.« Ich suchte Tobi. Der saß mit einer Gruppe von Leuten zusammen und hörte bei irgendwas sehr interessiert zu. Doris schleppte mich durch mehrere Ställe mit Kühen, Schweinen und Ziegen. Es stank fürchterlich, und die meisten Viecher schliefen sowieso. Ich war froh, als ich wieder an der frischen Luft war. Jetzt wußte ich also alles über ökologischen Landbau und artgerechte Tierhaltung.
»Ich bin beeindruckt.«
»Stadtkind«, lachte Doris. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Na ja, wenn du mal in Hamburg bist, zeig' ich dir eine richtige Stadt und einen richtigen Hafen.«
»Abgemacht.« Sie lächelte. Ich fand sie total nett, und irgendwie hätte ich sie beinahe sogar fast in den Arm genommen. »Na komm«, sagte sie, »lassen wir deinen Tobias nicht so lange warten.«
»Wie?« stotterte ich. Aber sie zwinkerte mir nur kurz zu und ging ins Haus. Ich versuchte, den Sinn in ihren Worten zu finden, doch sie verschwand im Klo, und ich setzte mich zu den anderen. Tobi hatte vom Erzählen ganz rote Wangen bekommen und lachte mich an: »Na, alles klar?«
»Logo, ich weiß jetzt alles über Kühe und Schweine und überhaupt.« Wir tranken noch mehr Wein, und ich wäre beinahe in einer Ecke eingeschlafen, hätte Tobi mich nicht irgendwann gefragt, ob wir nicht fahren wollten. Es war schon nach eins, Mom würde sich bestimmt wieder Sorgen machen. Doris schlug vor, daß wir über Nacht bleiben könnten, aber ich lehnte ab. Als wir draußen waren, atmete ich mehrmals die kalte Luft und versuchte meinen Kopf wieder freizubekommen. »Kannst du noch fahren?«
»Na klar.«
»Dann laß uns über den Kochertalweg zurückfahren, das geht doch bestimmt schneller.«
»Ohoo, durch den Wald, über'n Berg.«
Wir düsten los. Ich hasse Berge, und ich hasse Berge, wenn es dunkel ist und ich zu viel Alk intus habe. Ein paar Mal habe ich mich fast langgelegt. Irgendwann waren wir an der Stelle, an der ich mit Doris schon mal war.
»Pause!« ordnete ich an. Stille, und überall waren Sterne. »Uuuhh, wie romantisch! Woher kennst du überhaupt den Kochertalweg?« wollte Tobi wissen. »Ich war schon mal mit Doris hier, als sie mir die Umgebung von Bergbach gezeigt hat.«
»Ahaaaa, ich verstehe.« Er grinste zweideutig. »Quatsch, nee, vergiß es. Doris ist wirklich ganz nett, aber sie überhaupt nicht mein Typ.«
»Ach komm, gib's zu, du bist verknallt in sie.«
»Das stimmt nicht! Ich bin nicht in sie verknallt, sondern ...«, ich biß mir auf die Zunge, dieser Scheiß-Wein.
»Sondern?« Tobi flüsterte und blickte mich forschend an. Das ist die Gelegenheit. Ich könnte ihn in die Arme nehmen, ihn küssen, ihn spüren, einfach nur festhalten. Oh, was bin ich für ein Idiot! Ich wollte es ihm sagen, doch irgendwas hielt mich zurück, ich hatte keinen Mut. Statt dessen murmelte ich nur: »Dafür kennen wir uns noch nicht lange genug«, schwang mich auf mein Rad und fuhr wieder los. Den Rest des Wegs redeten wir nur über irgendwelche unwichtigen Sachen und blödelten rum. Ein kurzer Abschied, und nun liege ich hier und könnte mich ohrfeigen für meine Feigheit. Er sah echt so niedlich aus, wie er da stand und mich so lieb anguckte. Warum habe ich es ihm nicht gesagt? Ich weiß es nicht. Shit, was für ein Tag!

