Donnerstag, 31. Juli 1997

31. Juli

"Das unterscheidet den Champ vom Looser."
Ich hatte diese Sprüche schon zu oft gehört, um mich darüber aufzuregen. Also gut, noch einmal Training. Noch einmal Schinderei vor den Ferien. Ach was, in den Ferien ist ja auch Training. Also noch einmal Training vor Korsika. Die Luft stand in der Halle und bereits nach fünf Minuten waren alle triefnass. Am Ende war selbst Nils außer Atem, was mich dann irgendwie doch wieder entschädigte.
Nils und ich sind nach dem Training noch zu Doris gefahren. Noch so ein letztes "Vor-den-Ferien-Goodbye-Meeting". Es war ein total schöner Abend auf der Wiese hinter ihrem Hof. Doris hatte die schlafende Lena in ihrem Arm und ich, ich hatte Nils Kopf auf meiner Brust und spielte mit seinen Haarstoppeln.
"Paßt gut auf euch auf ihr beiden. Ich habe noch einiges mit euch vor."
Ich blickte sie fragend an: "Was hast du mit uns vor?"
"Wer weiß."
"Komm, was soll denn das. Wir sind doch hier keine, wie sagt mein Dad immer so toll: 'Manövriermasse'."
"Vielleicht brauche ich euch ja noch. So als Trauzeugen."
"Was?" Ich sprang auf und vergaß dabei total Nils, der neben mich kullerte. "Du willst doch nicht wirklich heiraten?"
"Heiraten, heiraten, heiraten", kicherte Nils vor sich hin.
"Wer weiß? Nicht daß wir tatsächlich schon einen Termin hätten oder konkrete Pläne, aber es könnte ja immer hin sein."
"Warst DU es nicht, die mir erzählt hat, daß..."
"Ja, ist ja schon gut. Ich habe doch gesagt, es steht noch überhaupt nichts fest."
"Ich fasse es nicht. Ich fasse es nicht." Toll, daß ich mal diesen Satz bringen würde, den immer Dads alte Sekretärin vor sich hingemurmelt hatte, hätte ich nicht geglaubt.
Nils gluckste immer noch vor sich hin, vielleicht hatte er sich ja bei meinem plötzlichen Aufstehen den Kopf angestoßen und Schaden genommen. Vielleicht ja ebenso einen Schaden wie Doris, die plötzlich vom Heiraten redet.
"Ich möchte doch nur", begann sie wieder, "daß mit euch beiden alles klar geht. Ich bin glücklich mit Clemens und Lena und ich möchte, daß ihr beide auch glücklich miteinander seid."
Nils und ich brauchten nichts zu sagen, wir küßten uns einfach als Antwort.

"Irgendwie beneide ich dich ein bißchen um Doris", meinte Nils auf dem Heimweg.
"Wieso?"
"So eine tolle Freundin, also nur so zum Reden. So was hätte ich die ganze Zeit gebraucht, als ich gemerkt habe, daß ich irgendwie anders bin."
"Als ich das gemerkt habe, habe ich auch niemand gehabt. Aber es stimmt schon, sie ist schon toll. Aber sie ist nicht nur meine Freundin. Ich glaube, wir beide sind für sie wichtig. Sie freut sich einfach total, daß wir zusammen sind."
"Bestimmt nicht so, wie ich."
Ich mußte lachen und bremste: "Und garantiert nicht so wie ich."
Ich schaute ihm in die Augen.
"Tim, ich weiß was dieser Blick bedeutet. Du willst doch nicht etwa hier und jetzt..."
"Hier und jetzt und immer und überall."

Mittwoch, 30. Juli 1997

30. Juli

"Schön, daß du wieder da bist", Nils nahm mich in den Arm, "wie geht es Phil?"
"Na, wie es einem eben geht mit gebrochenem Arm und Hand."
"Und? Wird er wieder heil?"
"Ich hoffe, doch es sieht gar nicht so schlecht aus."
"Ist er bei Seller auf der Station?"
"Bei wem?" "Bei Seller. Der Doktor von unserer Nationalmannschaft."
"Keine Ahnung."
"Wäre ja schon ein Zufall."
"Komm, laß uns noch ein Eis essen fahren."
"Dann müssen wir uns aber beeilen. Das Venezia macht um 10 zu."
"Na dann...wer zuerst am Venezia ist."

Situationen kann man nicht wiederholen. Ich saß am Marktbrunnen und löffelte ein Rieseneis in mich hinein. Neben mir Nils. Es war warm und eigentlich schön. Eigentlich war alles perfekt. Aber ich konnte Nils eben nicht in den Arm nehmen und ihn küssen. Wir saßen hier, mitten in Bergbach, aßen unser Eis und alles war tot um uns herum. Das Venezia und das Carpaccio hatten zu und aus den Schubarth-Stuben kamen die letzten Gäste. Mir war, als wenn gleich jemand die Lichter ausschalten würde. Gestern hatte ich um diese Zeit jede Menge Leben um mich herum.
"Nils, ich will weg hier. Ich will weg aus Bergbach."
"Wer will das nicht?"
"Nils ich meine das ernst. Ich will hier raus. Spätestens nach dem Abi haue ich hier ab."
"Das Thema hatten wir doch schon mal."
"Ja, aber es ist mir gestern wieder so hochgekommen. Ich werde hier noch wahnsinnig."
"Na toll, und was ist mit mir?"
"Du kommst mit. Wir gehen irgendwohin, irgendwohin in einer große Stadt. Nach Hamburg, nach Berlin, vielleicht auch ganz woanders hin, nach London, nach Paris. Nur weg, raus aus diesem Kaff!"
"Tim, ich gehe hier nicht weg. Und wenn, dann gehe ich bestimmt nicht nach Hamburg, Berlin, Paris oder London. Gibt es dort etwa halbwegs gute Ringervereine?"
"Was weiß denn ich. Das ist doch auch völlig egal."
"Das ist nicht egal. Ich will irgendwann mal in der Bundesliga mitmachen."
"Das ist doch nicht dein Ernst. Du willst hier bleiben, nur um in der Bundesliga zu ringen? Was ist denn das für ein Blödsinn?"
"Hier oder in Goldbach, oder in Schorndorf, oder sonstwo, wo sich die Gelegenheit bietet. Wieso ist das Blödsinn? Wieso ist das alles, was du möchtest so unheimlich toll und das Einzige, was richtig ist? Warum zählt das nicht, was ich will?"
"Schau dich doch mal um. Dieses Dorf ist tot! Es ist halb elf und niemand ist auf der Straße! Nils, selbst in Stuttgart ist mehr los als hier."
"Vielleicht will ich ja gar nicht mehr. Vielleicht reicht mir ja einfach das, was ich habe." Er drückte meine Hand. "Vielleicht reichst du mir ja."
Ich wußte für einen Moment nicht, was ich sagen sollte. Mir gingen so viele Dinge auf einmal durch den Kopf. Wenn er die Wahl hätte, die Wahl zwischen mir und seinem Ringen: was würde passieren? Ich will nicht darüber nachdenken, denn ich glaube ich habe Angst vor der Entscheidung, wie sie auch ausgeht.
"Stuttgart, ist Stuttgart ok?"
"Tim, du redest fast so, als wenn du morgen losziehen willst und eine Wohnung für uns suchst."
"Wer weiß. Ich will hier nur weg. Es ist wie bei Asterix und Obelix, mir fällt nicht die Decke, mir fällt der Himmel auf den Kopf. Mich kotzt das hier wirklich alles an, einmal über den Markplatz gegangen und halb Bergbach getroffen, die halbe Schule, die halbe Lehrerschaft, den halben Verein."
"Ist denn das alles so schlimm? Sind denn diese Leute so schlimm?
"Das frage ich dich. Ist es so schlimm, wenn diese Leute mitkriegen, daß wir schwul sind? Wenn DIESE Leute sehen, wenn wir Arm in Arm durch die Fußgängerzone laufen? Sage mir, daß dir das alles nichts ausmacht und ich bleibe die nächsten zehn Jahre hier in Bergbach."
"Was soll denn das? Was redest du denn für einen Unsinn? Willst du alles kaputt machen? Mußt du alle unbedingt provozieren?"
"Ich will nichts kaputt machen. Ich will niemand provozieren. Genau deshalb will ich aber hier weg. Ich will dich verdammt noch mal umarmen dürfen, wo und wann ich will, ich will dich küssen dürfen, wo und wann ich es will."
Plötzlich, ganz plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen. Ein langer Kuß. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Er sah mich an: "Ich liebe dich", flüsterte er. "Hier oder sonstwo. Es ist doch völlig egal, wo wir sind. Wir haben uns."

Nils hat mich geküßt. Mitten auf dem Marktplatz in Bergbach sitzen zwei Jungs und küssen sich. Und es interessiert niemanden. Ok, weil niemand da ist. Aber damit hätte ich NIE gerechnet, daß er das macht. Und ich bin jetzt noch total durch den Wind.
"Nun macht nicht so ein Gesicht, das wird schon."
Es war Phil, der uns aufheitern mußte. Ich glaube, Mom, wäre am liebsten noch da geblieben, wenigstens bis nach der Operation. Aber das würde ja auch nichts bringen. Auf jeden Fall haben wir ihm am Vormittag noch die wichtigsten Sachen organisiert, weil er ja nichts dabei hatte. Heute abend kommt Britta und bleibt erst mal bei ihm. Auch so eine Sache mit den Heteros. Da ist das total selbstverständlich, daß die Freundin kommen kann. Ich überlege mir, wie es wäre, wenn ich im Krankenhaus liegen würde. Nils würde bestimmt vorbeikommen, aber es ist eben was anderes. Ach Shit, ich will im Moment nicht darüber nachdenken.
Es gab noch eine ziemlich peinliche Szene, als sich Mom während der Visite nicht aus dem Zimmer schicken lassen wollte und so was meinte wie: "Wenn sie schon nicht auf ihre Soldaten richtig aufpassen können, wäre es ja vielleicht besser, wenn wir ihn in die Uniklinik nach Eppendorf mitnehmen." Der Arzt, so mit Uniform, meinte nur total rotzig, daß Phil ein Wehrpflichtiger ist und der 'Wehrgewalt' oder wie das heißt unterliegt, und die Bundeswehr entscheidet, wo er behandelt wird. Na toll, ich war ja auch kurz davor zu sagen, daß ich das reichlich bekloppt finde, aber ich hielt lieber den Mund, weil ich Angst hatte, daß Phil noch Streß deswegen bekommt. Jedenfalls ist für mich klar, daß ich dieses Affentheater nicht mitmache und mich rumkommandieren lasse.

Einkaufen am Vormittag für Phil, dann der Weg vom Hotel zum Krankenhaus, vom Krankenhaus zum Flughafen. Ich habe ein bißchen was von Berlin gesehen. Gestern war es ja schon dunkel. Es ist zu viel auf einmal. Richtig schön sieht es hier nicht aus. Aber interessant. Ich kriege Lust, mir das alles mal in Ruhe anzugucken, zu erforschen, mit dem Fahrrad durch die Straßen zu fahren. Aber das geht natürlich nicht. Und jetzt sitze ich wieder im Flieger, nachdem wir eine halbe Stunde Verspätung auf diesem lächerlichen Flughafen hatten. Zum Glück ist nichts Schlimmes mit Phil passiert. Ich hoffe nur, daß mit der Operation am Freitag alles glatt geht, und daß wirklich nichts zurückbleibt.

Dienstag, 29. Juli 1997

29. Juli

Es dauerte ein halbe Ewigkeit bis wir vom Flughafen beim Krankenhaus waren. Der Taxifahrer fluchte dauernd vor sich hin. Ich guckte aus dem Fenster. Außer einem endlosen Stau und jede Menge Autobahn war eine halbe Ewigkeit nichts zu sehen. Als wir dann endlich in der Klinik angekommen waren, wollten sie uns erst gar nicht durchlassen. So von wegen keine Besuchszeit und blaaaa. Mom hat aber ziemlichen Terz gemacht und endlich haben wir die richtige Station gefunden.
Phil war total überrascht: "Was macht ihr denn hier?"
Er hatte seinen ganzen linken Arm im Gips.
"Was machst DU hier?"
"Ich habe mir den Arm gebrochen, naja und noch die Hand und überhaupt."
"Was ist denn um Gottes Willen passiert? Und wieso bist du hier in Berlin und nicht in Lüneburg? Und warum hast du nicht angerufen?"
"Welche Frage darf ich denn zuerst beantworten", er grinste. Phil grinste, also konnte es ihm nicht so schlecht gehen.
"Wir sind nach Brandenburg geordert worden, Hohenschönwutzen oder wie das Kaff heißt. Sandsäcke und Strauchbündel transportieren und auf die Deiche stapeln. Ich war total müde und fertig und bin irgendwie bei der Rückfahrt vom Laster runtergefallen."
"So was Blödes", rutsche mir heraus, "man fällt doch nicht einfach so vom Laster."
"Und was ist jetzt genau gebrochen?" wollte Mom wissen
"Wohl mehrere Knochen im Ellenbogengelenk und einer von den Unterarmknochen ist gesplittert. Und zwei Knochen an der Hand. Ich habe gedacht, ich sterbe."
Ich verzog das Gesicht: "Und alles operiert?"
"Zum Teil, am Freitag wollen sie noch mal operieren."
Phil meinte aber, daß die Ärzte gesagt haben, daß alle wohl wieder recht gut zusammenwachsen wird. "Aber ringen werde ich wohl nie dürfen", lachte er.
"Schade, ich dachte, ich kriege doch noch einen Sparringspartner."
Mir fiel wirklich ein Stein vom Herzen. Die ganzen Stunden davor waren wirklich absolut schrecklich. Jetzt, wo ich weiß, was los ist, geht es mir besser. Ok, ich meine, das mit dem gebrochenen Arm und so ist ja schon schlimm genug, aber es ist wenigstens nichts was bleibt.

