Montag, 30. September 1996

30. September

"Kreis!"
Dimitris Standardkommando. Ringen ist schon eine seltsame Sportart. Es ist mir am Anfang gar nicht so sehr aufgefallen. Aber irgendwie sind wir alle wie eine verschworene Gemeinschaft. Ich meine, selbst in diesem noblen Tennisverein in Hamburg guckte ab und zu mal jemand rein, schaute beim Training zu, man quatschte ein bissel. In die Ringerhalle verirrt sich kaum jemand mal einfach so. Und wenn wird er meistens mißtrauisch angeblafft und verschwindet wieder. Ich gehöre dazu, ich bin im Team. Aber mir fällt es trotzdem auf. Wie auch immer, ich habe es den ganzen Tag geschafft, Nils aus dem Weg zu gehen, ihn nicht anzugucken. Sogar beim Training habe ich nur mit Florian und Max trainiert. Wir waren fertig und schon auf dem Weg zur Umkleide, als er mich von hinten am Arm packte und rumdrehte: "Los, auf die Matte mit dir", sagte er ganz ruhig aber total bestimmend.
Ich war so verdattert, daß ich ihm gehorchte. Erst als ich schon im Innenkreis stand kam mein Verstand zurück: "Was zum Teufel..."
"Los runter, auf den Bauch. Ich will dir was zeigen."
"Nein, verdammt noch mal. Spielst du hier wieder den großen King oder was?"
"Ich hab gesagt runter, na los." Seine Stimme war total cool, gerade das regte mich noch mehr auf. "Du hast ja ne Macke", schrie ich ihn an und wollte mich umdrehen. Doch er war schneller als ich. Ehe ich mich versah hatte er mich am Arm gepackt, meine Beine weggerissen und ich lag auf dem Bauch. Ich spürte Nils über mir. Ich war stinkwütend.
"Hab dich verdammt noch mal nicht zu zickig, ich will dir was zeigen", zischte er mir zu. Ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. Mir war in diesem Augenblick überhaupt nicht klar, was er mir zeigen wollte, aber ehrlich gesagt, interessierte es mich nicht. Ich war so sauer, daß ich es schaffte, mich unter ihm zu befreien und in die Oberlage zu kommen.
"Hast du jetzt endlich genug?" fragte ich ihn. Ich weiß, daß das total albern war. Ich hatte Glück gehabt. Normalerweise ist es für Nils ein leichtes, mich zu schultern. Ich ließ ihn los und wollte aufstehen. Und er dreht sich blitzschnell um, greift mich und ich liege schon wieder auf dem Bauch. Doch diesmal wird mir schwarz vor Augen. Ich kriege fast keine Luft mehr, Nils liegt mit seinem vollen Gewicht auf mir drauf und ich weiß überhaupt nicht, wie ich atmen soll. Nichts mehr mit abschütteln, mit hochbocken oder umdrehen. Jeden Millimeter Luft brauche ich, um überhaupt atmen zu können. "Dein Gewicht", höre ich Nils in mein Ohr säuseln, "dein Gewicht ist ein ganz wichtiges Ding beim Ringen. Du mußt rauf auf deinen Gegner. Damit er sich so wenig wie möglich bewegen kann. Er muß immer merken, daß du da bist. Und wenn du dein Gewicht auf ihm drauf hast, dann hat er genug damit zu tun, Luft zu holen und du bist im Vorteil." Er läßt mich los. Meine Güte, ich hätte nie gedacht, daß ein Mensch so schwer sein kann, der genauso viel wiegt wie ich. "Du hättest am Samstag fast gewonnen. Wenn du es so gemacht hättest wie ich eben. Rauf auf den Gegner. Statt dessen hast du das gemacht, was ich beim ersten Mal mit dir gemacht habe. Du hast mehr neben ihm gelegen als auf ihm. Völlig klar, daß er da kontern kann."

Ich sehe ihn an. Und mir wird klar, mit welcher Energie er versucht, es mir zu erklären. Und plötzlich ist meine ganze Wut weg. Scheiße, warum nur? Es ist, als wenn ein kleines Kind ganz aufgeregt von einer ganz großen Sache erzählt. Alles andere ist bedeutungslos, es gibt nur noch diese eine Sache. Und für Nils gibt es nur das Ringen. Dann vergißt er alles. Und ich sitze staunend davor und bewundere ihn heimlich, wie er es schafft, alles andere einfach beiseite zu schieben. Ich mußte grinsen.
"Was ist los?"
"Nichts, mir ist nur gerade was eingefallen."
"Ich gebe dir hier eine unbezahlbare Privatstunde und du grinst", sagte er scherzhaft und warf sich auf mich. Wir drehten uns ein paarmal lachend auf dem Boden und plötzlich war alles wieder wie früher. Nils half mir auf: "Na los, genug für heute." Doch eigentlich, eigentlich könnte ich davon nie genug bekommen.

Sonntag, 29. September 1996

29. September

"Na und, hast halt verloren. Irgendwann wirst du auch wieder gewinnen."
Cool, Max war in der Tofa. War doch nicht so schlecht, daß wenigstens einer zum Quatschen da war. Ich war schon ziemlich breit, als wir uns gesehen haben. Naja, ich habe ihm gesagt, daß ich stinksauer auf Nils bin. Aber er meint, ich soll mir nichts draus machen, Nils wäre halt ein totaler Spinner. Ich glaube er hat Recht. Naja jedenfalls waren wir beide ziemlich breit und haben voll rumgeblödelt, die Mädels angebaggert. Beinahe hätte es noch ein Prügelei gegeben, weil ich unbedingt, so bedröhnt wie ich war, Pogo tanzen mußte und einem Typen das Bier verschüttet habe. Zum Glück bin ich noch heil aus der Sache rausgekommen, wenn auch nur knapp. Auf dem Weg nach Hause mußte ich dann erst mal Kotzen. Aber danach ging es mir richtig gut. Ich meine, ich habe meinen Walkman voll aufgedreht und bin nur noch durch die Stadt gerast. Es war voll cool und ich kam mir vor wie in einem Film. Zum Glück hatte ich heute morgen keinen dicken Kopf. Ich bin selber überrascht wie klar ich bin. Naja, mal sehen, ob Nils heute anruft und sich entschuldigt.