Freitag, 22. März 1996

22. März

»Du mußt dich entscheiden: Nils oder ich!« Tobi stand in der Tür und heulte.
Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Gott, was war das denn für ein Traum? Ich war wieder in Hamburg, in meinem Zimmer. Neben mir im Bett lag Nils. Wir kuschelten und knutschten. ›Ich hoffe, du bist nicht sauer wegen gestern‹, murmelte er immer wieder. Jedesmal, wenn er das sagte, küßte ich ihn. Plötzlich war die Tür aufgegangen und Tobias kam rein. Er sah uns und fing an zu schreien.

Oh Shit! Ich taperte ins Badezimmer und schüttelte immer wieder den Kopf, um die Erinnerung an diesen Traum abzuschütteln, doch es gelang mir nicht. Die kalte Dusche brachte mich wenigstens wieder halbwegs zurück und schaffte es, meinen Ständer runterzukriegen.

In der Schule schaute ich Tobias und Nils forschend an. Sie waren natürlich wie immer. Nils hing mit ein paar Mädels rum, und Tobi saß still auf seinem Platz und kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Es war ein Traum, es war nur ein Traum, sagte ich mir immer wieder. Das hier, das ist die Realität!
»Was schreibst du da?« wollte ich wissen.
»Ooch, nix besonderes«, das Blatt verschwand in seinem Block. Ich fragte ihn, ob er morgen zu Doris' Party kommt. Er weiß es noch nicht, und ich versuchte ihn zu überreden.
Schließlich kam mir die genialste Idee überhaupt: »Ich hol dich um acht ab, o.k.?« Seine Augen leuchteten auf einmal: »O.k.« Mir war, als hätte ich die Sa-che aus meinem Traum wiedergutgemacht.
Ich glaube, ich hab Mathe vergeigt. Wahrscheinlich zum ersten Mal in mei-nem Leben. Ich saß nur da und dachte an meinen Traum. Ab und zu blickte ich hoch und guckte mir Nils’ Hinterkopf an. Den rasierten Nacken, die gel-glänzenden Stoppeln. Ich mußte immer wieder daran denken, wie ich heute nacht diesen Nacken geküßt hatte und er dabei jedesmal zitterte. Ich riß mich zusammen und versuchte, die Gleichungen aufzudröseln, doch die Zeit war einfach zu kurz und ich war nicht bei der Sache. Mist!
Heute nachmittag bin ich zu Hause geblieben. Einfach nur alleine sein. Mein Zimmer dunkel. Nein, ich komme nicht zum Essen runter. Nein, ich bin nicht krank, ich will einfach nur meine Ruhe haben. Nachdenken, träumen. Doch so sehr ich es auch versuchte: der Traum kommt nicht wieder.

Donnerstag, 21. März 1996

21. März

»Ich hoffe, du bist nicht sauer, wegen gestern.«
Ich drehte mich um. Nils! Ich war völlig verdattert und schüttelte nur den Kopf. Er lächelte, fast ein bißchen erleichtert. Ich blickte ihm in die Augen und versank. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Nils schaute verunsichert: »Was ist denn?«
»Nichts«, stotterte ich »ist alles o.k.«
»Na dann ...«, er boxte mich leicht an die Schulter, zwinkerte und verschwand in Richtung Physiksaal. Ich stand nur da und schaute ihm nach. Von irgendwo her kam Tobias. »Hey, was ist denn mit dir los?«
»Wieso?«
»Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen.«
»Hab’ ich auch.«

Astro-AG war öde. Irgendwie war ich der einzige, der es schaffte, die Berechnungen zu machen. Außerdem will ich endlich mal das Teleskop ausprobieren. Aber dazu muß wohl erst das Wetter besser werden. Doris hat mich zu einer Party am Samstag eingeladen. Ich werde hingehen. Mist, ich hab vergessen sie zu fragen, ob Tobi auch kommt. Am Nachmittag, als ich mit ihm in der Stadt war, hab' ich mich nicht getraut, ihn zu fragen. Irgendwie bin ich völlig durcheinander. Wir saßen in einem Café und lästerten über die anderen Gäste, bis der Wirt kam und gebeten hat, wir sollen ruhig sein. War irgendwie cool, noch auf dem Heimweg haben wir uns kaputtgelacht. Als wir uns vor seinem Haus verabschiedeten, hätte ich ihn am liebsten umarmt. Shit, ich hab’s natürlich nicht gemacht.