Als wir wieder draußen waren aus der Klinik, haben wir erst mal Dad zu Hause angerufen und ihm alles erzählt. Der hat uns sogar schon ein Hotel organisiert, weil so spät kein Flieger mehr zurück geht. Und so sind wir wieder eine halbe Ewigkeit durch die Stadt gegondelt. Und jetzt, jetzt sitze ich hier auf einem großen Platz an einem ziemlich schrägen Brunnen und schreibe. Schon komisch, wieder ein Platz und ein Brunnen. Wie in Bergbach. Ok, es ist kein Marktplatz und hier wuseln die Leute alle durcheinander. Es ist ein bißchen so wie auf dem Rathausplatz oder dem Gänsemarkt. Es ist warm und es ist eine gar nicht so schlechte Stimmung. Ich bin ein bißchen über den Platz getapert, Gedächtniskirche, jede Menge Leute, die einen malen oder zeichnen wollen, ein Mövenpick mit leckerem Eis und jede Menge niedlicher Skater. Noch arroganter als sonstwo. Aber es ist trotzdem schön wieder richtig Wirbel um mich herum zu haben, Durcheinander, Leben und ich mitten drin. Bergbach mit dieser Rentnerruhe. Und selbst Stuttgart ist hiergegen nichts. Zwei Mädchen sprechen mich an, ob ich weiß, wo man hier weggehen kann. Ich schüttele den Kopf, sage ihn, daß ich auch nicht von hier bin. Sie erzählen mir, daß sie aus Münster kommen. Wir unterhalten uns eine ganze Weile. Irgendwann tapern sie weiter. Plötzlich fällt mir Nils ein. Ich hatte ihn total vergessen. Suche eine Telefonzelle. Es ist schon spät, aber ich rufe ihn trotzdem an. Es ist schön, seine Stimme zu hören. Ich erzähle ihm, was passiert ist und daß ich morgen am Nachmittag wieder zurückkomme. Irgendwie wäre es schön, wenn er jetzt hier wäre. Es ist komisch. Obwohl ich hier nichts kenne, würde ich ihn einfach an die Hand nehmen und ihm alles zeigen. Mit ihm durch dieses merkwürdige Einkaufszentrum tapern, wo mindestens 10 Läden nebeneinander sind, die total coole Klamotten und Schuhe haben. Wir würden uns an den Brunnen setzen und den Skatern zuschauen und uns aussuchen, wen wir niedlich finden und nicht. Und dann? Ja, und dann? Dann würden wir nach Hause fahren. Zu unserem nach Hause, irgendwo hier in dieser Stadt, in einer dieser Nebenstraßen. Und wir haben eine Wohnung ganz für uns alleine, wo niemand uns stört, wo es allen Leuten, die drumherum wohnen total egal ist, wer wir sind und was wir machen. Und wenn wir Lust auf ein Eis haben und es ist Mitternacht, dann gehen wir einfach nur runter und holen uns eines. Ich glaube, ich weiß immer mehr was ich will. Ich will weg aus Bergbach! Das will ich eigentlich schon von dem ersten Augenblick an, wo ich angekommen bin. Ich will in eine große Stadt. Zurück nach Hamburg oder vielleicht hierher nach Berlin. Wo Leben ist, wo ich am Abend auf die Straße gehe und jede Menge ist los. Wenn ich hier wäre, dann würde ich mit Nils Hand in Hand durch die Gegend laufen und ich glaube, Nils würde es auch machen. Hier kennt uns niemand und auch wenn, es ist garantiert allen egal. Langsam werde ich müde. Ich werde jetzt zurück zum Hotel gehen und ein kleines Stück von der Atmosphäre hier mitnehmen.
"Bin ich mit Familie Berger verbunden?"
"Ja."
Ich kam gerade von der Schule und erwischte noch das Telefon. "Ich soll ihnen eine Nachricht von Philipp Berger übermitteln. Ist das ihr Sohn?"
"Das ist mein Bruder. Was ist denn los?"
"Ich soll ihnen ausrichten, daß er gerade in das Bundeswehrkrankenhaus nach Berlin gebracht wird."
"Waaas? Was ist passiert?"
"Das kann ich ihnen nicht sagen." Er legte auf.
Ruhig bleiben, ruhig bleiben. Bundeswehrkrankenhaus Berlin? Wieso Berlin? Wieso Krankenhaus? Ich rief bei Oma an, aber es war niemand da. Dann rief ich bei Mom auf Arbeit an. Sie wollte immer wieder wissen, was passiert ist, aber ich konnte ihr doch auch nichts sagen. Sie sagte, sie ruft wieder an und legte auf. Die nächsten zehn Minuten wußte ich überhaupt nicht, was ich machen sollte. Ich lief in mein Zimmer, ging wieder runter, wartete darauf, daß das Telefon klingelt. Phil, was ist mit ihm passiert? Wieso kommt er ins Krankenhaus?
Endlich rief Mom wieder an. Aber sie hatte auch nichts rausbekommen können.
"Ich fliege nach Berlin", sagte sie. "Holst du bitte Lisa aus dem Kindergarten ab?"
"Ja klar. Aber ich will mit. Ich will mit und sehen, was mit Phil ist."
"Hole erst mal Lisa ab und dann schauen wir weiter. Ich fahre jetzt los und bin in einer Dreiviertelstunde zu Hause."
In meinem Kopf wirbelt alles Mögliche herum. Was ist mit Phil? Ich rief Dad an und erzählte ihm alles. Er hat gesagt, daß er so schnell wie möglich kommt. Dann habe ich Nils angerufen. Wir haben uns vor dem Kindergarten verabredet. Die Kindergärtnerin ist etwas unwirsch, weil ich Lisa so früh abhole, aber das ist mir egal. Ich habe Lisa nicht gesagt, daß Phil im Krankenhaus ist. Noch nicht. Was soll ich ihr auch sagen? Ich weiß doch selber nichts. Nils ist da. Einfach nur da. Drückt ganz kurz meiner Hand und blickt mir in die Augen. Das reicht. Es ist so schön, daß er da ist.
Zu Hause kommen Mom und Dad fast gleichzeitig an. Nils nickt mir zu und verschwindet. Dad telefoniert und organisiert Tickets für Mom und mich für die Maschine nach Berlin. In drei Stunden geht der Flieger. Noch mal anrufen im Krankenhaus in Berlin. Niemand weiß Bescheid oder niemand will uns etwas sagen. Wenigstens erreichen wir Oma. Aber die weiß auch nichts.
Dad bringt uns nach Stuttgart zum Flughafen. "Ruft mich an, sobald ihr etwas wißt."
Wir gehen durch die Kontrolle, lassen Dad und Lisa hinter uns.
Jetzt sitze ich hier im Flugzeug, irgendwo über Leipzig. "Was schreibst du da?" will Mom wissen
"Tagebuch", antworte ich.
"Du schreibst Tagebuch?"
"Ja."
"So, so."
Mein Kopf ist gleichzeitig leer und voll. Vor ein paar Stunden war alles noch ganz geordnet an seinem Platz. Alles lief ganz gerade ab und plötzlich ist alles durcheinander. Ich versuche, wenigstens etwas Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Wie schön wäre es, wenn Nils jetzt bei mir wäre. Wenn er einfach nur da wäre, meine Hand halten könnte. Seine Nähe spüren. Spüren, daß er da ist.
Wir sind im Landeanflug. Ich mache das Heft jetzt zu.

Montag, 28. Juli 1997

28. Juli

"Das müssen wir erst bestellen."
"Wie? Bestellen?"
"Wir haben keine Francs vorrätig. Das wird zu selten nachgefragt. Wenn sie morgen wiederkommen, können sie sie ab 15.00 Uhr abholen."
Kreissparkasse Bergbach, Kreissparkasse Bergbach. Die Kreissparkasse Bergbach ist DER Hauptsponsor von unserem Verein. Und sie kriegen es nicht fertig, Mark gegen Francs einzutauschen. 'Das wird zu selten nachgefragt.' Zum Glück habe ich rechtzeitig daran gedacht.
"Wofür brauchen wir denn Francs?" fragte mich Nils als ich ihm die Szene erzählte. "Wir sind doch im Feriendorf."
"Hast du vielleicht mal im Katalog nachgeguckt? Wir kriegen da nur Frühstück und Abendessen. Um den Rest müssen wir uns selber kümmern. Und überhaupt, vielleicht wollen wir ja mal irgendwohin fahren, irgendwas trinken oder was weiß ich."
"Ja, ist ja schon gut. Ich merke schon, es ist gut, wenn jemand da ist, der sich um so was alles kümmert."
"Sag bloß, du wärst ohne Geld runtergefahren?"
"Nee, nicht ohne Geld, aber ich glaube, ich hätte da umgetauscht."
"Ich weiß nicht, ob es in Moriani Plage eine Bank gibt."
"Ja, ist ja schon gut. Du hast ja recht."

Ansonsten war heute natürlich die Abifeier Thema des Tages. Wer welches Mädel abgeschleppt hat und wer wieder mal mit 160 km/h auf der Friedrichstraße von den Bullen angehalten wurde und wer mal wieder bei der Realschule vor die Tür kotzen mußte. Komisch, daß Nils und ich von den schrillsten Sachen gar nichts mitgekriegt haben. Aber wir sind ja nun auch schon ziemlich früh abgehauen.

Was habe ich vom letzten Training geschrieben? Denkste! Dimitri scheuchte uns heute bis zum Umfallen. 1000 Meter um das große Fußballfeld vor der Halle. Und das bei der Hitze. Das ist überhaupt total unfair. Er steht immer nur am Rand und gibt Anweisungen, wir dürfen uns abrackern und er macht nichts. Und zur Krönung war wieder mal Chain-Wrestling angesagt.

Ansonsten ist nichts besonderes passiert. Lena geht es wieder besser, hat Doris erzählt, sie hat wohl kein Fieber mehr. Das ist irgendwie so, wie es damals bei Lisa war. Babys haben immer irgendwas.

Sonntag, 27. Juli 1997

27. Juli

"Hab ich sehr viel dummes Zeugs geredet?"
"Not really, nur daß du unbedingt in Boxershorts auf dem Geländer balancieren mußtest."
"Was?!"
"Nee, keine Angst. Das hast du nicht gemacht. Kannst du dich denn an nichts mehr erinnern?"
"Nicht so richtig. Ich weiß, daß irgendwann das Buffett alle war und daß ich dann neben dir im Gras aufgewacht bin und wir dann nach Hause gegangen sind."
"Na, mehr war ja auch nicht. Wir waren ganz brav und du hast dich nicht daneben benommen. Wir können also morgen wieder hingehen ohne rot zu werden."
"Ich weiß ja auch nicht, ich trinke doch normalerweise nicht so viel."
"Wenn das Dimitri mitkriegt, springt er im Viereck."
"Ja, ja."
"Ich habe übrigens meinen Tennisschläger für Korsika eingepackt."
"Das ist nicht dein Ernst."
"Doch...wir spielen. Und wenn es nur eine Runde ist.
"Ich KANN NICHT Tennis spielen."
"Na und, ich konnte auch nicht ringen, als ich hierher kam."
"Aber du wolltest es lernen. Ich WILL aber ganz bestimmt NICHT Tennis spielen lernen."
"Ach komm, hab' dich nicht so."
Nils seufzte: "Von mir aus, aber du wirst bestimmt keinen Spaß mit mir dabei haben."
Wir vertagten das Thema.
"Hier gibt's nix Gscheites mehr zum Fressa."
Wenn Nils zu viel Alk getrunken hat, redet er ein entsetzliches Schwäbisch. Dann habe ich immer totale Mühe ihn zu verstehen. Eigentlich hätte es ja auf der Party keinen Alk geben dürfen, jedenfalls offiziell nicht. Dann gab es aber doch jede Menge Bier und irgendwann tauchte dann noch dieser scheußliche Pflaumenwein auf. Auf jeden Fall war das Buffet viel zu schnell weggegessen. Und so saßen wir um halb elf im Glaskasten und jammerten, weil wir Hunger hatten. Irgendwie haben wir ja damit gerechnet, daß uns Steffen zu McDo fährt, aber der war viel zu beschäftigt mit seinem Mädel. Ach ja Mädel. Benji war da. Ich war total übergerascht. Aber er kennt wohl ein Mädel aus der Abistufe und die hat ihn mitgeschleppt. Wir haben eine ganze Weile miteinander gequatscht und sogar Nils hat ein bißchen mit ihm geredet. Das ist schon komisch, warum er ihn nicht leiden kann. Ich glaube, ich werde ihn mal danach fragen. Also insgesamt war die Party richtig gut. Ich fand es ziemlich spannend, nur ein paar Bier zu trinken und nüchterner zu sein als alle anderen. Nils faselte ständig etwas davon, daß er auch so ein 'tolles' Abi-Shirt haben will.
"Übernächstes Jahr", tröstete ich ihn, "da kriegen wir auch so was."
"Übernägschtes Jahr, wos wois i de, wos da is. Desch isch a ganzes Joahr, a Ewischkeit." Ich mußte lachen, weil ich daran dachte, was schon in dem Jahr alles passiert ist, wo ich hier bin. Was ist im nächsten, was ist im übernächsten Jahr? Was ist, wenn wir unsere Abifeier machen? Ok, ich weiß auf jeden Fall, daß ICH nicht in der Abiband mitmachen werden. Ja, zum Thema Abiband: Die hat zwar scheußlich gespielt, aber was soll schon herauskommen, wenn ein Akkordeon und eine Klarinette in einer Band mitmachen und Rasta dann noch den Baß bedient? Aber die Stimmung war gut.