Nix, kein Anruf. Dann soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich bin zu Doris gefahren. Sie sieht wirklich schrecklich aus, total blaß. Dann hat sie sie auch noch die Haare neu rot gefärbt, ich habe richtig einen Schreck bekommen. Ich habe natürlich nichts gesagt. Aber sie meint, es würde ihr wieder besser gehen und daß sie morgen wieder zur Schule kommt. Irgendwas mit dem Magen, meint sie. Vielleicht ist dieses Ökoessen ja doch nicht so doll.

Sie meint, Nils wird nicht anrufen. Sie versteht auch nicht so ganz, warum er sich eigentlich entschuldigen soll.
"Außerdem würde er sich nie bei irgend jemandem entschuldigen."
"Warum nicht?"
"Weil er genauso ein Egozentriker ist wie du."
Na toll, ich gebe zu, daß ich den Unterschied zwischen Egeozentriker und Egoist nicht kenne, aber es ist bestimmt sowieso das gleiche. Daß mir Doris in dieser Hinsicht nun auch noch in den Rücken fallen muß, finde ich daneben. Aber ich habe nichts gesagt. Ich will mich nicht auch noch mit der einzigen Person, mit der ich mich verstehe, streiten.

Wie auch immer, ich gehe jetzt eine Runde laufen.

Samstag, 28. September 1996

28. September

"Was ringst du denn für einen Scheiß zusammen?!"
Das war Nils. Abgesehen davon, daß er Recht hatte, fand ich es unmöglich, mich so nach meinem Kampf zu empfangen. Ok, ich hatte verloren und total mies gerungen. Es war alles so schnell gegangen. Ich hatte zwar die Möglichkeit zu kontern, aber da war ich schon so durcheinander, daß ich gar nicht mehr wußte, was ich machen sollte. Na auf jeden Fall kam mein Gegner wieder aus der Unterlage aus und hatte mich in Nullkommanichts auf den Schultern. So eine Scheiße. Naja und dann Nils der mich anschrie. Anschrie wie ein kleines Kind. Ich war sowieso stinksauer, aber das war mir nun wirklich zu viel. Ich habe zurück geschrien, er soll sich sein Scheiß-Ringen sonstwo hinstecken (nein ich habe nicht 'sonstwo' gesagt, sondern was anderes) und habe mich in die Umkleide zurückgezogen. Irgendwann kam Max und meinte, ich soll wieder rauskommen, weil die Endstände bekannt gegeben werden. Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust mehr. Naja ich bin dann, ohne nach links oder rechts zu gucken doch noch rausgegangen. Bloß nicht mit Nils zusammentreffen. Dann bin ich soll schnell wie möglich abgehauen.

Ich bin wirklich stinksauer. Was fällt diesem Penner eigentlich ein? Nennt er das vielleicht Motivation? Irgendwie überlege ich mir, ob ich überhaupt noch weitermache. Und dann ruft dieser Arsch noch nicht einmal an und entschuldigt sich.
Zu Hause haben sie natürlich auch gleich gefragt, wie es war. Naja ich habe ihnen gesagt, daß ich verloren habe. Als Einziger auch noch. Alle anderen haben in ihrer Klasse gewonnen. Das ist schon reichlich blamabel. Aber was soll ich machen? Schließlich habe ich mich ja nicht darum gerissen, aufgestellt zu werden.

Wie auch immer, ich gehe heute abend in die Tofa. Ich habe Bock, mich mal wieder richtig zuzudröhnen. Blöderweise ist niemand da, der mitkommen könnte. Alle sind irgndwie unterwegs. Selbst Doris geht nicht ans Telefon. Naja, was soll's, dann gehe ich eben alleine. Ist vielleicht eh das Beste, so wie es mir im Augenblick geht.

Freitag, 27. September 1996

27. September

"Findest du nicht, daß du ein bißchen übertreibst?"
"Was meinst du?"
"Du scheinst dich ja nur noch mit deinem Ringen zu beschäftigen."
Große Diskussion heute am Frühstückstisch. Mom moserte rum, nachdem ich heute von meinem Morgenjoggen zurück kam. Naja, was soll's. Langsam habe ich den Eindruck, daß das außer den Leuten aus dem Verein sowieso niemand verstehen kann.

Schule war heute nicht sonderlich spannend. Doris war krank. Also bin ich ein bißchen mit Markus rumgehangen. Wenigstens hat er nicht mehr dieses Jointgelaber drauf. Er meinte, ich soll doch mal mit zum Skaten kommen. Ich hab erstmal nichts gesagt. Vor allem wenn ich daran denke, wie ich in Hamburg auf dem Board gestanden habe, Blamage pur. Nee, das muß ich jetzt nicht auch noch haben.

Habe gerade noch mal Doris angerufen. Sie meint ihr geht es im Moment gar nicht gut. Ich glaube, ich versuche mal am Wochenende bei ihr vorbeizugucken.