Dad fährt morgen nach Düsseldorf zur Konzernzentrale. Er hat erzählt, daß er wahrscheinlich 200 Leute aus der Firma entlassen muß. Scheiß-Job.

Mittwoch, 20. März 1996

20. März

14:05
»Tut mir leid wegen meiner Mutter gestern«, meinte Tobi in der Pause. Ich beruhigte ihn: »Mütter sind halt so.«
»Es ist nur so«, fuhr er fort, »die meisten in der Schule sind mir einfach zu blöd, zu oberflächlich oder zu albern.«
»Oh, ich kann auch ganz toll oberflächlich und albern sein«, blödelte ich und setzte mein dümmstes Gesicht auf. Tobi lachte nicht: »Du bist irgendwie anders«, sagte er. Das verwirrte mich allerdings. »Wie meinst du das?« In diesem Augenblick traf mich ein Basketball am Hinterkopf. Ich drehte mich um und sah Nils, umringt von einer Gruppe Mädels. »Hey, Fischkopp, los wirf mal den Ball rüber.« Ich wurde wütend. Was fiel diesem Penner eigentlich ein? Ich ging langsam zu ihm rüber. »Wenn ich ein Fischkopp bin, bist du der absolute Bauerntölpel.« Wir standen uns direkt gegenüber. Mein Gott, wenn er nur nicht so verdammt gut aussehen würde. Diese Augen, ich war nahe dran, in seinen Augen zu versinken. Zum Glück kam meine Wut zurück, und ich stieß ihm den Ball vor die Brust: »Ich hoffe, das ist jetzt klar«, schrie ich. Einen Augenblick lang huschte eine Spur Unsicherheit über sein Grinsen. »O.k., ist ja gut, sei doch nicht so empfindlich.«
»Wenn mich jemand beleidigt, bin ich empfindlich.« Ich stieß ihn zurück. Was dann passierte krieg' ich nicht mehr richtig zusammen. Plötzlich war ich in einer Art Schwitzkasten, mein einzig freier Arm ruderte hilflos in der Luft, Nils' Griff war stahlhart. Ich war wütend, aber es war vor allem die Hilflosigkeit, die mir fast die Tränen in die Augen stiegen ließen. Nein, nicht heulen, bloß nicht. Nils' Gesicht war direkt vor mir: »Ich hab gesagt, es tut mir leid. Mach hier bloß nicht so einen Aufstand.«
»O.k., o.k.«, gab ich nach und japste nach Luft. Er ließ los. Oh Shit, was war passiert, er ist fast einen halben Kopf kleiner als ich, und trotzdem war ich der totale Horst. »O.k., vergessen wir's«, sagte er grinsend, seine Augen lachten. »Nils ist der Champion«, kicherte eine der Göcken. »Aber Tim ist auch niedlich«, prustete Melanie. Die hatte mir noch gefehlt, seit ich in die Klasse gekommen bin, guckt sie mich schon so komisch an. Ich versuchte, mein charmantestes Lächeln aufzusetzen, und sagte: »Nicht nur niedlich.«
Tobias hatte die ganze Szene von weitem beobachtet und stand wie versteinert da. Ist dir was passiert?«
»Nee, er hat nur die Überraschung ausgenutzt. Das nächste Mal krieg' ich ihn schon.«
»Vor Nils mußt du dich in Acht nehmen.«
»Wieso?«
»Das ist einer von denen.«
»Einer wovon?« Aber Tobias antwortete nicht, statt dessen fragte er mich: »Fahren wir heute nachmittag irgendwo hin?«
»Geht nicht, meine Mom muß nach Ulm, wegen eines Jobs.« Ich sah die Enttäuschung in seinem Gesicht. Ich sammele Augenblicke, ich sammele Gesichtsausdrücke und Sätze und füge sie wie ein Puzzle zusammen. Aber wie ich es auch zusammenlege, das Ergebnis ist immer das gleiche.

Mom ruft, wir fahren nach Ulm.