Nachdem irgendwann feststand, daß uns niemand von den Oberstuflern mehr zum Donald fährt, haben Nils und ich uns abgesetzt und sind in Richtung Viereckschanze getapert. Dort haben wir eine halbe Ewigkeit einfach nur so im hohen Gras nebeneinander gelegen. Still war es. Das fällt mir immer wieder auf in Bergbach. Es ist still. Manchmal so still, daß man Angst bekommt. Manchmal ist es aber einfach auch nur schön. Irgendwo, weit, weit weg bellt ein Hund. Und sonst ist es still in der Nacht. Nils lag neben mir. Ich hielt seine Hand und wir beide guckten in den Himmel. Wir haben nichts gesagt. Wir brauchten nichts zu sagen. Es was einfach nur schön, daß er da war. Er kuschelte sich an mich und legte seinen Kopf auf meine Brust. Und schlief tatsächlich ein. Es war wahrscheinlich wirklich zu viel Pflaumenwein. Irgendwann muß auch ich eingeschlafen sein. Ich wachte auf, weil mir die Schulter wehtat und ich fror.
"Nils, ich glaube ich muß mal etwas aufstehen."
Er brummte etwas, von wegen liegenbleiben, aber stand dann auch auf. Wir gingen langsam zur Schule zurück. Da war allgemeine Aufbruchstimmung und die letzten Reste der Veranstaltung verabredeten sich für die Tofa. Ich war dankbar, daß wir uns nicht angeschlossen haben. Ich war einfach zu müde. Ich brachte Nils noch bis zu unserer Kreuzung und taperte dann nach Hause. Im Sommer, im Sommer ist Bergbach ganz erträglich. Da ist es sogar fast ein bißchen schön. Es ist nicht nur ruhig. Ok es ist langweilig. Aber es ist auch, es ist auch friedlich. Ja, ich glaube, das ist das richtige Wort dafür. Hamburg ist so weit weg. Aber es fehlt mir immer noch. Ich versuche mich an unsere Schulfeten zu erinnern. Alles war cooler. Hier ist es irgendwie überschauberer, jeder kennt jeden, jeder redet mit jedem. Es ist wirklich wie auf einem Dorf. Jeder weiß ein bißchen was von jedem. Bergbach ist ein Dorf und ich bin mittendrin und schwul. Ich weiß nicht, ob das gutgehen kann. Im Moment aber geht es. Und irgendwann werde ich zurückgehen nach Hamburg. Und ich werde Nils mitnehmen. Meinen Nils.

Samstag, 26. Juli 1997

26. Juli

"Wieso packst du denn jetzt schon deine Tasche für die Reise?"
"Warum nicht, dann sehe ich wenigstens, ob ich was vergessen habe."
"Ich habe doch noch gar nicht alles Wäsche fertig."
Mom sieht immer alles so kompliziert. Wenn ich erst nächsten Freitag anfangen würde zu packen, würde sie auch mosern. Aber ich finde es schon schwierig zu gucken, was ich alles mitnehme. Ich habe eigentlich die gleichen Sachen eingepackt wie für Italien im letzen Jahr, nur eben noch die Sachen noch, die ich in Stuttgart gekauft habe. Es kommt ja bestimmt noch was dazu, aber die wichtigsten Sachen, die ich jetzt nicht brauche, habe ich schon mal eingepackt. Yeah, und den Tennisschläger habe ich auch mitgenommen. Ich möchte wenigstens einmal dort Tennis spielen, gegen Nils. Einmal will ich sehen, wie er total außer Atem beim Sport ist.

Gerade hat Doris angerufen und gesagt, daß sie nicht zur Party kommt, weil Lena wohl Fieber hat und sie lieber bei ihr bleiben will. Schade, wäre bestimmt lustig geworden mit ihr.

Freitag, 25. Juli 1997

25. Juli

"Nein Tim, nicht diese Shorts."
"Oh doch, diese Shorts und keine anderen."
"Du bist verrückt. Da sieht man doch sofort, wenn ich einen Ständer habe."
"Gerade deshalb."
Einkaufsbummel in Stuttgart. Nils und ich kaufen für Korsika bei H&M ein. Schließlich habe ich gewonnen. Nils kauft die total schnuckeligen Shorts. Ich bin ja total gespannt, wie die aussehen, wenn er sie am Strand anhat.
Eigentlich ist das ja Wahnsinn, extra für so eine Reise Klamotten einzukaufen. Aber Mom hat mir immerhin 200 Mark gegeben, damit ich mir etwas für die Reise zum Anziehen besorge. Ok, wir waren nicht nur bei H&M sondern auch in diesem coolen Skaterladen. Na jedenfalls habe ich ein paar nette T-Shirts und ein Sweatshirt gefunden, ein Paar Vans, ein total witziges Basecap und eine voll cooles Sonnenbrille. Jetzt kann der Urlaub wirklich losgehen! Zur "Feier" des Tages sind wir noch ins Marylin's gegangen. Aber wenn ich ehrlich bin, finde ich es da inzwischen nicht mehr so toll. Eigentlich ist da die totale Depristimmung in dem Laden.
"Gibt es in Korsika eigentlich ein schwules Café oder so was?"
"Keine Ahnung. Bestimmt nicht. Die sind doch da bestimmt alle total verklemmt. Außerdem heißt das doch 'auf Korsika' oder?"
"Du bist zu viel mit Flo zusammen scheint mir."
Wir tapern voll bepackt mit unseren Tüten zum Bahnhof. In Bergbach erwischen wir zum Glück noch den Bus, der uns bis zu unserer Kreuzung bringt.
Ein kurzer schneller Kuß zum Abschied. Morgen ist große Party...da gibt es garantiert wieder "Iron Lion Zion" bis zum Abwinken. Warum eigentlich nicht.

Das Telefon...bestimmt Nils zum Gute-Nacht-Sagen.

Donnerstag, 24. Juli 1997

24. Juli

"Es kann sein, daß ich nach Brandenburg muß, an die Oder."
"Na dann müßt ihr wenigstens endlich mal arbeiten für euer Geld."
"Sehr witzig. Ich weiß aber nicht, wie das dann mit dem Urlaub klappt."
"Wie lange dauert denn das?"
"Ich habe keine Ahnung. Ich weiß ja auch noch nicht, ob unsere Kompanie überhaupt dahin geordert wird. Aber es wird schon so was gemunkelt."
"Cool, und was macht ihr dann da? Steht ihr mit dem Maschinengewehr auf dem Deich und paßt auf, daß das Wasser nicht rüberkommt?"
"Sehr witzig."
"Sorry, aber du bist selber Schuld. Schließlich wolltest DU unbedingt zum Bund."
"Ich wollte nicht unbedingt dahin. Ich wollte nur kein Zividienst machen."
"Ja, ja."
"Toll, du redest schon fast so wie Dad."
"Du weißt ja, wie ich darüber denke. Wenn jemand sich unbedingt ein Jahr lang enthirnen lassen will, bitte. Aber dann soll er wenigstens nicht jammern."
"Und so was sagt mein eigener Bruder."
"Ja so was sage ich. Ich jedenfalls gehe garantiert nicht dahin."
"Ach Timmi, was verstehst du denn schon."

Das regte mich ja nun wieder auf. Dieses Timmi und dieses Großer-Bruder-Gehabe, so von wegen, was verstehst du denn schon. Aber es ist doch echt so. Die sitzen die ganze Zeit in ihrer Kaserne dumm rum und saufen und machen eigentlich nichts. Nicht daß ich es toll finden würde, wenn Phil mit dem Gewehr in der Hand irgendwo in den Krieg gehen würde. Nein, ganz bestimmt nicht. Deswegen ist ja diese ganze Sache mit dem Wehrdienst so beknackt. Echt so was wie moderne Sklaverei. Was heißt überhaupt modern. Eigentlich überhaupt nicht modern.

Mittwoch, 23. Juli 1997

23. Juli

"Hey, so war das doch gestern nicht gemeint."
"Ach nein? Gibt es vielleicht noch etwas, was du an mir auszusetzen hast?"
"Nun zicke doch nicht rum. Das war doch nur ein Scherz."
"Hmm", brummte ich.
"Tiiim! Hallo! Nur ein Scheeeherz! Hörst du?" Er nahm mich in den Arm und küßte mich auf die Stirn. Seine Hand fährt unter mein T-Shirt. "Du bist perfekt", flüsterte er. "Fast so perfekt wie ich." Dann kniff er mir in den Bauch. Ich drehte mich zur Seite, riß ihn mit und wir kullerten den halben Hügel hinunter.
"Wenn wir nicht aufpassen, landen wir noch unten auf den Bahngleisen."
"Wenn wir nicht aufpassen, wird uns irgendwann, irgend jemand noch hier erwischen."
"Wer läuft schon abends um halb zehn über den Kochertalweg? Und wer schaut dann noch nach, was sich auf der Wiese tut?"
Mein Nils wird unvorsichtig. Und komischerweise gefällt mir das. Er zieht mein T-Shirt aus. "Weißt du, daß du da morgen garantiert einen riesigen blauen Fleck bekommst?" Er tippt auf meine Schulter.
"Ich weiß. Ich dachte vorhin, Dimitri kugelt mir fast den Arm aus, als er den Griff gezeigt hat."
"Du sahst auch nicht gerade glücklich aus."
Er drückt mich sanft ins Gras, seine Finger kreisen auf meiner Brust. "Aber du brauchst keine Angst zu haben, ich passe auf dich auf, daß dir nichts passiert."
Ich schließe die Augen. Genieße ihn.
"Schau mal, wir haben sogar Vollmond."
Ich blinzele: "Na fast, irgendwie scheint er schon abzunehmen."
"Für mich ist es Vollmond." Er legt seinen Kopf auf meine Brust. Wir liegen eine halbe Ewigkeit da, bis es uns irgendwann zu kalt wird.
Bergbach liegt unter uns und mit seinen Lichtern sieht es tatsächlich wieder so aus, wie in einer Modelleisenbahn.

Dienstag, 22. Juli 1997

22. Juli

"Nach den Ferien komme ich wieder."
Wir waren heute bei Tobias. So richtig gut scheint es ihm nicht zu gehen, obwohl er meint, daß seine Lymphknoten schon fast ganz wieder normal sind. Irgendwie bin ich immer total deprimiert, wenn ich von ihm komme. Eigentlich ist er schon ziemlich bescheuert dran. Er hat kaum Freunde, das einzige Mädel, das er mal hatte, hat ihn sitzengelassen und dann noch diese Sache mit dem Krebs.

Nach den Ferien geht es los mit der Oberstufe. Ich hoffe, daß ich die richtigen Leistungsfächer genommen habe. Das Blöde ist halt nur, daß Nils und Doris total andere LFs genommen haben und ich die beiden nur noch in irgendwelchen Nebenfächern sehen werde, wenn ich Glück habe. Wenigstens haben Nils und ich auf die Geologie-Session einigen können, so sind wir auf jeden Fall in einem Kurs garantiert zusammen.

Eigentlich wollte ich ja heute das Krafttraining und das Training mit Werner ausfallen lassen. Aber Nils bestand darauf, daß wir hingehen.
"Schließlich willst DU doch im Oktober nach Leipzig."
"Ich weiß gar nicht mehr, ob ich das überhaupt noch will."
"Jetzt gibt's kein zurück mehr. Außerdem will ich sehen, wie du deinen Heiko schulterst."
"Das ist nicht mein Heiko. Und überhaupt: Wieso willst DU sehen, wie ich gegen ihn gewinne?"
"Warum nicht? Wobei ich das sowieso nicht verstanden habe, was du mir da erzählen willst, so von wegen gegen ihn gewinnen und so."
"Was weiß denn ich. Ich verstehe es ja selber nicht. Außerdem weiß ich gar nicht, ob ich das überhaupt noch will. Das habe ich ja schon mal gesagt."
"Ja, ja. Und selbst wenn. Im November ist wieder Regioturnier. Da bist du sowieso dran."
"Toll, ganz toll. Da kommen dann wieder alle möglichen Mannschaften aus ganz Deutschland und ich bin der absolute Depp. Nee, laß mal. Ich will schließlich nicht Schuld sein, wenn der Wanderpokal verloren geht."
Nils lachte und stelle die Gewichte eine Stufe höher: "Damit deine Brustmuskeln noch etwas wachsen."