Donnerstag, 26. September 1996

26. September

"Rollst du dich dieses Wochenende wieder auf der Matte?"
Irgendwie habe ich den Eindruck, Doris will das nicht verstehen. Ich habe ihr gesagt, es ist nicht notwendig, daß sie diesmal kommt, weil das ein unwichtiger Kampf ist. Naja, was Liga und was Freundschaftskampf ist, würde sie sowieso nicht verstehen. Meiner Family habe ich das Gleiche gesagt. Ich finde es reicht, wenn Benjamin da ist.

Ich bin nach dem Training noch zum Kochertalweg gefahren, um einfach ein bißchen allein zu sein. Es war schön, wie es so langsam dunkel geworden ist. Auch wenn es abends inzwischen schon ziemlich kalt ist. Es ist schon seltsam, wie schnell die Wochen manchmal vergehen. Gerade war ich doch noch in Italien, habe am Strand gesessen und aufs Meer rausgeschaut. Und nun friere ich schon abends. Es ist komisch. Im Moment vermisse ich niemanden. Ich meine, im Augenblick macht es mir nichts aus, daß ich allein bin. Vielleicht, so schießt es mir ab und zu durch den Kopf, ist es ganz gut so. Vielleicht warte ich ja ab, bis ich tatsächlich mal ganz alleine wohne und vielleicht auch in einer anderen Stadt bin, wo ich ganz von vorne anfange. Shit, hier hätte ich eigentlich damit anfangen können. Aber nein, da hängt noch meine ganze Family mit dran. Außerdem stecke ich nun schon wieder in so vielen Sachen drin. Was soll's. Jetzt will ich mich erst mal auf den Kampf am Samstag konzentrieren.

Mittwoch, 25. September 1996

25. September

"Hast du nicht Bock, heute mit ins Kino zu kommen?"
Huch - das war tatsächlich Tobias. Ich habe ihm gesagt, daß ich heute wegen dem Training nicht kann. Naja, und am Freitag kann er nicht. Ich finde es aber spannend, daß er mich überhaupt gefragt hat.

Markus hat heute Gras mitgebracht und mich gefragt, ob ich was kaufen will. Ich dachte ich spinne. Wenn er so weitermacht, fliegt er bestimmt bald von der Schule. Shit und ich bin noch mit ihm zusammen in der gleichen Projektarbeitsgruppe.

Dimitri will mich allen Ernstes am Samstag wieder einsetzen und das bei einem Ligakampf. Er meint, ich kann die Erfahrung gebrauchen. Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll. Vor allem weiß ich nicht, wie Florian das findet.
"Was machst du dir darüber Gedanken? Wenn Dimitri das richtig findet, ist es ok", sagte Nils.
"Und Florian?"
"Ach was, das ist eben so, mal ist man dabei, mal nicht. Ich glaube nicht, daß er damit ein Problem hat. Frag ihn doch einfach mal."
Das habe ich dann doch nicht gemacht, ich weiß nicht wieso. Naja, jedenfalls habe ich eben gerade noch mal Benjamin angerufen und ihm gesagt, daß ich am Samstag wieder ringe. Er kommt zum Zugucken, weil er an diesem Wochenende nicht dran ist. Na ich bin ja gespannt wie es diesmal wird.

Dienstag, 24. September 1996

24. September

"Du bist auch einer von diesem komischen Ringern, stimmt's?"
"Wieso komisch?" ich guckte Markus ziemlich verständnislos an.
"Na ist doch voll uncool."
Ich zuckte mit den Schultern, so gut es ging. Bei Markus sind sowieso die meisten Sachen uncool, die nichts mit Skaten und Hip Hop zu tun hatten. Eigentlich ist er ja sonst ganz niedlich, wenn man sich auch nicht richtig über irgendwas mit ihm unterhalten kann.

Wenigstens geht es meinem Knie besser, so daß ich auch wieder zum Krafttraining gehen konnte, auch wenn ich nicht ganz voll Power mitgemacht habe. Nur Nils glaubte wieder eine Extra-Session mit mir machen zu müssen und wir haben hinterher eine geschlagene Stunde lang Hüftschwung probiert. Ich glaube inzwischen kann ich gar keinen anderen Griff mehr, so intensiv haben wir das geübt. Aber das ist auch gut so, weil das dann ganz automatisch läuft.

Montag, 23. September 1996

23. September

"Das ist bestimmt der Traumsport für Schwule", kicherte Doris. Ich wurde richtig sauer: "Ist es nicht."
"Ach komm, gib's zu, wo kann man sich denn sonst so unverdächtig mit anderen Typen dicht an dicht rumwälzen."
"Du bist echt blöd, denkst du echt, das ist der Grund, warum ich ringe?"
Ich war wohl so aufgeregt, daß sie stutzte: "Du meinst, das ist nicht der Grund?"
"Nein, natürlich nicht."
"Du willst Nils beeindrucken, stimmt's?"
Rumms, mir fiel keine Antwort ein. Hat sie etwa Recht? Zum Glück redete sie gleich weiter: "Wie auch immer, ich fand es jedenfalls total witzig." Na toll, ich rackere mich da mit meinen Gegnern ab und sie findet es witzig. "Einen netten Bruder hast du?"
Was sollte denn das schon wieder? Ich machte irgendeine Bemerkung so von wegen, das muß wohl in der Familie liegen und ging nicht näher darauf ein.