23:20
Mom hat einen neuen Job und fängt zum 1. April (yeah, wie passend!) in einem Immobilienbüro in der Nähe von Bergbach an. Das ist mir irgend-wie gar nicht so unrecht, dann hab ich die Nachmittage etwas meine Ruhe.

Dienstag, 19. März 1996

19. März

»Und, wie gefällt dir Bergbach?« fragte mich Tobias nach der Schule am Fahrradständer. Ich schaute auf und blickte direkt in seine strahlenden Augen. »Echt uncool, absolut tote Hose.« Tobias schien persönlich beleidigt zu sein. »Soll ich dir ein bissele was zeigen?« Wir verabredeten uns für den Nachmittag zu einer Stadttour – noch eine. Ich habe ihm nicht gesagt, daß ich das ganze schon mal mit Doris gemacht hatte. Tobias ist echt niedlich. Ist er vielleicht...? Kann sein. Als wir uns am Brunnen trafen, freute er sich richtig und sagte: »Du bist ja wirklich gekommen.«
»Warum denn nicht?«
»Na, ich dachte, du als obercooler Großstädter...«
Ich schüttelte den Kopf. Er zeigte mir ganz andere Sachen, die Altstadt, die römischen Ruinenreste. Tobias redet nicht so viel wie Doris, aber wenn er redet höre ich ihm gerne zu. Irgendwann standen wir vor einem kleinen Fachwerkhaus. »Magst du noch mit raufkommen?«
»Na klar.«
Tobias' Zimmer ist klein, überall Bücherregale, an einer Wand ein Klavier. Ich verkniff mir die Frage, ob er die ganzen Bücher gelesen hat. »Was willst du für Musik hören?«
»Irgendwas, ist mir egal, was du so hörst«
»Das gefällt dir bestimmt nicht.«
»Doch, mach doch einfach.« Großer Fehler, denn es war irgendwas Klassisches, Tobias meinte, es wäre Brahms. Ich fand es einfach nur schrecklich.
»Und?«
»Nicht schlecht«, log ich. Klassik kannte ich ja von Mom und Dad, aber das war wirklich etwas heavy.
»Was hörst du denn so? Bestimmt Hip Hop und House und so was.«
»Ach, eigentlich alles, was es so gibt«, ich wollte bloß nix Falsches sagen. Tobias setzte sich auf sein Bett. Oje, ich stellte mir vor, was wäre, wenn er sich jetzt einfach sein T-Shirt ausziehen und hinlegen würde. O.k., er legte sich hin, und ich guckte wie festgenagelt auf das kleine Stück Bauch, was zwischen T-Shirt und Jeans freilag. »Alles mögliche«, stotterte ich und riß mich wieder los. Tobias stand auf und fragte mich, ob ich was essen wollte. Natürlich sagte ich ihm nicht, was ich eigentlich viel lieber wollte, und wir verdrückten ein paar Brote. Tobias' Mutter kam. Sie erzählte mir, daß sie als junges Mädchen für zwei Jahre in HH gewohnt hatte, und ich mußte ihr haarklein berichten, wie es denn da jetzt aussieht. Ab und zu guckte ich zu Tobias rüber, der gelangweilt mit der Eistee-Büchse spielte und mit den Augen rollte.
»Schön, daß Tobias jetzt einen Freund gefunden hat«, hörte ich sie plötzlich sagen. Hä? Wie jetzt? Ich war völlig verwirrt.
»Mutti, also hör mal...«, begann er. Ich grinste. »Ist ja schon gut«, sagte sie. Tobias und ich sahen uns an und mußten lachen. Wahrscheinlich dachten wir genau das gleiche in dem Moment. Als ich nach Hause fuhr, versuchte ich irgendwie Ordnung in meinen Kopf zu bekommen. Schön, daß du gekommen bist, hatte er gesagt. Wie er so auf seinem Bett lag. Schön, daß Tobias einen Freund gefunden hat. Es paßt irgendwie zusammen, glaube ich. Diese Nacht wird eine Tobias-Nacht. Shit, ich glaube, ich bin verliebt.