Montag, 21. Juli 1997

21. Juli

"Wir fahren dieses Jahr nicht weg. Ich kann ja mit Lena noch nicht so weit fahren. Vielleicht für ein, zwei Tage zum Bodensee, aber mehr auch nicht. Und ihr zwei? Freut ihr euch schon auf Korsika?"
Nils und ich guckten uns an und sagten beinahe gleichzeitig: "Ja!"
"Ach, das ist doch richtig schön", sagte Doris und rieb sich die Hände, "richtig schön, daß ihr zwei euch wieder berappelt habt. Ich glaube, wenn einer von euch noch mal Dummheiten macht, dann werde ich handgreiflich."
Ich mußte lachen. Der Gedanke, daß Doris irgend jemanden verprügeln würde ist schon reichlich abartig. Die letzten Tage vor den Ferien sind immer toll. Die Zeugnisse sind geschrieben, die Lehrer haben auch keine große Lust mehr und alles geht ganz locker ab. Rasta kommt vorbei und steckt uns eine Einladung für's Abi-Abschlußfest zu, wo seine Kombo spielt. Er hat's gut, er ist fertig mit dem Abi in diesem Jahr. Mir fällt auf, daß ich ihn eigentlich noch nie, ohne seine grün-gelb-rote Mütze gesehen habe. Irgendwie schade, daß er nach den Ferien nicht mehr da ist, auch wenn er diesen komischen Musikgeschmack hat.

Selbst beim Training habe ich den Eindruck, daß alles viel lockerer abgeht. Die Leute, die in die Staaten zum Ringer-Austausch fahren, sind schon total aufgeregt.
"Warum fliegst du eigentlich nicht mit?" fragte ich Nils.
"Na, weil wir zusammen nach Korsika fahren."
"Nein, ich meine, das war doch schon VOR Korsika raus, das mit dem Austausch."
"Ja, aber ich steige doch nicht acht Stunden lang in ein Flugzeug."
"Wie? Sag bloß du hast Angst vor'm Fliegen?"
"Ja", antwortete er zerknirscht.
"Und wie um alles in der Welt willst du dann den Flug bis nach Bastia durchstehen?"
"Na das schaffe ich schon. Du bist ja bei mir."
"Warum hast du denn nichts gesagt? Wir hätten uns doch irgendwas anderes aussuchen können, oder hätten mit der Fähre fahren können."
"Ach, das paßt schon."
Mein liebster Nils hat Angst vor dem Fliegen. Da wäre ich ja nun überhaupt nicht drauf gekommen.

Sonntag, 20. Juli 1997

20. Juli

"Es ist schön, daß du da bist", flüsterte Nils in mein Ohr.
Er hatte die Tür abgeschlossen und wir lagen auf seinem Bett. Einfach nur so spüren, daß der Andere da ist. Ich drehte mich zu ihm. Sein T-Shirt war hochgerutscht und ich kitzelte ihn am Bauchnabel. Er versuchte standhaft zu bleiben, doch ich sah, wie sein Bauch bebte. "Du bist gemein", prustete er. Er zog mich nach oben und blickte mir in die Augen. So herrlich tief wie schon lange nicht mehr und ich versank wieder. Versank in seinem Blick. Seine Lippen auf meinen. Es war so toll, ihn zu spüren, die Wärme seines Körpers. Mein Hand lag auf seiner Brust und ich fühlte, wie sein Herz schlug. Ganz leicht glitt meine Hand über seinen Körper. Nils zitterte. "Ich wußte gar nicht, daß du sooo kitzlig bist", flüsterte ich.
Nils brummte nur leise. Wir hielten uns fest. So fest es nur ging. Nils, ich lasse dich nie mehr los, ich lasse dich nie mehr gehen, ich lasse dich nie mehr allein. Als wir nach einer halben Ewigkeit total erschöpft nebeneinander lagen, flüsterte er in mein Ohr: "Weißt du, daß ich mich in dich verknallt habe, in dem Moment, als ich dich das erste Mal gesehen habe?"
"Und du hast nichts gesagt."
"Du bist gut. Was hätte ich denn sagen sollen? Etwa: 'Hey, ich finde dich niedlich?'"
"Warum nicht, wäre doch bestimmt ziemlich cool rübergekommen."
Nils drückte mir ein Kissen ins Gesicht und stand auf. "Was wäre wohl passiert, wenn ich statt auf's CaZe auf diese Schule gegangen wäre?" er deutete aus dem Fenster.
"Auf's Fichte-Gymnasium? Keine Ahnung. Doch natürlich. Wir hätten uns wahrscheinlich nie kennengelernt."
"Wahrscheinlich. Das Leben ist schon manchmal seltsam, so die Zufälle."
"Naja, wer weiß, vielleicht, hätte ich ja dann DEN totalen Traumprinzen getroffen."
Nils stürzte sich auf mich und begann, mich abzukitzeln: "Du Arsch, na warte, das wird dir noch leid tun."
Irgendwann konnte ich nicht mehr vor Lachen und Nils lag auf mir. "Du wirst nie ein anderen Traumprinzen finden. Keinen anderen als mich", flüsterte er in mein Ohr.
"Ich will auch keinen anderen." Ich drückte ihn ganz fest an mich.
"Oh nein, Tim, willst du etwa schon wieder?"
"Ja!!!!"

Ich glaube, wenn das Leben wirklich einen Sinn hat, dann ist es für solche Momente mit Nils. Wenn alles andere auch absolut sinnlos und öde ist, aber für diese Augenblicke will ich leben. Es ist wirklich als wenn ich fliege, als wenn ich schwebe. Ich merke tatsächlich, wie alles in mir voll ist mit Glück oder wie immer man das auch nennt. In diesen Momenten will ich ihn einfach nur festhalten und nie, nie wieder loslassen. Es ist, als wenn ich auftanke. Ich lebe für diese Abende in seinen Armen. Ich bin glücklich. JAAA, ICH BIN GLÜCKLICH!!!!

Samstag, 19. Juli 1997

19. Juli

"Diese Samstage ohne Wettkämpfe sind komisch."
"Wieso?"
"Irgendwie fehlt mir was."
"Also mir fehlt nichts. Absolut nichts."
"Ach Tim", seufzte Nils und ließ sich auf seine Decke fallen.
Ich betrachtete ihn. Meinen Nils. Ja, ich liebe ihn, ich liebe jeden Millimeter an ihn.
"Ich habe Lust auf dich", flüsterte ich.
"Was glaubst du, wie es mir geht? Wenn ich nicht aufpasse, bekomme ich gleich hier einen Ständer."
"Den hab' ich schon."
Nils setzte sich auf und grinste mich an: "Das sieht man. Paß bloß auf, daß niemand zu uns rüberguckt."
Aber dafür lagen wir viel zu weit von den ganzen anderen Leuten im Schwimmbad entfernt.
"Oh nein, Tim, bitte nicht! Ich weiß, was dieser Blick bedeutet."
Ich mußte lachen: "Keine Angst. So verrückt bin ich nicht. Ich möchte nur einfach wieder mal eine Nacht mit dir verbringen. Einfach nur zusammen sein."
Nils nickte. "Was machen wir heute Abend?"
"Keine Ahnung. Es gibt keine Party und im Kino ist auch nichts."
"Können wir zu dir?"
"Wir können schon, aber meine Eltern haben heute Besuch. Irgendwelche Leute von Dads Firma."
"Wollen wir uns bei mir treffen? Vielleicht fällt uns ja noch was ein."
"Da bin ich mir ziemlich sicher."
"Tim! Du hast schon wieder diesen Blick drauf. Laß uns lieber schnell ins Wasser gehen, bevor du hier noch über mich herfällst."
Er sprang auf und lief in Richtung Becken. Nils, mein Nils. Mir geht es gut, gut, gut, gut. Das Wetter ist geil, der Streß in der Schule ist vorbei, ich habe den niedlichsten Freund der Welt. Mir geht es nur gut. Jetzt sitze ich am offenen Fenster in meinem Zimmer und gucke raus. So langsam wird es dunkel. Gleich werde ich zu Nils fahren. Von unten höre ich Moms und Dads Besuch kommen. Ich habe ihnen gesagt, daß ich heute Nacht auf einer Party bin und bei Nils pennen werde. Sie meinten nur, ich soll nicht wieder so viel trinken. Als wenn ich immer und überall viel trinken würde. Ich werde jetzt unter die Dusche springen und dann lostapern."

Freitag, 18. Juli 1997

18. Juli

"Ist wirklich wieder alles im Lot bei euch?"
"Ja, wirklich."
Flo grinste: "Und?"
"Und was?"
"Was war denn nun der Grund? Was war los mit dir? Mit dir und Nils?"
"Was soll schon los gewesen sein? Wir haben uns gezofft, uns gestritten. Meine Güte, so was kommt doch mal vor, oder nicht?"
"Hey, du hast gesagt, du erzählst es mir, wenn alles vorbei ist."
"Ich habe dir gesagt, ich sage es dir, wenn ich es selber verstanden habe, wenn ICH klarer durchblicke."
"Ach nee, ich reisse mir hier ein Bein aus, damit ihr euch wieder vertragt und dann sagt mir nicht mal jemand, worum es eigentlich geht. Ging es um Sarah?"
"Ja." Naja, wenigstens teilweise, war also keine richtige Lüge.
"Warst du auch hinter ihr her?"
"Nein." Uff, noch mal die Wahrheit.
"Was denn dann?"
"Florian, bitte, das ist doch jetzt kein Verhör hier."
Zum ersten Mal sah mir Florian richtig tief in die Augen, so tief und lange, daß ich fast eine Gänsehaut bekam. "Was ist los mit dir Tim? Was ist los mit dir und Nils? Seit du hier bist, ist Nils nicht mehr wie früher."
Ich wich seinem Blick aus: "Zeiten ändern sich und Menschen ändern sich. Frage nicht nach Sachen, die du vielleicht gar nicht wissen willst."
"Du mußt nicht glauben, nur weil wir hier nicht im Hamburg leben, haben wir keine Augen im Kopf und kriegen nicht mit was los ist."
"Was glaubst du denn, ist los? Was glaubst du denn? Verdammt noch mal, dann sage es mir doch, was du denkst!"
"Ich? Ich werde den Teufel tun", seltsamerweise lachte er, "du wirst es mir sagen. Du oder Nils. Irgendwann."
Ich kämpfte mit mir. Ich war wirklich kurz davor, es ihm zu sagen. Ich hätte es ihm wirklich so gerne gesagt, denn ich glaube er ist wirklich ein total lieber Typ. Aber ich habe es nicht fertiggebracht. Was ist, wenn er wirklich nur glaubt, daß wir uns wegen Sarah gestritten haben? Ich konnte es ihm nicht sagen. Denn da hänge ich ja nun nicht nur alleine dran sondern auch Nils. Irgendwann werde ich es ihm sagen. Und vielleicht wird er wirklich der nächste sein, der es erfährt. Aber im Moment geht es nicht. Noch nicht.

Donnerstag, 17. Juli 1997

17. Juli

Wir haben lange am Brunnen gesessen. Es war einer dieser perfekten Momente, die ich einfach nur festhalten möchte. Momente in denen alles stimmt, wo alles nur klar und voll mit Glücklichsein ist, wo die Zeit stillsteht. In diesen Momenten macht es mir nichts aus, hier in Bergbach zu sein. solange nur Nils, mein Nils bei mir ist. Ich weiß, daß diese Augenblicke nicht ewig bleiben werden aber ich möchte sie für immer festhalten. Festhalten und in eine Schachtel stecken.
"Ich habe mit ihr Schluß gemacht. Was denkst du denn? Außerdem war das doch sowieso nichts Ernsthaftes."
Ich weiß nicht, was ich gedacht habe. Ich weiß nur, daß ich auf einmal die totale Panik bekommen hatte. Ich mußte ihn fragen, was mit Sarah war. Wir haben die ganze Zeit nicht mehr über diese Sache gesprochen.
Nils blickte mich an: "Du bist süß. Du bist total süß."
"Mann, ich weiß doch auch nicht. Es gibt so viele Sachen, die ich dich fragen möchte, die ich von dir wissen will. Aber ich traue mich nicht, dich zu fragen."
Nils nahm mich in den Arm und flüsterte mir ins Ohr: "Das ist er, mein kleiner Tim." Er drückte mich ganz fest. "Können wir jetzt wieder ins unsere Betten verschwinden?"
"Ich würde lieber in ein einziges Bett mit dir verschwinden."
"Ich auch, ich würde nichts lieber tun. Aber ich glaube, wenigstens heute Nacht wird daraus nichts."
Ein langer Kuß zum Abschied.

Mittwoch, 16. Juli 1997

16. Juli

"Wie geht's denn meinem Brüderchen?"
"Prächtig und wie geht's dem jungen Pionier?"
Phil lachte. Ich habe mich total gefreut, wieder seine Stimme zu hören. Er kommt Mitte August auf Urlaub zu uns. Das wird bestimmt lustig, ihn wiederzusehen. Er ist tatsächlich immer noch mit seinem Mädel zusammen. Zum Glück hat er mich nicht gefragt, was die Mädchen bei mir machen. Ich möchte ihn so ungern anlügen. Ich möchte eigentlich nie wieder jemanden anlügen. Aber ich weiß, daß das nicht funktionieren wird.
Beim Training war ich heute erstaunlich gut drauf. Ich habe ja eigentlich gedacht, daß die Session gestern so heftig war, daß ich heute nichts mehr machen kann, aber es ging erstaunlich gut und ich habe sogar den Eindruck, als wenn Werners Schnelligkeitsübungen etwas gebracht haben.
Shit, verdammt, mir ist gerade was durch den Kopf geschossen, ich muß unbedingt Nils anrufen.
"Nils, wir müssen uns sehen, sofort."
"Ey Mann, es ist kurz vor zwölf, was ist denn los?"
"Sofort, Nils bitte. An unserer Kreuzung."