Nils hat mir die Videokopie von Samstag zum Training mitgebracht. Aber ich kann sie mir noch nicht angucken, weil natürlich alles unten im Wohnzimmer sitzt. Wäre schon toll, wenn ich wie Nils einen eigenen Videorecorder hätte. Naja, was soll's. Beim Training war jedenfalls keine Rede mehr von dem Turnier am Samstag. Statt dessen Routinetraining wie immer. Ich habe heute aber nicht alles mitgemacht, weil meine Schulter und mein Knie noch weh tun. Es ist zwar schon besser aber noch nicht ganz ok. Oha, Telefon

Ach nee, das war Benjamin. Er meinte er hätte von meinem Auftritt gehört und war beleidigt, daß ich ihm nicht vorher Bescheid gesagt hatte. Naja, was soll's. Ich finde es waren ja schon genug Leute da, die zugeguckt haben. Ich habe ihm geagt, er kann sich ja notfalls das Video angucken, das Nils gemacht hat. Er meint, daß er das auf jeden Fall sehen will. Na von mir aus. So, ich glaube jetzt gehe ich erst mal schlafen.

Sonntag, 22. September 1996

22. September

"Hey, willst du nicht heute Nachmittag vorbeikommen? Wir können zusammen das Video angucken."
Ich hätte Nils erwürgen können. Was fällt ihm eigentlich ein, am Sonntag früh um halb neun anzurufen? Ok, statt ihm gehörig die Meinung zu sagen, verabredete ich mich mit ihm. Dabei hatte ich ernste Schwierigkeiten überhaupt aus dem Bett zu kommen. Meine Schulter tat höllisch weh, mein Knie war total dick. Vielleicht hätte ich das ja lieber kühlen sollen. Ich schlich im Zeitlupentempo ins Bad. Shit, hoffentlich sieht mich niemand so. Ich hatte Glück, ich schaffte es sogar bis nach unten an den Frühstückstisch, ohne daß mich jemand so sah. "Wie geht's dir", war natürlich gleich die besorgte Frage von Mom. "Naja, die Schulter und das Knie ziehen noch etwas, aber sonst ist alles ok." Ich konnte ihr doch nicht erzählen, wie es mir wirklich ging. Dann würde sie wieder damit kommen, daß das ja alles viel zu gefährlich und zu brutal für mich sei. Jaja. Dad mußte ich erklären, wofür es beim Ringen welche Punkte gibt. Wobei ich ehrlich gesagt auch nicht alles verstanden habe. Phil saß die ganze Zeit nur grinsend am Tisch bis er irgendwann ganz harmlos und aus heiterem Himmel frage: "Ist Doris eigentlich deine Freundin?"
Das Brötchen verfehlte seinen Kopf nur um Millimeter.
"Tim!"
"Ja Mom?"
"Nenn' mich nicht immer Mom, wir leben in Deutschland. Im Übrigen werfen wir hier am Tisch nicht mit Gegenständen rum."
"Das war Notwehr, Frau Mutter."
Schweigen. Wir guckten uns alle an und wie auf Kommando prusteten wir los. Ich versuchte einen bösen Blick zu Phil zu schicken, so nach dem Motto: Wir sprechen uns noch, aber das klappt irgendwie nicht, wir waren einfach zu angegackert.

Am Nachmittag fragte ich Dad, ob er mich nicht zu Nils bringen könnte. Mit dem Knie kann ich einfach nicht Fahrradfahren. "Willst du morgen damit nicht lieber zum Arzt gehen?"
"Ach was, bis morgen ist das wieder weg."
Dad ist in der Hinsicht wirklich klasse. Er fragt nicht weiter, er weiß genau, wann es besser ist, nichts zu sagen.
"Hallo Tim, Nils ist oben. Du kannst ihm ja sagen, daß ich jetzt losfahre. Gegen zehn Uhr bin ich wieder zurück." Sie zog sich ihre Jacke an und verschwand. Ich stand etwas blöde da, rief nach Nils, aber keine Antwort. Also humpelte ich nach oben, klopfte, keine Antwort. Naja, kein Wunder, er lag auf seinem Bett, hatte die Kopfhöhrer auf und dröhnte sich zu. Es war wieder dieses Gefühl, ihn da auf dem Bett liegen zu sehen, dieses Verlangen, einfach neben ihm zu liegen, ihn zu spüren.
"Hi Champ!" Er nahm die Kopfhöhrer ab. "Wie ist es?"
"Ich glaube mir tut alles weh, was mir überhaupt weh tun könnte."
"Hab dich nicht so, das geht vorbei."
"Ich weiß gar nicht, warum du so begeistert bist. Immerhin habe ich nur einmal gewonnen."
"Na und? Bei meinem ersten Wettkampf habe ich viermal hintereinander verloren."
"Das merkt man heute noch", grinste ich. Ehe ich überhaupt reagieren konnte, war Nils aufgesprungen, unter mir durchgetaucht und hatte mich hochgehoben: Fireman's Carry. "Wo soll ich dich runterwerfen?" fragte er lachend, "vielleicht aus dem Fenster, vielleicht die Treppe runter?" Auf dein Bett, dachte ich, auf dein Bett würde mir vollkommen ausreichen. Statt dessen drehten wir uns ein paar Mal, so daß mir total schwindelig wurde. Dann ließ er mich auf den Boden herunter.
"Und jetzt zeige ich dir mal, was du gestern für einen Scheiß zusammengerungen hast." Er pfriemelte am Recorder rum und ich sah mich zum ersten Mal auf Video ringen. Das war schon ein komisches Gefühl. Ich war die ganze Zeit vor diesem Publikum halbnackt nur mit meinem Trikot durch die Gegend gelaufen. Nicht daß mir das jetzt peinlich wäre, aber es ist schon seltsam. Ganz automatisch verglich ich mich mit den anderen Jungs. Und ich glaube ich bin ganz zufrieden mit mir, ich meine vom Körper her. Ok, an Nils kommt sowieso niemand heran, aber gegenüber den anderen finde ich mich okay. Was aber das Ringen angeht, so war es wirklich total daneben.
"Du bist nie richtig an deinem Gegner dran", meinte Nils. Er spulte hin und her, zeigte mir da, was ich hätte besser machen können, erklärte an der nächsten Stelle einen besseren Griff. Das Witzige war der Ton und das Wackeln. Jedesmal wenn Nils irgendetwas gebrüllt hatte schlingerte das Bild entsetzlich hin und her.
Als wir die Kämpfe ein paar Mal durch hatten meinte er: "Ich mache dir ne Kopie, dann kannst du das alles so oft wie du willst angucken."
"Wozu 'ne Kopie? Du kannst mir doch einfach das Tape hier geben."
"Nix da, das behalte ich. Wer weiß, wenn du mal bei der Olympiade antrittst, dann habe ICH deinen ersten Kampf auf Video und kann damit voll die Kohle machen."
"Na klar und morgen melde ich mich für Sydney an."
"Ich stelle mir das schon cool vor, mal bei so einer Olympiade dabei zu sein."
Du meine Güte, Nils und seine Ringer-Träume. Ich sagte nichts, ließ ihn weiter träumen. Dann gingen wir nach unten, räumten den halben Kühlschrank leer bis schließlich seine Mutter wieder zurück kam. Sie hat total cool reagiert, als sie das Chaos in der Küche sah. Ich stelle mir gerade Mom vor, die wäre garantiert ausgeflippt. Naja, zum Glück hat sie mich gefragt, ob sie mich nach Hause bringen soll. War echt nett. "Hastalavista, Champ", meinte Nils, als ich aus dem Auto ausstieg.