Montag, 18. März 1996

18. März

»Kein Problem. Schön, daß du mitmachen willst.«
Ich habe mich heute für die Astronomie AG angemeldet. Ich bin gespannt, wie das da ist.
Am Nachmittag war jemand von der Telekom da und hat die ISDN-Anlage installiert. Endlich habe ich mein eigenes Telefon. Mom warnte mich, daß ich nicht wieder so viel vertelefonieren soll. Wenn sollte ich hier schon anrufen? O.k. mit Phil habe ich gleich telefoniert. Dana und er sind nicht mehr zusammen. Die blöde Zicke, ich konnte sie sowieso noch nie leiden, aber Phil tut mir leid.

Sonntag, 17. März 1996

17. März

»Tim, komm endlich frühstücken!«
Shit, kann man denn nicht mal am Sonntag seine Ruhe haben? Ich taperte runter und wurde gleich wieder von Mom nach oben geschickt: »Nicht in diesem Aufzug! Mach dich erst einmal frisch.«
Ich hasse Sonntage! Und Sonntage in Bergbach hasse ich erst recht. Am Nachmittag bin ich mit dem Fahrrad ins Zentrum gefahren. Es nieselte, und die Stadt war natürlich tot. Am Markplatz standen einige Jungs am Brunnen. Nichts Interessantes. Dann Fernsehen und jetzt gute Nacht.

Samstag, 16. März 1996

16. März

»Das ist ja schlimmer als vor Weihnachten am Gänsemarkt.«
Wir steckten mitten in der Stuttgarter Innenstadt, und Dad versuchte seit einer halben Stunde, einen Parkplatz zu bekommen. Schließlich hatte er die Kurverei dicke, und wir tauchten in ein Parkhaus ab. Mom und Dad brauchten unbedingt noch Sachen für die Wohnung. Nachdem wir ewige Zeiten bei Ikea vertrödelt hatten, kamen sie endlich auf die Idee, direkt nach Stuttgart zu fahren. Und so zottelten wir durch die Königstraße und endlose Passagen. Immerhin gibt es hier ein paar ganz passable Läden, und ich hab endlich ein Paar neue Airwalks. Ich bin erwachsen. Jedenfalls für den Fernsehturm. Nette Aussicht. Als wir endlich zurückkamen, war es schon fast dunkel. Etwas TV. Ich bin richtig fertig.