Dienstag, 15. Juli 1997

15. Juli

"Habe ich dir nicht beim letzten Mal gesagt, du mußt schneller werden?"
Jetzt entwickelt sich Werner auch noch zum Schleifer. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Die ganze Trainingssession war heute wieder Schnelligkeitstraining. Ich war total fertig und durchgeschwitzt. Nils saß nur feixend am Rand. Auf was habe ich mich denn da nur eingelassen? Ich sehe das schon kommen, ich trainiere mich hier noch zu Tode und dann landen Heiko und ich bei der Auslosung gar nicht auf der gleichen Matte oder er hat inzwischen sein Gewicht verändert oder was weiß ich. Und überhaupt kommt mir das Ganze im Moment als eine ziemliche Schnapsidee vor. Was soll das eigentlich? Habe ich das nötig ihm was zu beweisen? Habe ich das nötig, ihn zu beeidrucken? Wie war das mit dem Ziele stecken? Ach ich weiß es doch auch nicht. Ok, ich mache weiter und werde sehen, wie lange ich die ganze Sache aushalte.
Zum krönenden Abschluß des Abends ließ Werner dann noch Nils und mich ein gemeinsames Match machen. Was natürlich total fies war, weil ich sowieso schon völlig ausgepowert war. Ich dachte wenigstens, daß es schnell geht, Nils hätte total leichtes Spiel gehabt. Aber er spielte mit mir und das machte mich schon fast wütend. Eine geschlagene halbe Stunde haben wir auf der Matte verbracht. Ich konnte nicht mehr, ich war so fertig, daß mir richtig übel wurde und ich glaubte, ich müßte kotzen. Nils kam hinterher: "Alles ok mit dir?"
"Ja, ich bin nur einfach total kaputt."
"Wovon denn? Wir haben doch gar nichts besonderes gemacht."
Da stand er grinsend vor mir, kein Schweißtropfen, frisch und ausgeruht als hätte er nicht gerade auf der Matte gestanden.
"Hast du dir eigentlich schon mal überlegt", fragte ich, "daß das vielleicht doch nicht so ganz der richtige Sport für mich ist?"
Nils setzte sich auf die Bank und guckte ins Leere. "Daran habe ich auch schon einige Male gedacht. Aber ich glaube, Ringen tut dir gut. Auch wenn du nie Badischer Meister wirst."
"Ringen tut mir gut? Mir tun permanent alle Knochen weh."
"Ach komm, du weißt doch genau, was ich meine. Hier geht es doch nicht um ein paar blaue Flecken oder diesen albernen Muskelkater. An was denkst du, wenn du auf die Matte gehst? Wie fühlst du dich dann?"
"Wie ich mich fühle? Keine Ahnung. Ich bin aufgeregt und ich will gewinnen."
"Nur aufgeregt oder mehr?"
"Ich weiß nicht, was willst du denn sagen?"
"Es geht um Angst. Es geht nicht darum, deinen Gegner zu besiegen. Es geht darum, deine Angst zu besiegen."
"Meine Angst, aha. Irgendwann hat mir Werner so was auch mal gesagt."
Manchmal ist mir Nils unheimlich. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich glauben, er ist in einer komischen Psychosekte.
"Warum ringst du? Warum hast du damit angefangen?"
"Du weißt es. Wir haben oft genug darüber geredet."
"Ok, und warum hörst du jetzt nicht damit auf? Du brauchst mir doch nichts mehr zu beweisen."
"Vielleicht doch", konterte ich. "Gib es doch zu, du warst über meinen ersten Sieg doch mindestens genauso stolz wie ich."
Nils wurde rot und grinste: "Du hast recht. Du hast verdammt noch mal recht. Vielleicht verschieben wir die Diskussion doch auf ein anderes Mal. Laß uns Eis essen gehen. Du hast es dir verdient."
Dankbar nahm ich seinen Vorschlag an.

Montag, 14. Juli 1997

14. Juli

"Na dann wünsche ich eine gute Reise."
Yeah, es ist soweit. Wir haben unsere Tickets in der Hand. Am 2. August geht es los. Auf nach Korsika. Ferien, Ferien nur mit Nils in einem kleinen Bungalow am Strand. Vielleicht werden wir das Haus gar nicht verlassen, vielleicht werden wir nichts von Korsika sehen, vielleicht werden wir die ganze Zeit im Bett verbringen. Aber das wäre genauso schön wie alles andere. Hauptsache ich bin mit meinem Nils zusammen, Nur wir beide und niemand, der uns stört. Niemand, wo wir aufpassen müssen.
"Ich glaube, du brauchst mich wohl nicht mehr als Privattrainer, was?" fragte Flo grinsend als Nils und ich zusammen in die Halle kamen. Ich blickte ihn an. Was wußte er? Wieviel wußte er?
"Privattrainer kann man nie genug haben", antwortete ich.
Ich fragte Nils nach dem Training, was er Flo erzählt hatte.
"Nichts. Du glaubst doch wohl nicht, daß ich ihm irgendetwas von uns erzählt habe."
"Na irgendetwas mußt du ihm ja wohl gesagt haben. Sonst hätten wir uns ja wohl kaum bei ihm getroffen."
"Ok, ich habe ihm gesagt, daß wir uns tierisch gezofft haben und daß wir uns in aller Ruhe aussprechen müssen."
"Und das hat er dir abgekauft?"
"Wieso nicht? Ist ja schließlich auch nicht gelogen."
"Er hat ziemlich intensiv nachgefragt, was mit uns beiden los ist und wollte mit mir darüber reden. Es klang so, als wenn er mehr weiß."
"Er hat mich auch einige Male gefragt, was los ist. Aber das hat echt immer so geklungen, als wenn er es nicht auf die Reihe gekriegt hat, daß wir uns gezofft haben. Ich glaube er hat sich einfach nur Sorgen gemacht. Und außerdem hat er im Moment sowieso nur seine Steffi im Kopf."

Ich ließ es dabei. Vielleicht rede ich mir ja auch was ein und eigentlich ist es ja auch fast egal. Wenn Flo was weiß oder ahnt und es bisher niemandem gesagt hat, dann wird er es auch später niemandem sagen. Ein ungerechtes Ding. Bei den Heterojungs sind die Mädchen echt so was wie ein Statussymbol. Das war schon in Hamburg so und hier ist es noch mehr. Guckt alle her, ich habe diese Mädel rumgekriegt. Da läuft man dann mit seiner Trophäe stolz über den Schulhof. Aber wenn man schwul ist, dann läuft man eben nicht mit seinem Freund Arm in Arm knutschend über den Schulhof. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn wir es doch einfach machen würden. Das Theater, das Geschrei würde ich gerne mal erleben. Ok, nicht wirklich, aber ich male es mir eben manchmal einfach aus.

Mom macht sich tierische Sorgen, daß ich sozusagen alleine nach Korsika fahre. Sie weiß natürlich, daß ich mit Nils fahre, aber das scheint sie auch nicht zu beruhigen. "Wenn dir da unten bloß nichts passiert", jammert sie. Ich habe ihr erzählt, daß diese baskischen Terroristen schon seit Ewigkeiten keine Anschläge mehr auf Touristen gemacht haben und daß wenn es dann passiert, ja sowieso passiert, ob Mom und Dad nun dabei sind oder nicht. Ich glaube aber, daß sie das auch nicht beruhigt hat. Aber das ist mir inzwischen auch egal. Es klingt komisch, wenn ich das jetzt hier so aufschreibe, aber vielleicht muß nicht nur ich erwachsen werden, sondern Mom und Dad auch.

Sonntag, 13. Juli 1997

13. Juli

"In drei Wochen sitzen wir am Strand und sehen nur das Meer."
Nils schloß die Augen und ließ sich nach hinten ins Gras fallen. Ich sah sein Gesicht. Nils, mein Nils lag so friedlich lächelnd da und alles an ihm war perfekt. Überhaupt, heute war ein perfekter Tag, denn es stimmte einfach alles. Meine, nein, unsere Stimmung, das Wetter, einfach alles. Es war, als wenn Nils und ich nie getrennt gewesen wären. Fast jedenfalls. Ein bißchen habe ich den Eindruck, daß wir älter, ernster geworden sind. Wir beide. Ich weiß nicht, wie ich es genau beschreiben soll. Wir blödeln genauso herum wie vorher, wir reden genauso miteinander. Und trotzdem ist da immer noch im Kopf die Erinnerung an die Zeit, wo wir getrennt waren. Es wäre auch schön, wenn ich jetzt schreiben könnte, daß in meinem Kopf alles klar und frei ist. Aber so ist es nicht. Ich weiß nicht, vielleicht kommt es ja. Auf jeden Fall bin ich aber glücklich, daß ich ihn wieder habe.
Ich kitzele Nils' Nase mit einem Grashalm.
"Laß das."
Ich mache weiter.
"Laß das, du weißt, ich bin stärker als du."
Ich mache weiter.
Nils greift meine Hand, zieht mich nach unten und ich liege auf ihm drauf. Er hält mich fest: "Ich habe dir doch gesagt, du sollst das lassen." Wir küssen uns. Es ist uns völlig egal, ob jemand vorbeikommt oder nicht. Und das Gras ist eh so hoch, da sieht niemand etwas. Bergbach zu unseren Füssen. Die ganze Welt zu unseren Füssen.
Wir gehen zu mir und machen Pläne für Korsika. Das Telefon klingelt. Doris ist dran, will wissen, was los ist. Statt zu antworten gebe ich Nils den Hörer.
"Ein lustiges Mädel", meint er nach dem Auflegen, "ich glaube, sie mag dich wirklich."
"Das will ich doch hoffen. Aber wer mag mich schon nicht?"
"Eingebildet bist du überhaupt nicht, was?2 fragt er grinsend.
"Und wie. Und ich habe doch allen Grund dazu. Ich habe den niedlichsten Freund der Welt." Ich drücke ihn ganz fest.