Samstag, 21. September 1996

21. September

"Sollen wir dich wirklich nicht hinfahren?"
Nein, um Gottes Willen. Es reicht, wenn sie beim Wettkampf auftauchen. Außerdem war eh noch Wiegen und Vorbereitung angesagt. Also bin ich alleine zur Halle getapert. Ich wollte auch einfach noch ein bißchen meine Ruhe haben. Ich habe schlecht geschlafen, jede Menge Blödsinn geträumt, völlig ohne Zusammenhang. In der Halle waren sie noch überhaupt nicht so weit. Die Anderen kamen erst nach einer ganzen Weile, naja. "Aufgeregt?" fragte Nils. Ich nickte. Was sollte ich auch lügen. "Du schaffst das schon." Wow, solche Sätze bringen mich ja immer wieder nach vorn. Irgendwann tauchte die Family auf. Sehr begeistert sahen sie nicht aus. Irgendwo hab ich mal gehört, daß es Eltern geben soll, die stolz darauf sind, wenn ihre Söhne so was machen. Müssen wohl andere Eltern gewesen sein. Mom sagte nur so was wie: "Paß auf dich auf." Dad wünschte mir wenigstens noch Glück und Phil glaubte mir Mut machen zu müssen und meinte scherzhaft: "Du schaffst sie alle." Nur Lisa nahm es ganz locker, vielleicht, weil sie es gar nicht realisierte, was gleich mit ihrem großen Bruder da unten passieren würde. Naja, und dann ging alles sehr schnell. Wiegen, warten, sammeln, Aufstellung und Einmarsch. Alles schon zigmal gesehen. Aber bisher immer von der Tribüne aus. Doch diesmal war ich unten auf der Matte, ich war dabei. Ich war einer vom Team. Auch wenn es nur die zweite Mannschaft war. Ich sah Mom und Dad auf der Tribüne, ich sah Doris, sie winkte. Ich guckte zur Mannchaftsecke wo Dimitri und Nils standen. Ich konnte nicht mehr zurück.
Nach dem Einmarsch verwuselten sich alle wieder in der Halle. Unsere Mannschaft lagerte an der Stirnwand der Halle. Es sah tatsächlich wie ein Heerlager aus: halbausgeräumte Sporttaschen, Sweatshirts, Wasserflaschen, aller möglicher Plunder lag auf den Bänken und auf dem Boden. Dazwischen die Jungs. Jeder hatte wohl so sein Rezept mit der Aufregung vor dem Match klarzukommen. Einige machten Dehnübungen, Situps, waren permanent in Bewegung. Gero hatte sich die Kopfhöhrer seines CD-Players eingestöpselt und dröhnte sich zu. Markus kam vorbei und wollte sich dazu setzen. Ich sah wie er zögerte, als er Silvio bemerkte und dan weiterging. "Diese Schwuchtel wird uns wieder voll reinreissen", pöbelte ihm Silvio hinterher.
"Ach komm", sagte Mirko, "laß ihn in Ruhe. Er versucht es wenigstens."
"Versuchen ist nichts. Nur der Sieg zählt", grölte Silvio. Ich bin nur heilfroh, daß er in meiner Mannschaft ist.
"Wie geht's?" fragte Nils.
"Geht so. Ist übrigens ziemlich ungerecht, daß ich heute auf der Matte stehe und du nicht."
"Ungerecht für wen? Für dich oder mich?"
"Pff, keine Ahnung."
"Glaubst du, Dimitri verheizt seine Top-Ringer bei so einem Popel-Turnier? Da muß eben die zweite Mannschaft ran." Er hatte wohl gemerkt, daß mich seine Worte getroffen hatten, denn er fügte hinzu: "Aber immerhin hast du es in dem halben Jahr schon bis zur Zweiten geschafft. Ich glaube das gab's bis jetzt noch nicht." Ich wußte nicht, ob mich das tatsächlich wieder versöhnte. Dann kam der Aufruf: "Nächster Kampf, Matte 2, B-Jugend, 55 kg, Marcel Reinhard, Heslach gegen Tim Berger, Bergbach." Nils begann neben mir zu grölen. Ich ging zum Kampfrichtertisch und dann in meine Ecke. Dimitri wartete schon auf mich. "Das ist ein Anfänger", flüsterte er mir zu, während er meine Nackenmuskeln lockerte. "Denke daran, was du im Training gelernt hast." Nils grinste mich von der Seite an: "Den schaffst du!" Er gab mir allen Ernstes einen Klaps auf den Hintern.