Freitag, 15. März 1996

15. März

»Hättest du nicht einen Zug früher nehmen können?« Phil schüttelte den Kopf. Mom und Lisa würden ihn zum Bahnhof bringen, während ich in der Schule schmore. Zum Abschied habe ich fast ein bißchen geheult. Er hat mir versprochen, anzurufen und viel zu schreiben.
Heute hatte ich zum ersten Mal Sport. Am CaZe ist alles ein bissele andersch. Hier duscht niemand nach dem Sport. Was auch eigentlich kein großer Verlust ist. Tobias ist, wenn er sein T-Shirt auszieht, ziemlich dürr, und seine Boxershorts schlabbern entsetzlich. Auch die anderen Jungs sehen nicht besonders atemberaubend aus. Zwei tragen tatsächlich schreckliche Opa-Unterhosen. O.k., wenigstens kriege ich hier bestimmt beim Umziehen keinen Ständer. Ich überlege, wie eigentlich die anderen die Mädels zum Beispiel im Schwimmbad angucken? Genauso wie ich die Jungs angucke? Ich wünschte, ich könnte jemanden fragen.
Der einzige zum Hingucken ist Nils. Er hat einen sehr schönen Körper. Ich habe einen schnellen Blick auf ihn werfen können, als er nur in seinen Calvins dastand. Viel scheint er allerdings nicht in der Hose zu haben. Vor der Turnhalle wurde er von einem tierisch geschminkten Mädel erwartet, das ihm gleich um den Hals fiel. Na toll, war ja auch klar. Auf dem Heimweg malte ich mir aus, ich wäre sie (natürlich ohne Schminke).
Als ich nach Hause kam, war niemand zu da. Mom holte Lisa wohl aus dem Kindergarten ab. Ich lief durch das ganze neue Haus. Mom hatte wahre Wunder vollbracht und es geschafft, innerhalb weniger Tage alle Umzugskisten verschwinden zu lassen. Obwohl es fast alles unsere alten Möbel sind, sieht nichts mehr so aus wie in Hamburg. Ok, einzig vielleicht Dads Arbeitszimmer, das wie immer chaotisch mit Ordnern und Akten übersät ist. Es ist komisch. Ich hatte ihn ein paar Mal in seinem Büro an den Deichtorhallen besucht. Da war alles extrem ordentlich und aufgeräumt.
Anschließend ging ich in den Keller und machte mein Fahrrad fit. Doris wollte mich am Nachmittag abholen und mir etwas von Bergbach zeigen.
»Nimm doch bitte ein Glas.« Mom und Lisa kamen herein, als ich mir gerade etwas zum Trinken holte. Lisa zeigte mir ein Bild, das sie gemalt hatte und plapperte gleich drauflos, was sie alles im Kindergarten gemacht hatte. Das ersparte mir die übliche Fragen von Mom, wie es denn in der Schule war.
Irgendwann klingelte es. »Ist das das Mädchen aus deiner Schule?«
»Ja«, rief ich im Hinausrennen, »sie zeigt mir die Stadt.« Tür zu, uff, ich war draußen. »Alles bereit, für die Stadtführung?« Wir radelten durch die Innenstadt, sie zeigte mir die Thermen, das Bergwerksmuseum, das Movieplex, die Disco im Gewerbepark. Beim katholischen Jugendzentrum streikte ich, dafür wollte sie nicht zu McDonald’s – na ja, Vegetarierin. Und weil ich mir keinen Vortrag über die Abholzung der Regenwälder und Beipackstoffe in Burgern anhören wollte, schlug ich vor, daß sie mir noch etwas von der Umgebung zeigt. Wir fuhren also raus aus Bergbach, durch einen kleinen Wald auf einen Hügel. Plötzlich hatten wir einen tollen Ausblick auf Bergbach. »Schau, dahinten ist unsere Schule«, sagte sie. Ich versuchte mich
zu orientieren und fand unser Haus. »Und wo wohnst du?« fragte ich. Sie zeigte auf einen kleinen Bauernhof, der ziemlich verloren am Rande eines großen Feldes stand. »Ich komme gerne hierher«, sagte sie. Oje, jetzt bitte keine romantische Szene, dachte ich und schwang mich wieder auf mein Rad. Auf dem Rückweg fuhren wir bei ihr vorbei. »Hier wohne ich, wenn du magst, kannst du mich ja mal besuchen.«
»O.k., mal sehen«, sagte ich. Eigentlich ist sie ganz nett.
Am Abend rief Phil an. Lange mit ihm gequatscht, Oma freut sich, daß sie nicht mehr alleine wohnt. Jetzt liege ich in meinem Bett und male mir wieder aus, wie es wäre, auf Nils zu warten, ihm um den Hals zu fallen, ihn zu küssen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. So eine Scheiße, warum geht so was nicht?