Samstag, 12. Juli 1997

12. Juli

"Wie geht es dir?"
"Hatten wir das nicht schon mal?"
"Vielleicht geht es dir ja heute anders?"
"Nils, bitte, laß diese Spielchen. Mir geht es beschissen. Mir geht es dreckig. Oder ganz einfach: Du fehlst mir!"
Hatte ich das gesagt? Hatte ich das wirklich gesagt? Anscheinend ja.
"Du fehlst mir auch. Sehr sogar."
Mir lag die Bemerkung auf der Zunge, daß er sich ja inzwischen mit seinem Mädel trösten kann. Aber ich sagte nichts.
"Was ist mit uns passiert?"
"Ich weiß es nicht", er wich meinem Blick aus, "Tim, ich weiß es echt nicht. Ich glaube wir rennen immer aufeinander zu und doch aneinander vorbei."
"Gut möglich."
Schweigen. Dann ich: "Warum treffen wir uns hier, bei Flo? Und vor allem, wo ist er?"
"Ich finde es gut, daß wir uns hier treffen. Hier hat keiner Heimvorteil. Und wo Flo gerade im Moment ist, weiß ich nicht, ich glaube aber, er ist in Degendorf bei seiner neuen Flamme. Jedenfalls habe ich ihn gefragt, ob wir uns hier treffen können."
"Heimvorteil! Das klingt ja echt wie ein Ringkampf."
"Weißt du, manchmal habe ich wirklich den Eindruck gehabt, daß unsere Beziehung so was ist wie ein Kampf. Wer ist der Stärkere, wer ist der Coolere? Und ich glaube, da hast du bisher immer gewonnen."
"Ich? Interessante Interpretation."
"Siehst du...jetzt wieder. Tim, der Coole. Tim, der über den ganzen Dingen steht. Tim, für den keine Regeln gelten. Tim, der so verdammt überheblich und arrogant sein kann."
Das traf mich. Nils war nicht der erste, der mir vorwarf, arrogant und überheblich zu sein. Etwas ähnliches hatte mir Robert schon mal gesagt und in abgeschwächter Form auch Doris. Bin ich wirklich so schrecklich überheblich? Verdammt noch mal, ich will es doch aber nicht sein!
Schweigen. Eine halbe Ewigkeit.
"Nils, ich bin nicht immer der Starke. Was meinst du denn, wie gut es mir immer ging, wenn du mich einfach nur in den Arm genommen hast und mich festgehalten hast? Verdammt noch mal, das fehlt mir!"
"Wovor hast du Angst? Ich meine wovor hast du am meisten Angst?"
Ich blickte ihn an. Was war das für eine Frage? Was war das für eine Frage von Nils? Wie kommt er denn darauf, mir so eine Frage zu stellen? Ich versuche auszuweichen: "Wie meinst du das?"
"Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Also, willst du antworten oder nicht?"
"Und ich denke, du kennst die Antwort sowieso schon."
"Ich will es hören. Ich will es von DIR hören. Ich will ein EINZIGESMAL von dir hören, daß du eine Schwäche zugibst."
War das der Nils, den ich kannte? Was war mit ihm in den letzten beiden Wochen passiert, daß er um zehn Jahre gealtert schien und mir solche Fragen stellte?
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen: "Ok, wenn du es wissen willst: Ja, ich habe Angst davor, mich lächerlich zu machen. Angst davor, wie ein Idiot dazustehen!"
"Und deshalb spielst du immer den Coolen, stimmt's?"
"Ja, verdammt noch mal ja." Ich weiß nicht, warum ich es nicht schaffte, aus dieser Nummer wieder herauszukommen. Ich befand mich plötzlich in einer Situation, in der ich nur noch dabei war, mich zu verteidigen.
Nach einer halben Ewigkeit konnte ich endlich wieder etwas sagen: "Kannst du mir verraten, wie das jetzt mit uns weitergehen soll? Bleiben wir einfach weiter gute Freunde oder gehen wir uns aus dem Weg oder was?"
"Haben wir eine Wahl?"
"Was ist denn das für eine blöde Frage! Ich denke wir wollen hier nicht mehr das Spiel 'Wer ist der Coole' spielen."
"Tim, ich habe Angst."
"Wovor?"
"Davor, daß du mir wieder wehtust. Davor, daß du mich wieder betrügst. Davor, daß ich plötzlich alleine zu Hause sitze und mir die Augen aus dem Kopf heule."
Nils, Nils, mein Nils sitzt zu Hause und heult. Meinetwegen? Noch nie bin ich auf diese Idee gekommen. Immer dachte ich, daß ich der Einzige bin, der total alleine und verzweifelt zu Hause sitzt und heult. Ich schaue ihn wieder an. Und plötzlich ist in diesem Gesicht, das bis eben so erwachsen und ausdruckslos schien, jede Menge Angst und Unsicherheit zu sehen.
"Ich wollte nie, daß du meinetwegen weinst. Ich wollte dir nie wirklich wehtun. Ich war einfach immer nur glücklich, wenn wir zusammen waren. Aber ich hatte auch immer Angst, etwas Falsches zu machen oder zu sagen. Irgendwas, was du vielleicht nicht verstehen könntest. Und ich hatte immer Angst, daß du irgendwann einfach verschwindest."
Schweigen. Dann rutschte es mir raus, ich weiß auch nicht, wie es dazu kam: "Hast du mit Sarah geschlafen?"
"Ja", die Antwort kam blitzschnell, so als hätte er die Frage schon erwartet.
"Hast du mit Heiko geschlafen?"
"Ja." Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, er hatte mir den Rücken zugedreht.
"Ich habe es mir gedacht, aber ich wollte dich damals nicht fragen. Es hätte mir zu sehr wehgetan. Und es tut mir immer noch weh."
"Ich wollte dir nicht wehtun, echt nicht. Aber mußtest du deshalb unbedingt mit diesem Mädel pennen?"
"Vielleicht ja, vielleicht ja gerade deshalb."
"Was soll das heißen?"
"Vielleicht gerade mit einem Mädel. Vielleicht tut dir das ja gerade weh."
Ich blickte ihn mit offenem Mund an: "Das ist nicht dein Ernst."
"Oh doch. Das ist mein voller Ernst."
"Nils, was soll denn das? Ist das jetzt alles, was von uns übrigbleibt, wer wem am meisten wehtun kann?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr."
Es war eine total abartige Situation. Wir standen in Florians Zimmer, jeder guckte in eine andere Richtung und trotzdem redeten wir miteinander. So konnte das nicht weitergehen. Ich drehte mich zu Nils, ging auf ihn zu, umarmte ihn, drückte ihn ganz fest an mich: "Ich liebe dich", flüsterte ich, "ich liebe dich mehr als alles andere. Ich will dich nicht verlieren."
Er drehte sich zu mir und hatte Tränen in den Augen: "Ich liebe dich doch auch, du kleiner Chaot. Aber ich weiß nicht, ob ich es noch mal aushalte."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nichts mehr sagen.
"Versprichst du mir", fragte er, während er sich aus meiner Umarmung löste, "versprichst du mir, nie wieder fremd zu gehen? Nie wieder mit einem anderen Jungen rumzumachen?"
"Ja, Nils, ja, ich verspreche es. Wirklich!"
Ich verspreche es ihm und ich verspreche es mir. Nie wieder werde ich ihn enttäuschen. Nie wieder werde ich ihn alleine lassen. Ich werde immer für ihn da sein.
"Wollen wir es noch einmal versuchen?" fragte ich.
"Ja, um Gottes willen, ja!!! Tim, ich will dich, ich will dich für immer und ich will dich nie mehr verlieren!"

Freitag, 11. Juli 1997

11. Juli

"Ist doch logisch. Bei Florian ist sozusagen neutraler Boden."
"Wofür brauchen wir denn neutralen Boden? Wir machen doch keinen Agentenaustausch."
Doris sah mich mitleidig an. Dieses Gesicht kannte ich und ich haßte es. Es war dieses: 'Du-bist-ein-kleiner-dummer-Junge-Gesicht'.
"Wie würdest du dich denn fühlen, wenn ihr euch bei ihm treffen würdet? Oder wie würde er sich fühlen, wenn ihr euch bei dir trefft? Oder vielleicht im Venezia, wo halb Bergbach seine Ohren aufspannt? Oder in der Tofa, wo man sich schon beim normalen Gespräch anschreien muß?"
"Ich will nur wissen, was Flo weiß, und was er mit der ganzen Sache zu tun hat?"
Doris zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung, ich kann ihn ja mal fragen."
"Das läßt du gefälligst bleiben. Obwohl, vielleicht sollte ich dich ja einfach mitnehmen, so als Unterstützung."
"Das lasse ich, wie du so schön sagst, gefälligst bleiben. Das ist euer Ding, was da läuft."
"Meinst du Flo weiß irgendwas?"
"Ich habe keine Ahnung. Echt nicht. Ich weiß es absolut nicht. Aber selbst wenn er was weiß, würde es was ändern?"
"Ich glaube, ich würde sterben."
"Wieso? Ich weiß es doch auch."
"Das ist etwas anderes."
"Quark, das ist überhaupt nichts anderes. Wenn er etwas weiß, dann hat er es bisher für sich behalten, also, wo ist das Problem? Und wenn er nichts weiß und nur was ahnt, so what? Was soll's?"
"Ich glaube er ahnt etwas."
"Und selbst wenn. Bist du eigentlich schon mal auf die Idee gekommen, daß es für andere Leute wichtigere Dinge im Leben gibt als Tim Berger?"


"Kann ich mir schwer vorstellen", antwortete ich lachend. Aber die Frage beschäftigt mich schon. Also natürlich ist mir klar, daß es für alle anderen Leute wichtigere Sachen gibt als mich. Aber das alles, was hinter dieser Frage steckt, das ist schon seltsam. Sehe ich vielleicht die ganzen Sachen viel zu kompliziert? Spiele ich wirklich die Rolle, die ich spiele und denke ich tatsächlich permanent daran, wie ich bei anderen damit rüberkomme? Vielleicht schon. Vielleicht mache ich mir einfach viel zu viele Gedanken darüber, was andere über mich denken. Aber verdammt noch mal, war ich nicht bis vor kurzem darauf stolz, daß es mir total egal ist, was andere Leute über mich denken? Shit, ich drehe mich im Kreis. Das kann doch alles nicht wahr sein. In zwei Stunden treffe ich mich mit Nils bei Flo, sozusagen um unsere Sache endgültig zu begraben und ich mache mir einen Kopf darum, wie ich bei anderen Leuten rüberkomme.

Donnerstag, 10. Juli 1997

10. Juli

"Ich habe gehört, du machst weiter Extra-Sessions mit Werner und inzwischen sogar mit Flo?"
"Ja. Hat sich das etwas schon rumgesprochen?"
"Du weißt, wie unser Verein ist."
"Ich befürchte: ja. Aber es ist mir egal."
"Leipzig? Heiko?"
Anscheinend kannten wir uns immer noch gut genug, daß zwei Stichworte reichten.
"Ja."
Eigentlich hatte ich ja ein Grinsen erwartet, doch es kam nicht. Statt dessen nickte er: "Man muß sich Ziele stecken."
"Toll, das Gleiche habe ich mir auch gesagt."
Dann plötzlich und ganz ohne Vorwarnung: "Wie geht es dir?"
Ich war verblüfft. Ich hatte mit so vielen Sachen gerechnet. Aber damit nun bestimmt nicht. Es dauerte einen Moment, bis ich einen halbwegs klaren Gedanken hatte: "Wie soll es mir wohl gehen? Beschissen wäre vielleicht das richtige Wort."
Nils blickte mich lange an. Ich versuchte, irgend etwas in seinen Augen zu lesen. Es gelang mir nicht. Nichts, kein Gefühl, keine Wärme, keine Kälte, gar nichts. Was war mit ihm passiert? Was war mit meinem Nils geschehen?
"Und wie geht es dir?" wollte ich wissen.
Er antwortete nicht. Statt dessen widmete er sich seiner Lieblingsbeschäftigung, Fäden aus der Mattenplane zu pfriemeln.
"Ich habe gefragt, wie es DIR geht!"
Nicht, daß es mich wirklich interessiert hätte. Ich wollte nur nicht als totaler Depp dastehen.
"Was meinst du wohl, wie es mir geht?"
Oh toll, ich hasse solche Gespräche: Frage - Gegenfrage - Frage - Gegenfrage. Das ist doch alles nicht mehr wahr. Vor allem was hätte er denn zu jammern? Er hat doch dieses Mädel an seiner Seite, mit dem er rumknutschen kann. So schlecht kann es ihm eigentlich nicht gehen.
Plötzlich stand er auf. Dann sah er mich lange an. Ich kam mir irgendwie total seltsam vor, ich sitze auf der Matte und er steht vor mir und guckt auf mich runter. Nach einer halben Ewigkeit sagte er: "Laß uns morgen reden. Laß uns morgen treffen und miteinander reden. Vielleicht wird es langsam mal Zeit, daß wir richtig miteinander reden."
Nun sitze ich da und schaue ihn unbewegt an. Warte. Warte, bis er mehr sagt. Und tatsächlich: "Morgen, morgen um acht bei Flo, ok?"
Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, meine Reaktion zu zeigen. Doch ich weiß es, ich habe es einfach wiederholt: Morgen um acht bei Flo. WARUM um alles in der Welt bei Flo? Was soll denn DAS werden. Ich hätte ihn am liebsten sofort gefragt. Ich hätte ihn geschüttelt und angeschrien, was Flo mit dieser ganzen Angelegenheit zu tun hat. Aber ich bin nach außen hin cool geblieben. Ich verstehe nichts mehr. Aber das Seltsame ist, daß es mir nichts mehr ausmacht. Es ist mir egal. Es ist mir irgendwie alles egal.

Mittwoch, 9. Juli 1997

9. Juli

"Das Reisebüro hat angerufen. Wir sollen die Unterlagen für Korsika abholen."
Shit, genau DAS mußte ja irgendwann kommen. Unsere Sommerreise. Wir standen da und schauten uns in die Augen. Ich konnte nicht erkennen, was Nils dachte. Bevor einer von uns etwas sagen konnte, rief Dimitri. Das ganze Training überlegte ich, was ich jetzt machen soll. Ziemlich spät, ich weiß, weil irgendwann mußte es ja kommen. Und jetzt? Vielleicht sollte ich Nils vorschlagen, daß er alleine mit Sarah fährt. Das kommt bestimmt total cool rüber. Beim Training haben wir nicht mehr darüber reden können und danach ist Nils gleich abgerauscht. Er meinte nur kurz: "Laß uns morgen darüber reden", und war weg.

Was mache ich nun? Ok, also daß wir zusammen fahren ist ja nun völlig ausgeschlossen. Also bleibt die Möglichkeit, daß wir die ganze Reise absagen. Dann dürfen wir wahrscheinlich jede Menge Kohle für das Canceln blechen, wenn nicht sogar den vollen Preis. Also, andere Möglichkeit, einer von uns fährt alleine und nimmt irgend jemanden mit. Ich habe aber nun keine Lust alleine zu fahren und außerdem weiß ich gar nicht, wen ich mitnehmen sollte. Außerdem würde ich wahrscheinlich wahnsinnig werden dort. Ich hatte mich so auf einen gemeinsamen Urlaub mit Nils gefreut, daß wenn ich da jetzt alleine hinfahre bestimmt durchdrehe. Also muß Nils fahren. Ist mir auch total egal, wenn ich da irgendwie meinen Anteil draufzahlen muß. Aber dann kann ich auch nicht mehr wegfahren diesen Sommer. Und dann diese blöde Fragerei zu Hause: Ich dachte du wolltest mit ein paar Freunden diesen Sommer wegfahren. Ich weiß echt nicht, was ich machen soll. Aber wahrscheinlich wird es schon dazu kommen, daß Nils fährt und ich mir eine Ausrede für meine Family einfallen lasse.

Ansonsten meine Flo, daß er heute garantiert nicht für ein Special-Training zur Verfügung steht. Ich konnte ihn aber beruhigen, ich war mindestens ebenso fertig wie er. Vor allem, weil ich ja gestern noch das Training mit Werner hatte.