Ich trat auf die Matte. Ich kam mir vor, wie ein Gladiator in einer Arena und hatte das Gefühl, die ganze Welt würde mich beobachten. Ich hörte das Gegröle und Gerufe, aber nichts davon drang wirklich bis zu mir durch. Ich wollte hochschauen, sehen, wo meine Leute waren; doch statt dessen starrte ich stur auf den Mittelkreis. Es war seltsam: Mein Herz schlug wie wild, doch gleichzeitig wurde ich von Sekunde zu Sekunde ruhiger, konzentrierter. Dann sah ich zum ersten Mal meinen Gegner. Ein zerbrechlich aussehender, quietschblonder Junge. Man sah ihm seine Angst richtig an, er guckte sich noch zweimal zu seinem Trainer um, so als wollte er sagen: 'Hilf mir!'

Handshake. Immer den Kopf oben behalten, nie dem Gegner in die Augen gucken. Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was man mir im letzten halben Jahr so eingetrichtert hatte. Dann der Pfiff. Es ging los! Am Anfang passierte so gut wie nichts. Wir schlichen umeinander herum, keine traute sich, auch nur irgendetwas zu machen. 'Du mußt etwas machen', hämmerte es nach einer Minute in meinem Kopf. Ich duckte mich, griff nach seinem Bein, Single Leg Takedown, schon hundertmal trainiert. Und es klappte sogar. Aber Marcel war schnell, zu schnell. Noch ehe ich den nächsten Griff ansetzen konnte, hatte er es geschafft, sich auf den Bauch zu drehen. "Du hast Zeit, halte ihn, halte ihn fest", hörte ich Dimitri rufen. "Durchdrehen, durchdrehen", Nils' Stimme von irgendwoher. Doch es ging gar nichts. Ich versuchte an sein Bein, seinen Arm heran zu kommen, es klappte nicht. Der Schiedsrichter pfiff ab. Ich war sauer. Was sollte denn das? Ein bißchen mehr Zeit hätte er mir schon noch geben können. Immerhin war ich in Führung gegangen. Bis zur Pause passierte dann nichts Weltbewegendes mehr. Dimitri meinte nur knapp, ich solle so weitermachen und an seine Beine rangehen. Und tatsächlich, was einmal geklappt hatte, klappte auch ein zweites Mal. Und diesmal war ich schnell genug, ihn gleich aus der Bauchlage heraus durchzudrehen. Ich schaffte sogar noch einen Einsteiger doch weiter kam ich nicht. Er wußte wirklich zu gut, wie man sich auf dem Boden hielt. Egal von welcher Seite ich es versuchte, er schien auf der Matte festgeklebt zu sein. Dann der Schlußpfiff. Ich rappelte mich auf, mein Arm wurde hochgehoben, Handshake mit dem gegenerischen Coach. Das war's. War's das? Offensichtlich. Nils stürmte mir entgegen, hob mich hoch und wirbelte mich herum wie ein kleines Kind. Er sagte nichts, aber ich sah, wie seine Augen leuchteten. Er schleppte mich durch die halbe Halle bis zu unserer Ecke. Das Ganze war mir zwar total peinlich, aber gleichzeitig war ich auch stolz. Mein erster richtiger Kampf, und ich hatte tatsächlich gewonnen. Und Nils, mein Nils freute sich mit mir, war stolz auf mich. Allgemeines Schulterklopfen und Buffen von den anderen. Nils ließ mich wieder runter und fuchtelte mit seiner Videokamera herum: "Meine Damen und Herren", ahmte er den typischen Tonfall eines Pro-Wrestling-Kommentators nach, "hier kommt der neueeeee Champion: Tiiiiim Beeergerrrr!"
"Hast du den Kampf etwa aufgenommen?"
"Na klar. Da hast du wenigstens etwas, was du deinen Kindern zeigen kannst. Allerdings wird es wahrscheinlich total verwackelt sein, ich mußte dir ja die richtigen Griffe zurufen."
"Ich habe fast nichts gehört. Irgendwann wußte ich einfach nicht mehr, was ich weiter machen sollte."
"Das ist am Anfang immer so. Irgendwann läuft das vollautomatisch."