Donnerstag, 14. März 1996

14. März

»Selbstverständlich bringe ich dich am ersten Tag zur Schule.«
Es gibt drei Gymnasien in Bergbach, und ich muß ausgerechnet in diesen häßlichen grauen Betonklotz gehen. Wenigstens komme ich mit dem Fahrrad in fünf Minuten hin. Mom und ich saßen im Zimmer des Direktors. Er erklärte mir die tollen neuen Schulregeln und versäumte nicht, ständig zu sagen, daß es hier in Bergbach »ein bissele andersch« läuft als in Hamburg. Wahrscheinlich. Keine Graffities, keine Tags. Alles pubsordentlich und spießig. Ich will zurück ins Gysue!
Meine neue Klasse. 27 Leute, mit mir zusammen. Ich sitze neben einem häßlichen dicken Mädel mit roten Haaren. Doris heißt sie. In der großen Pause hat sie mir die ganze Schule gezeigt. Cool, hier gibt es eine Sternwarte auf dem Dach. Obwohl Doris ständig redet, scheint sie ganz nett zu sein. Von den 12 Jungs sind höchstens vier ganz o.k.
Der Niedlichste sitzt direkt vor mir, heißt Nils und ist der absolute Mädchenschwarm. Na klar, so ein Mist. Er ist auch der einzige, der coole Klamotten und einen coolen Haarschnitt hat. Dann gibt’s noch Tobias, mit dunklen Locken und ganz lieben Augen. Ich habe gemerkt, wie er immer zu mir rübergeguckt hat. In der zweiten großen Pause haben wir uns dann sogar länger unterhalten, das heißt, eigentlich habe ich die ganze Zeit geredet. Von ihm weiß ich bisher nur, daß er Klavier spielt und mit seiner Mutter in einem dieser winzigen Fachwerkhäuser wohnt.
Überhaupt, ich mußte den ganzen Leuten ständig erzählen, warum ich nach Bergbach gezogen bin, wie es in Hamburg ist, was man da so macht, was für Klamotten man trägt usw. Na ja, irgendwie sind sie alle echt ziemlich uncool, aber wenigstens ganz nett.
Der Stoff ist fast der gleich wie am Gysue, aber die Stunden sind total ruhig, hier ist halt alles »ein bissele andersch«.
Doris und ich haben fast den gleichen Heimweg, jedenfalls das erste Stück. Sie sagt, sie wohnt etwas außerhalb. Sie hat mir eine Menge über Bergbach, über die Schule und alles mögliche erzählt. Sie kann richtig witzig sein.
Zu Hause wartete Mom schon: »Na, wie war es?« Die Frage hatte ich schon erwartet. Ich murmelte etwas wie »Ganz o.k.«, doch das reichte ihr nicht, ich mußte ihr alles haarklein erzählen. »Und wie sind die Mädchen in deiner Klasse?«
»Mom, bitte. Ich bin den ersten Tag in der neuen Schule. Ich sitze neben einem total häßlichen Mädel, aber sie ist ganz nett.« Ich weiß schon was sie hören will. Zum Glück kam Phil rein und das Thema war erstmal beendet. Er fährt morgen wieder zurück nach Hamburg, um sein Abi fertig zu machen. Irgendwie beneide ich ihn. Obwohl er bei Oma wohnen wird.
Großes gemeinsames Abendessen. Dad erzählt von der »Firma«, die er in drei Jahren saniert haben muß. Er wird immer gerufen, wenn es einem Unternehmen schlecht geht und gerettet werden muß. Meistens schafft er es.
Hinterher habe ich noch lange mit Phil gequatscht. Er weiß noch nicht, was er nach dem Abi machen wird. Ich bin traurig, daß er schon wieder nach Hamburg zurückgeht. Er kommt erst im Juni zurück.

Mittwoch, 13. März 1996

13. März

23:15
Wir haben uns die »Stadt« und die Umgebung angeguckt. Bergbach sieht echt aus wie ein Ort in einer Modelleisenbahn. Überall Fachwerkhäuser. Mom findet alles einfach goldig und Dad ist der perfekte Fremdenführer. Die Fußgängerzone ist schwach, nur uncoole Läden. Wenigstens gibt's ein McDonald's und sogar ein Kino. Außerdem gibt es ein Bergwerk (also doch Berge) und irgendein Super-Thermal-Schwimmbad (ob das so ist wie die ASH? – muß ich unbedingt ausprobieren!!!). Der Fluß ist ein träges Etwas (ob er irgendwo in die Elbe fließt?)
Auf dem ganzen Weg nicht ein hübscher Junge. Alle sehen ziemlich irgendwie aus wie Bauern. Außerdem sprechen die Eingeborenen hier einen komischen Dialekt, aber scheinen wenigstens ganz friedlich zu sein.
Morgen soll ich in meine neue Schule. »Damit du nicht so viel versäumst«, hatte Mom gesagt. Meine Begeisterung hält sich echt in Grenzen. Wahrscheinlich gibt es nur Bauernjungs dort. Ich werd jetzt zum ersten Mal in meinem neuen Zimmer den Bisley aufmachen – ich glaube, Marky Mark wäre nicht schlecht.