Dienstag, 8. Juli 1997

8. Juli

"Du bist einfach zu langsam. Du mußt schneller werden. Dein Gegner darf keine Zeit haben, mitzukriegen, was für einen Griff du ansetzen willst."
Werner hat mich heute echt in die Mangel genommen. Vielleicht war es ja auch die heftige Trainingssession gestern mit Flo. Aber ich bin echt total fertig. Jedenfalls hat mir Werner ein paar Schnelligkeitsübungen gezeigt. Er meint, daß das ganz wichtig ist, vor allem, wenn man so leicht ist wie ich. Na ich bin ja mal gespannt. Nils war nicht beim Krafttraining heute. Ich weiß nicht, ob er vorher kommt oder vielleicht an einem anderen Tag, um mir nicht über den Weg zu laufen. Ich habe keine Ahnung.

Ich habe versucht, Heiko anzurufen, aber es war niemand zu Hause. Schade eigentlich.
"Das kann doch nicht wahr sein. Willst du etwa immer noch weitermachen?"
Flo guckte mich beinahe flehend an.
"Eine Runde noch, ok?"
"Na gut!"
Wir hatten nach dem Training noch zusammengesessen und ich meinte, daß ich eigentlich noch weiter trainieren könnte. Irgendwie glaubte er wohl, daß ich Witze mache und willigte ein. Nach zwei Stunden war er total fertig. Ok, ich auch, aber eigentlich ist ja Flo immer der, der mit der Kondition am besten von uns allen drauf ist.
"Kommst du jetzt zu deiner alten Form zurück?" fragte er
"Mal sehen, ich weiß noch nicht. Aber mich hat mal wieder das Ringerfieber gepackt."
Flo runzelte die Stirn: "Du bist komisch Tim, nein, nicht komisch, seltsam."
"Seltsam? Wieso?"
"'Wieso' ist in diesem Zusammenhang die falsche Frage. Korrekt wäre 'inwiefern'."
"Ok, ok, ich weiß, Deutsch als LK, aber ich habe jetzt echt keinen Bock auf solchen Unsinn, also wieso oder inwiefern von mir aus?"
"Ich kann es nicht richtig sagen. Mal bist du echt gut drauf und dann bist du plötzlich so reizbar, überempfindlich, unausstehlich und aggressiv."
Ich schaute ihn einfach nur an. Was sollte ich darauf denn auch schon sagen?
"Und du willst wirklich nicht mit mir darüber reden?"
"Flo, bitte, nein, drängele mich nicht. Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann mal. Aber im Moment geht das einfach nicht."
"Ich sehe doch, was los ist. Du hast dich mit Nils gezofft, warum auch immer. Das geht mich ja vielleicht wirklich nichts an. Aber ihr habt heute beim Training kein Wort miteinander geredet. Und vorhin hast du dich sogar geweigert, einen Trainingskampf gegen ihn zu machen. Im Endeffekt leidet die ganze Mannschaft darunter."
Im Endeffekt, im Endeffekt ... Flo wird bestimmt mal Journalist. Oder Deutschlehrer.
"Geht es dir um die Mannschaft oder um etwas anderes?" Ich war richtig stolz, auf diese Antwort. Aber er ließ sich nicht so leicht abwimmeln: "Es geht mir um die Leute, die dahinter stecken. Es geht mir um Nils und es geht mir um dich. Ihr seid beide meine Freunde und ich kriege das echt nicht auf die Reihe, was hier im Augenblick abgeht. Du prügelst auf Nils ein. Redest kein Wort mehr mit ihm. Und du verschwindest von meiner Party. Ganz plötzlich, nachdem Nils angefangen hat, mit Sarah zu knutschen."
Ich schwieg. Und ich kämpfte mit mir. Soll ich es ihm sagen? Was würde passieren? Wie würde er reagieren? Würde er es verstehen oder würde es innerhalb von kürzester Zeit überall rum sein? Tim Berger ist schwul und hat sich mit seinem Freund verkracht. Tolle Aussichten. Ich könnte mich einsargen lassen. Im Verein, in der Schule. Zu Hause. Warum fragt Flo so intensiv nach? Warum interessiert ihn da so? Ich bin mir 100% sicher, daß er nicht schwul ist, so sicher, wie ich mir bei jedem anderen aus unserem Verein bin. Also, warum? Ist es wirklich so, daß es ihm um Nils und mich geht? Bin ich einfach zu mißtrauisch? Vielleicht leide ich ja echt unter Verfolgungswahn.

Tassi hatte ich es gesagt. Aber Tassi war weit, weit weg. Meine alten Kumpels waren weit, weit weg. Ich wünschte mich zurück an die Zeit, wo ich noch im GySue war. Da war alles klar. Niemand wußte was und niemand brauchte was zu wissen. Und hier, hier in diesem Kaff, wo jeder jeden kennt, fange ich an, mich richtig zu verlieben. Das ist alles nicht fair.
Und dann habe ich etwas seltsames gemacht. Ich weiß nicht wieso, aber es überkam mich einfach: ich habe Florian in den Arm genommen, ihn fest gedrückt und gesagt: "Sobald ich wieder etwas klarer bin, sage ich es dir als Ersten, versprochen." Ich merkte, wie er für den Bruchteil einer Sekunde zurückzuckte, als ich ihn umarmte. Dann sah er mich an, grinste, nein er lächelte: "Ich glaube, du machst es dir selber viel schwerer als es sein muß. Aber ok, wenn du es so willst. Und jetzt laß uns endlich abhauen, bevor sie uns noch einsperren, wegen Extrem-Training."

Weiß er Bescheid oder nicht? Ich habe keine Ahnung. Auf der einen Seite sind seine Andeutungen ja schon ziemlich eindeutig. Auf der anderen Seite klingt es so, als wenn er wirklich glaubt, ich habe mich mit Nils wegen dieses Mädels gezofft. Jedenfalls bin ich nach unserem Training noch eine halbe Ewigkeit durch die Stadt gelaufen. Habe wieder mal am Brunnen gesessen. Die Stadt schlief. Schlief tatsächlich schon um halb zwölf Uhr in der Nacht. Hier habe ich ganz am Anfang gesessen, die ersten Wochen und immer daran gedacht, wie toll es wäre, einen Freund zu haben. Und jetzt, jetzt hatte ich einen Freund. Tatsächlich einen Freund in diesem Nest, und ich habe ihn verloren. Für immer verloren. Ich werde zurück nach Hamburg gehen, gleich nach dem Abi werde ich nach Hamburg gehen. Irgendwo da Zivildienst machen und dann entweder da bleiben oder einfach abhauen, nach London, oder New York. Irgendwohin, nur raus, raus aus diesen bescheuerten Regeln, raus aus diesem Nettsein und Rücksichtnehmen, raus aus diesem Theaterspielen und Frustriertwerden.

Montag, 7. Juli 1997

7. Juli

"Nils ist heute nicht da."
"Ach was, das sehe ich selber."
"Du weißt nicht, wo er ist?"
Ich blickte Doris verständnislos an: "Wieso sollte ICH wissen, wo er ist?"
"Hätte ja sein können, daß ihr gestern telefoniert habt."
Manchmal verstehe ich sie nicht. Manchmal verstehe ich sie überhaupt nicht. Wieso um alles in der Welt sollte ich noch mit Nils telefonieren?
"Am Samstag jedenfalls war er noch beim Wettkampf dabei. Vielleicht hat er ja mit seiner neuen Tussi die Nächte durchgefickt."
"Tim! Ich glaube, du machst es dir selber absichtlich schwer."
"Wahrscheinlich", murmelte ich. Ich hatte keine Lust mehr zu diskutieren.

Der Unterricht rauscht an mir vorüber.

Ich sitze zu Hause und überlege. Soll ich zum Training gehen oder nicht? Warum eigentlich? Wofür habe ich überhaupt mit dem Ringen angefangen, warum habe ich mich so angestrengt? Nils, Nils, Nils. Alles immer nur wegen Nils. Um Nils etwas zu beweisen, um Nils zu beeindrucken, um Nils eine Freude zu machen, um Nils nicht zu enttäuschen. Und jetzt? Wieso sollte ich jetzt dieses Spiel überhaupt noch machen? Diese Schinderei? Vielleicht sollte ich heute hingehen und allen sagen, daß ich aufhöre. Einfach nur, daß ich aufhöre und das war es dann. Mein Blick fällt auf die Pinnwand. Heikos Telefonnummer. Heiko. Leipzig. Und auf einmal weiß ich, daß ich weitermache mit dem Ringen. Wenigstens bis Leipzig. Bis ich zum ersten Mal wieder mit Heiko auf der Matte stehe. Ich werde für Leipzig trainieren! Vielleicht muß man sich einfach ein Ziel stecken. Vielleicht ist es einfach nur so im Leben, daß man sich von Ziel zu Ziel hangeln muß?
Ich packe meine Tasche und ich weiß, daß ich in den nächsten Monaten hart trainieren werde. Und heute fange ich damit an. Auch ohne Nils!

Sonntag, 6. Juli 1997

6. Juli

"Du hast Liebeskummer, stimmt's?"
Ich kam aus der Umkleide und Flo stand in der Tür. Ich hatte meinen Kampf gewonnen, zwar nur mit zwei Punkten Vorsprung, aber immerhin. Doch als der Kampfrichter meinen Arm hob, konnte ich mich nicht freuen. Da war kein Nils, dessen strahlende Augen mich trafen, der sich freute, daß ich gewonnen hatte. Nils saß in einer Ecke und unterheilt sich mit irgendwelchen Leuten. Hatte nicht mal meinen Kampf mitverfolgt. Ich hatte gewonnen und unser Verein hatte gewonnen. Aber alles das ging an mir vorüber.
"Wie kommst du da drauf?" wollte ich wissen.
"Du siehst so aus. Du bist sonst so fröhlich und seit ein paar Tagen bist du wie ausgewechselt."
"Ich mag nicht darüber reden."
"Hey, was ist los?!"
"Florian, bitte, das verstehst du nicht."
"Vielleicht verstehe ich mehr, als du glaubst. Vielleicht bin ich auch nicht so blind, wie du glaubst."
Ich schaute ihn an: "Was meinst du damit?"
"Was ich damit meine, sage ich dir, wenn du mir erzählst, was mit dir los ist. Erst dann."
Ich schob ihn beiseite und versuchte ruhig zu bleiben: "Ich will nicht darüber reden. Wirklich nicht."
Flo seufzte: "Dann eben nicht. Ich dachte, ich kann dir irgendwie helfen."
Ich mußte lächeln. Zum ersten Mal seit so vielen Tagen, lächelte ich. "Es ist lieb von dir, wirklich. Aber im Moment, im Moment...", die Tür zur Umkleide ging auf und Nils kam rein. Mir wurde schwarz vor Augen und ich schaffte es gerade noch, meinen Satz zu Ende zu bringen, "im Moment muß ich da alleine durch."
Ich stehe auf dem Parkplatz. Die Luft klebte wieder. In Hamburg war irgendwie immer eine Brise und trotz der Großstadt immer irgendwie frische Luft. Hier in Schwaben klebt im Sommer alles. Ich setze mich in den Bus in die letzte Reihe. Laßt mich in Ruhe. Ich brauche es nicht zu sagen, alle scheinen es zu respektieren, scheinen es zu merken. Wir rumpeln durch die Gegend. Landschaft zieht am Fenster vorbei. Die anderen lachen, blödeln rum. Ich gehöre nicht dazu. Ich gehöre nirgends dazu. Der Bus hält an einem Gasthaus. Großes gemeinsames Abendessen. Irgendwo in einer grölenden, lachenden Horde Jungs sitzt Tim, Tim ganz alleine. Es ist schon nach zwölf, als wir endlich wieder in Bergbach eintrudeln. Der Bus bringt uns noch bis zur Tür jedes einzelnen. Als er bei Nils hält, ist mir fast so, als müßte ich mit aussteigen. Nur eine Sekunde. Ich versuche, ihm nicht nachzuschauen. Der Bus biegt an unserer Kreuzung wieder in die Hauptstraße ein. An unserer Kreuzung. Wieder läuft ein Film in mir ab, was für Momente wir hier verbracht hatten. Als nächstens hält der Bus vor dem Hügel zu unserer Siedlung. Flo boxt mir freundschaftlich auf den Arm: "Kopf hoch."
Ich nicke. Falle ins Bett und schlafe.

Den Nachmittag heute habe ich damit verbracht, meine alten Tagebücher zu lesen. Was ist das für ein Leben. Ob es anderen schwulen Jungs genauso geht? Wann ist denn endlich mal Ruhe? Wann kann ich endlich mal die Augen zu machen und mich treiben lassen, Spaß haben? Ohne Angst zu haben, daß jemand rausbekommt, daß ich schwul bin, ohne Angst, daß mich mein Freund verläßt, ohne Angst zu haben, allein durch die Welt zu laufen?