Ich glaube Nils war mindestens genauso stolz wie ich. Naja, nun hatte er seinen Triumph. Ich guckte zur Tribüne, suchte meine Family: Phil winkte und Dad schien anerkennend zu nicken Mom unterhielt sich mit Doris. Eigentlich wollte ich ja zu ihnen hoch gehen, aber Nils meinte, es kommt bestimmt gleich der nächste Kampf. Naja und das war dann auch so. Und kurz gesagt: Dieser Kampf war eine Katastrophe. So easy wie der erste Kampf war, so schnell war auch der zweite zu Ende, allerdings war diesmal ich der Looser. Ich glaube, ich habe nicht mal eine Minute durchgehalten und ich wurde geschultert. Der Typ schien gar nicht mal kräftiger als ich zu sein. Aber er setzte einen Hüftschwung an und ich landete ziemlich schmerzhaft auf dem Boden. Ich schaffte es zwar noch, mich rechtzeitig zu drehen, doch er setzte einen total heftigen Armhebel an, und drehte mich völlig easy auf den Rücken. Ich hörte noch Dimitri "Brücke, Brücke" rufen, aber da war es schon zu spät. Pfiff, Peng, vorbei. Meine ganze Freude über den ersten Sieg war dahin. Tim, eben noch der Champ, jetzt der Looser.
"Hey, keine Chance", meinte Nils, "passiert halt mal."
"Ich weiß überhaupt nicht, was passiert ist."
"Du warst einfach zu langsam, er hat dich halt eiskalt erwischt." "Muß ich noch mal ran?" Ich wollte nur noch weg. "Keine Ahnung, ich geh mal gucken." Ich legte mich auf die Bank, blinzelte in die Deckenlampen. Nun ja, dachte ich, war es gar nicht soooo schlecht gelaufen. Einmal gewonnen, einmal verloren. Fifty-Fifty. Nils kam zurück: "Einmal noch, gegen einen Typen aus Degendorf."
"Sag bloß nicht Benji."
"Wer ist Benji?"
Ich glaube ich lief total rot an. Ich versuchte die Situation zu retten: "Benjamin, der war irgendwann doch mal beim Training mit dabei. Da wo du noch so ausgerastet bist."
"Ach, dieser kleine Spinner."
Ich sagte vorsichtshalber gar nichts. Ich weiß nicht, warum Nils jedesmal so stinkig auf Benji reagierte.
"Nein, irgendein Damian Soundso. Noch nie gehört. Ist bestimmt irgendeiner aus den hintersten Reihen von denen."
Das ließ zumindest hoffen. Das Schlimme war eigentlich das Warten auf den nächsten Kampf. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. Jedesmal wenn ich mir einen der anderen laufenden Kämpfe anguckte, schweiften meine Gedanken wieder zu möglichen Griffkombis, Angriffen und Kontern. Markus kam mir entgegen. Er hatte zwei Kämpfe gewonnen und glühte vor Aufregung. "Yo, man...cool!" rief ich ihm zu "Gimme five!" Ich freute mich für ihn. Ich freute mich, daß Silvio nicht Recht behalten hatte.
"B-Jugend, 55 kg Klasse: Damian Wolschewski, Degendorf gegen Tim Berger, Bergbach, Matte 1." Also auf zum letzten Kampf. Nils blödelte mit seiner Cam rum: "Meine Damen und Herren, sie sehen jetzt die neue Hoffnung von Bergbach, Tim Berger in seinem ultimativen Match gegen Mr. Nobody aus Sonstwo." "Paß auf, der ist mindestens genauso schnell wie der Vorherige. Paß vor allem auf deine Beine auf", flüsterte mir Dimitri zu. Rauf auf die Matte. Ich paßte auf. Ich paßte wohl so auf, daß ich mir schnell eine Verwarnung wegen Passivität einhandelte. Ich guckte zu Dimitri. Der fuchtelte mit den Arm aber ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. Schließlich landete ich in der Bank. Zum Glück schaffte ich es schnell, auf den Bauch zu kommen. Doch Damian lag auf mir drauf, keuchte und arbeitete wie wild. "Aufpassen, dein Bein", hörte ich von Nils. Verdammt noch mal, schoß es mir durch den Kopf, laß mich doch mal etwas alleine machen. Dummerweise hatte er recht gehabt. Damian hatte mich am rechten Knöchel gepackt und zog mich rüber. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meiner Schulter. Verdammt, nur jetzt nicht schreien. Er schob und drückte. Ich merkte wie meine Kraft immer mehr nachließ. Er lag so auf mir drauf, daß ich nicht mehr richtig durchatmen konnte. Luft, nur richtig Luft kriegen, das war alles, woran ich in diesem Moment dachte. Er zog meinen Arm weg, meine letzte Stütze. Dann der Pfiff, Pause. Endlich Luft. Mir war klar, daß ich unheimliches Glück gehabt hatte. Dimitri rieb meine Schulter. "Du bist offen wie eine Schildkröte, die auf dem Rücken liegt. Klemme das nächste Mal seinen Arm ab, wenn er versucht vorne ranzugehen." Ich nickte aber ich wußte gar nicht, wann und wie ich das bewerkstelligen sollte. Ich guckte zur Anzeigetafel: ich lag haushoch zurück. Nils hockte an der anderen Seite der Matte und zeigte mit seinem Daumen nach oben: "Das wird schon", sollte das wohl heissen. Ich hatte kaum richtig Luft geholt, da ging es schon weiter. Shit, was hatte ich zu verlieren. Ich versuchte meine Spezialität von vorhin: Single Leg Takedown und landete voll im Leeren. Damian war einfach zurückgesprungen. Natürlich schaffte ich es nicht mehr rechtzeitig, mich aufzurappeln und schon lag er wieder auf mir drauf. Ich spürte wieder sein gesamtes Gewicht auf mir, sein Atem an meinem Ohr, ich spürte seinen Schwanz an meinem Hintern. Ich wunderte mich selber in diesem Moment, das mir das auffiel. Er versuchte an meinen Arm heranzukommen. Ich erinnerte mich daran, was Dimitri gesagt hatte, klemmte seinen Arm ein, drehte mich. Das schien ihn wirklich aus dem Konzept zu bringen. Aber dann schaffte er es seinen Arm frei zu bekommen und ging wieder an meinen Fuß. Und mit dem gleichen Griff von vorhin brachte er mich wieder fast auf die Schulter. Doch ich hielt durch, ich hielt durch bis zum Schlußpfiff. Trotzdem hatte ich haushoch verloren: 12:4. Meine Schulter brannte wie Feuer und in meinem Knie schienen tausend Nägel zu stecken. Ich war einfach nur froh, daß es vorbei war, daß ich wieder richtig durchatmen konnte. Dimitri warf mir ein Handtuch zu: "Gar nicht mal so schlecht", sagte er. Und das aus seinem Mund. Nils kam auf mich zu. Er grinste, ich hatte verloren und er grinste! Er boxte mich, auf meine Schulter. Ich schrie auf.
"Zerrung?"
"Was weiß denn ich. Ich glaube alles, was ich so an Muskeln und Knochen habe ist kaputt."
Nils verschwand und kam mit einem kalten Gelkissen wieder. "Komm mit." Er zog mich an den beiden Enden des Handtuchs in den Geräteraum. Der Lärm der Halle klang nur noch gedämpft zu uns herein. Er redete auf mich ein, wie auf ein kleines Kind. Ich bekomme gar nicht mehr alles zusammen: "Jetzt laß bloß den Kopf nicht hängen. Das ist immerhin dein erstes Turnier. Und dafür hast du dich gar nicht schlecht geschlagen." Ich weiß nicht, ob er das nur sagte, um mich zu trösten oder ob er es ernst meinte. Aber ich war auch einfach zu fertig um ihm irgendwelchen Widerstand zu leisten. Ich nickte nur. Dann humpelte ich zurück in die Halle. Der letzte Kampf des Tages war gerade vorüber und die Kampfrichter schrieben die Ergebnislisten. Dann Siegerehrung. Ich landete natürlich nicht auf dem Podest. Ich war Fünfter in meiner Gewichtsklasse geworden. Fünfter von acht Teilnehmern. Na toll. Da das ganze Turnier mit Einzelwettkämpfen durchgeführt wurde, gab es keine offizielle Mannschaftswertung. Aber in der inoffiziellen internen Auswertung belegten wir immerhin Platz 3. Dimitri schien zufrieden.
Am Treppenabgang traf ich meine Family. "Junge, zieh dich doch erst mal richtig an", das war das erste was Mom sagte. Ich hätte schreien können. Ok, sie hatte ja vielleicht recht Ich hatte nach dem Kampf einfach die Träger vom Trikot runtergestreift und lief die ganze Zeit mit nacktem Oberkörper durch die Gegend. Aber das war mir eigentlich auch egal. Das Zweite, was sie sagte war: "Was ist denn um Himmels Willen mit deiner Schulter?" Ich nahm das Gelpack weg und beruhigte sie: "Das ist nur eine leichte Zerrung." Ich biß die Zähne zusammen, damit sie mich nicht auch noch humpeln sah.