9:38
»Los Tim, es gibt Frühstück!« Phil stand in meinem Zimmer. »Nett hast du’s hier. Und so gemütlich eingerichtet.« Ich warf ein Kissen nach ihm. Nebel liegt auf der Landschaft. Fast wie in Hamburg.
Acht Uhr früh. Es dauerte eine Weile, bis ich meinen Kram gefunden und im Bad hatte. Die Dusche ist gut. Frühstück da, wo einmal das Eßzimmer hin soll oder vielleicht schon ist. Moms heiliges Erbstück von Eßtisch steht noch ziemlich verloren dort. Ja, ich habe gut geschlafen. Ja, ich werde heute mein Zimmer einrichten. Ja, ich komme mit, mir die Stadt angucken.
Stadt, pffff! 70 000 Einwohner. Wahrscheinlich wohnen allein in Wandsbek mehr.
So, mein Zimmer ist erst mal fertig. Irgendwie reichen die Möbel nicht, es ist noch jede Menge Platz frei. Aber das sieht irgendwie cool aus. Die Anlage ist auch an: Oasis in Bergbach.

Dienstag, 12. März 1996

12. März

22:48
Mein neues Zimmer. Es ist viel größer als das in Hamburg und liegt im ersten Stock. Wenn ich aus dem Fenster gucke, sehe ich auf eine große Wiese, dann geht es den Hügel runter, ganz hinten wieder Hügel. Ich stelle mir vor, daß dahinter das Meer anfängt. Das Haus ist wirklich schön, jede Menge Platz. Es ist nur blöd, daß Phil das Zimmer im Keller mit dem eigenem Eingang bekommen hat.
Dafür ist neben meinem Zimmer ein Badezimmer. Dann kommt Lisas Zimmer und dann das Schlafzimmer von Mom und Dad. Ich habe mir noch gar nicht überlegt, wie ich wo was hinstellen will. Deshalb habe ich den Möbelpackern gesagt, sie sollen erstmal alles in die Mitte stellen. Nur mein Bett steht da, wo ich es bestimmt auch stehen lassen werde. Als die Packer meinen Bisley aus dem Truck holten, hatte ich erst ein bißchen Schiß, aber das Schloß schien in Ordnung zu sein. Morgen fange ich mit dem Einrichten an, heute bin ich zu müde.

13:22
Das muß es sein, es sieht jedenfalls so aus wie auf den Fotos, die Dad uns gezeigt hat. Orangebraungelb, irgendwas.

13:00
Biebelried, Feuchtwangen, komische Orte. Dann runter von der Autobahn. »Brauchst du die Karte?« Dad schüttelt den Kopf. Anscheinend hat er sich den Weg genau gemerkt, als er das Haus mit dem Makler ausgesucht hat.
»Schau mal Lisa, eine Kuh.«
»Laß sie schlafen«, meint Mom. Schade, Lisa hat uns doch auf dem ganzen Weg bisher jede einzelne Kuh gezeigt. Es nieselt. Überall Hügel, Berge, Äcker, Wiesen, Bauernhöfe, Winzorte mit einer Straße und einer Kirche. Mir wird ganz anders. Hier sollen wir irgendwo wohnen? Lisa wacht auf: »Sind wir da?«
»Gleich.«
Phil liest.

11:45
»Wofür brauchst du denn das?«
»Einfach nur so, für Notizen.« Mom will immer alles ganz genau wissen. Ich habe mir dieses Notizbuch gerade eben gekauft. Ich will alles festhalten, was mich erwartet. Wir sind auf dem Weg nach Bergbach. Heute früh um fünf sind wir losgefahren, in Harburg auf die Autobahn. Lisa ist total aufgeregt. So lange ist sie noch nie mit dem Auto gefahren. Philipp liest und liest. Mom ist damit beschäftigt, uns regelmäßig Kekse, Gummibärchen und sonstwas nach hinten zu reichen und gleichzeitig Dads Tacho im Auge zu behalten: »Christian, fahr nicht so schnell.« Dad grummelt dann irgendwas und nimmt für ein paar Minuten den Fuß vom Gas.
Hinter Hannover habe ich die Orientierung verloren. Irgendwann kam Kas-sel, und eben sind wir am Autobahndreieck Schweinfurt vorbeigerast. Meine Bitte, bei McDonald’s anzuhalten, wurde einfach ignoriert.