Samstag, 5. Juli 1997

5. Juli

"Wer ist denn das Mädchen, das Nils bei sich hat?" fragte Doris.
"Das ist Sarah", antwortete ich gepreßt, "die aus der Tofa."
Doris zog mich beiseite: "Ganz ruhig. Fang' jetzt hier nicht an auszutickern. Bitte nicht!"
"Ist schon ok, ich bleibe ja ruhig", sagte ich. Doch innerlich kochte ich. Ich kochte vor Wut, vor Eifersucht und vor Haß. Wo war diese verdammte Gleichgüktigkeit der letzten Tage?
Eine Party wie andere auch. Wahrscheinlich hätte ich auch Spaß gehabt, wäre da nicht die Sache mit Nils. Ich wollte mich zusammenreissen, wollte tapfer sein. Aber ich mußte immer und immer wieder rübergucken. Er und Sarah schienen eine Menge Spaß zu haben, sie lachten und lachten. Und ich merkte, wie es in mir immer mehr kochte. Ich sezte mich von den anderen ab, ging hinaus, die Straße runter. Wollte einfach nur meine Ruhe haben. Doch es ging nicht. Jeder Schritt hämmerte in meinem Kopf, ich malte mir aus, was Nils wohl gerade in diesem Moment mit ihr machte. Nach zehn Minuten drehte ich um. Wollte meine Sachen holen und gehen. Doris saß in der Eingangstür.
"Wo warst du?"
"Spazieren, ich brauchte frische Luft."
"Bei einer Gartenparty, brauchst du frische Luft."
"Du weißt genau, was ich meine."
Sie nickte: "Es ist besser, wenn du nicht reingehst", meinte sie.
"Wieso?"
"Es ist einfach besser. Komm, wir gehen, wir können noch zu mir gehen und reden."
"Was ist denn los?" Ich schob mich an ihr vorbei in den Garten. Und da wußte ich, was sie gemeint hatte. Nils stand an einem Baum gelehnt und knutschte mit Sarah rum. Nils, mein Nils, umarmte ein Mädchen und küßte sie.
"Tim komm, wir gehen jetzt", Doris zog an meinem Arm. Ich ließ es mit mir geschehen und wir standen wieder auf der Straße. Wie ein kleines Kind zog sie mich hinter sich her. Irgendwann blieb ich einfach stehen und setzte mich auf den Bordstein. Dieses Bild, es ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Es geht mir auch jetzt nicht aus dem Kopf. Es wird mir nie, nie wieder aus dem Kopf gehen. Nils, mein Nils knutscht mit einem Mädel rum. Doris nahm mich in den Arm und drückte mich.
"Es tut mir leid", flüsterte sie, "ich wollte nicht, daß du das mitkriegst."
"Da ist nichts, hat er zu mir gesagt. Da ist nichts mit Sarah. Das hat er noch vor ein paar Tagen zu mir gesagt. Und jetzt?" Ich konnte nicht mal mehr heulen.
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tim, es tut mir leid, wirklich. Ich hätte es dir so sehr gewünscht, daß du glücklich mit ihm bist.
Ich weiß nicht, wie lange wir so da saßen. Ich konnte nichts denken, sah nur die beiden, wie sie rumknutschten.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und stand auf.
"Tim, wo willst du hin?"
"Zurück, ich will zurück. Ich will mit ihm reden, ich will ihn fragen, was das soll."
"Bist du irre geworden, oder was? Willst du ihm vor der halben Klasse und eurem Verein eine Szene machen? Willst du dich hier wirklich unmöglich machen?"
"Soll er einfach so damit durchkommen?"
"Tim, es ist vorbei. Was soll denn das jetzt noch?" Sie hielt mich fest. Ich hätte mich losreissen können, doch eigentlich wollte ich gar nicht zurück. Es war doch sowieso alles sinnlos.
"Ich gehe nach Hause."
"Bist du sicher? Willst du nicht nicht doch lieber zu mir kommen?"
Ich schüttelte den Kopf und trottete los. Doris schweigend neben mir her. Als wir vor unserem Haus waren fragte sie mich: "Soll ich noch mit hochkommen, willst du noch reden?"
"Nein, wirklich nicht. Worüber soll ich noch reden? Keine Angst, ich gehe nicht zurück. Ich will einfach nur vergessen."
Doris drückte mich heftig zum Abschied. Ich ging nach oben. In Dads Arbeitszimmer noch Licht: "Tim, du bist schon zurück?"
"Ja, war nicht so doll, die Party."
Dad steht in der Tür: "Was ist los. Hast du zu viel getrunken?"
"Nein, verdammt noch mal, ich bin total nüchtern. Es war einfach nur 'ne Scheiß-Party!"
Ich ließ ihn stehen und ging in mein Zimmer. Ließ mich auf mein Bett fallen. Versuchte zu heulen, doch es ging nicht. Keine Tränen mehr, nur dieses ungeheure Gefühl von Einsamkeit. Ich setze mich an meinen Schreibtisch, lege eine Kassette ein, die Nils mir aufgenommen hat, mit diesen entsetzlich schönen und traurigen italienischen Schnulzen, zu denen wir immer so glücklich gekuschelt haben. Und endlich, endlich heule ich. Es ist, als wenn ein Film in meinem Kopf abläuft. Ein Film, mit Nils. Wie wir uns das erste Mal gesehen haben, unsere erste kleine Rauferei auf dem Schulhof, seine Hand auf meiner Schulter, sein Blick in der Umkleide, die Momente, in denen wir einfach nur rumgeblödelt haben, gemeinsam gelacht haben, die Nacht auf Sylt, wo wir uns das erste Mal geküßt haben, das erste Mal miteinander geschlafen haben, mein erster Sieg und Nils' leuchtende Augen. Alles, alles, was wir gemeinsam erlebt haben ist wie ein Film, ein Videoclip. Sekunden voll mit Glück. Momente, die nie wieder kommen. Ich sitze einfach nur da, schreibe, gucke aus dem Fenster, träume, heule. Irgendwann wird es langsam hell. Kein Traum. Alles um mich herum ist Wirklichkeit. Ich gehe unter die Dusche. Versuche alles abzuwaschen. Gehe zurück in mein Zimmer und räume alles, was mich an Nils erinnert weg. Die Kassetten, die CDs, die Bücher, die Reiseprospekte. Korsika, vergiß es, es wäre so schön geworden. Als letztes nehme ich den kleinen Eisbär. Ich packe alles zusammen in eine Kiste. Nichts mehr sehen, was mich an ihn erinnert. Die Gedanken, die Erinnerungen sind schlimm genug.
Dann gehe ich runter und laufe. Ich jogge. Doch es hilft nichts. Nils bleibt in meinem Kopf. Ich renne schneller, weiter bergauf. Meine Lungen scheinen zu brennen. Doch er ist immer noch da. Warum, warum nur ist das alles so schwierig?

Zu Hause gemeinsames Frühstück. Ich spiele eine perfekte Rolle. Lasse mir nichts anmerken. Ich bin ein Schauspieler, lächele auf Bestellung. Spiele mit Lisa und doch ist mein Kopf gleichzeitig ganz woanders.
Irgendwann kommt Mom in den Garten: "Telefon für dich. Hier unten, auf unserer Leitung."
"Wer ist es?"
"Ich weiß nicht, ich glaube Doris."
Ich tapere zum Telefon. Es ist Doris: "Wie geht es dir?"
"Blöde Frage. Was meinst du denn, wie es mir geht?"
"Wollen wir uns irgendwo treffen? Was zusammen unternehmen? Damit du auf andere Gedanken kommst?"
"Ich will nicht auf andere Gedanken kommen", schreie ich. Dann wird mir klar, daß es ja total daneben ist, wenn ich Doris anschreie. "Nein, wirklich nicht, Doris, das ist wirklich total lieb von dir. Aber ich kann im Moment nichts sehen und hören. Ich will nichts sehen und hören. Mein Kopf ist voll und leer gleichzeitig."
"Ok, wenn du irgendjemand zum Reden brauchst, dann melde dich, ok?"
"Ok."
Doris ist ein Goldstück. Und doch kann sie mir nicht helfen. Mir kann niemand helfen. Es gibt Mittag. Ich gehe wieder auf mein Zimmer. Jetzt klingelt mein Telefon. Ich gehe nicht ran, habe Angst es könnte Nils sein. Es ist Flo, der auf meinen Anrufbeantworter spricht: "Hallo Tim, du warst gestern so schnell weg. Na wer weiß, wen du wieder abgeschleppt hast. Hoffentlich denkst du daran, daß wir heute doch noch Wettkampf haben und eine Stunde früher als sonst."
Shit, auch das noch! Wettkampf. Ich überlege, ob ich überhaupt hingehe. Es ist nichts, was mich in diesem Verein noch hält. Gar nichts. Im Gegenteil. Aber ich kann die anderen Jungs jetzt nicht auf einmal so im Stich lassen. Ich packe hastig meine Sachen zusammen und düse los.

Freitag, 4. Juli 1997

4. Juli

"Holst du mich nachher ab? Dann können wir zusammen zu Florian fahren."
"Uff, das ist aber ein ziemlicher Umweg."
"Ich dachte wir gehen gemeinsam zur Party."
"Ja, nein, ach, was...ja, ok, ich hole dich ab. Ich bin so gegen acht bei dir, ok?"

Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger Lust auf Party habe ich. Was soll ich da? Feiern, gute Laune haben? Ich bin schwul, mein Freund hat gerade mit mir Schluß gemacht und ich laufe seit einer Woche wie ein Zombie durch die Gegend. Da ist Party natürlich genau das Richtige. Andererseits ist es ja vielleicht mal wieder eine Möglichkeit, sich ordentlich zuzuschütten, abzudancen und einfach alles zu vergessen. Vielleicht bringt ja Max ein paar von seinen Tanztabletten mit.

Donnerstag, 3. Juli 1997

3. Juli

"Ja, ich komme."
Ich muß Doris wohl ziemlich verdattert angeguckt haben. Sie sagt zu, zu einer Party bei Flo! Ohne daß man sie überreden muß. Ich bin ja völlig baff. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, daß Flo 'sogar' gesagt hatte.
Ich gebe zu, daß mir gar nicht nach Party ist. Und das Schlimmste ist, daß wahrscheinlich Nils dort aufkreuzen wird. Was heißt wahrscheinlich, totsicher. Warum sollte Flo ihn nicht auch einladen. Und genau das ist das Problem. In der Schule und beim Training können wir uns ja halbwegs aus dem Weg gehen. Wir sagen brav "Guten Tag" und das war's dann. Aber bei so einer Party? Shit, am liebsten würde ich wieder absagen. Aber das geht jetzt natürlich nicht mehr, vor allem, wenn Doris auch schon zugesagt hat. Ok, dann kann ich mich wenigstens den ganzen Abend mir ihr unterhalten.

Mittwoch, 2. Juli 1997

2. Juli

"Freitag Abend Grillparty bei mir."
"Ach nee, mit deinen Alten oder mit den Bullen?"
"Weder noch", Flo lachte, "diesmal wissen alle Bescheid. Sogar unsere bekloppten Nachbarn. Also Party total. Rasta macht Musik."
"Arrrgs, das heißt, den ganzen Abend Reggae! Na das kann ja was werden. Ich weiß nicht, ob ich komme. Mir ist nicht so nach Party im Moment."
"Nix da, du kommst. Es kommen sogar ein paar nette Mädels...extra importiert aus Waiblingen."
"Das hat mir gerade noch gefehlt", rutschte es mir heraus.
"Du kannst sogar Doris mitbringen."
"Was heißt denn hier 'sogar' ?"
"Nichts, ach, was weiß ich...du kommst auf jeden Fall."
Grillparty bei Flo. Da muß doch einfach was passieren, wenn schon nicht seine Eltern oder die Bullen aufkreuzen, dann regnet es bestimmt oder irgend so was.

Ansonsten durfte ich heute mit dem Neuzugang Halbnelson üben. Ich fand es echt öde, aber was soll man machen, ich habe ja auch mal angefangen. Shit, und das ist gar nicht so lange her.

Dienstag, 1. Juli 1997

1. Juli

"Und, wie geht's dir?"
"Ich weiß es nicht."
"Wie? Du weißt es nicht? Du mußt doch wissen, wie es dir geht!"
"Nein, ich weiß es echt nicht. Es ist alles so, so unwirklich. Als wenn ich überhaupt nicht dazu gehöre, nicht in diese Welt."
"Na toll, und in welche Welt gehörst du dann?"
"Was weiß ich denn. Ich habe im Moment das Gefühl, daß ich nirgendwo hin gehöre."
"Oh, Tim, der einsame Wolf."
"Vielleicht ja nicht das Schlechteste. Dann kann einem jedenfalls niemand wehtun."
"Höchstens du dir selbst."
"Was bist du heute wieder geistreich."
"Ja, ich bin auch schon ganz begeistert von mir."
Ich konnte nicht anders und mußte mitlachen. Doris' Humor ist manchmal einfach großartig.

Krafttraining ohne Nils. Ich weiß nicht, ob er einfach nur keine Zeit hatte oder meinetwegen nicht da war. Aber eigentlich ist es auch egal. Ich lasse die Gewichte so wie vor zwei Wochen. Keine Steigerung. Warum auch? Wofür auch? Das Extratraining mit Werner. Wofür eigentlich? Für Heiko, aber wer ist Heiko? Ist da noch was für ihn? Vielleicht ja. Vielleicht, wenn er jetzt hier vor mir stehen würde, vielleicht, ich weiß es nicht. Aber wo ist auf einmal diese totale Verliebtheit hin? War ich das, der extra seinetwegen nach Köln gefahren ist? Nils. Würde ich für Nils Hunderte von Kilometern fahren? s wäre jetzt so einfach 'ja' zu sagen, doch ich weiß es nicht, ich weiß es echt nicht. Und das verwundert mich. Wo sind all meine Gefühle für Nils hin?