Doris blödelte mit Phil rum und meinte nur: "Und so was soll wirklich Spaß machen?"
"Ja, na klar." Was hatten die beiden eigentlich miteinander zu tuscheln? Lisa fragte ganz ängstlich, ob das nicht alles ganz doll wehtut. Ich nahm sie auf den Arm und beruhigte sie. "Siehst du", sagte ich, ich kann dich sogar wieder auf den Arm nehmen, nix tut weh." Ich log, meine Schulter brannte wie Feuer, aber Lisa, meine kleine Prinzessin strahlte wieder. Dad meinte, er hätte überhaupt nicht verstanden, wer bei solch einem Kampf überhaupt warum gewinnt, aber es hätte ganz spannend ausgesehen.

Nils kam an und warf mir mein Sweatshirt zu. "Hier Mr. Striptease-Man. Ist ja unglaublich wie du wieder rumläufst, wie ein Penner", frotzelte er. Ich hätte im Boden versinken können. Naja, auch wenn die ganze Sache mit Mom etwas peinlich war, eigentlich bin ich doch ganz froh darüber, daß sie alle da waren.

Als ich mit den Jungs hinterher in der Pizzeria saß, war es ein ganz komisches Gefühl. Nicht daß wir nicht schon ganz oft nach dem Training noch zusammengesessen hatten. Doch diesmal war es anders. Ich gehörte endlich richtig dazu. Ich war endlich einer von der Mannschaft. Wir waren ein großes Team. Nils zwinkerte mir zu. Ich glaube, ich verstand langsam, was er meinte.

Freitag, 20. September 1996

20. September

"Eine Schande für unsere Schule."
Das war alles was Falkenberg dazu zu sagen hatte. Silvio hat in der großen Pause Murat aus der Parallelklasse zusammengeschlagen. Ich habe es gar nicht mitbekommen, weil ich mit dem Abbauen in Physik beschäftigt war. Aber es war wohl so schlimm, daß der Rettungswagen kommen mußte. Doris meint, daß eigentlich alle schon längst damit gerechnet haben, daß so was passiert, weil Silvio der absolute Fascho ist und daß sie ihn eigentlich von der Schule schmeißen müßten. Ok, ich meine ich hätte nichts dagegen, daß dieser Arsch verschwindet. Ich weiß nur nicht, ob ihn das ändern würde.

Jedenfalls ist er für den Rest des Unterrichts nicht mehr aufgetaucht. Aber irgendwie reagieren fast alle so wie Falkenberg. Ihnen scheint es nur um den Ruf der Schule zu gehen, oder, so wie Nils meinte: "So was macht ein Ringer nicht. Das fällt auf den ganzen Verein zurück." Na toll. Das ist alles? Super.

Donnerstag, 19. September 1996

19. September

"Du hast deinen ersten Kampf am Samstag? Das MUSS ich sehen."
Na toll, Doris ist wieder ganz die Alte. Vielleicht fliegt ja jemand noch die Leute aus Hamburg ein. "Ich stelle mir das absolut niedlich vor, wenn du dich da mit den anderen Jungs im Strampelanzug auf dem Boden rumrollst", kicherte sie. "Das ist überhaupt nicht witzig. Und überhaupt ist das kein Strampelanzug."
"Na sieht aber so aus. Wie auch immer. Ich komme auf jeden Fall, das lasse ich mir nicht entgehen. Obwohl ich normalerweise ja nicht auf so was Brutales stehe." Ich habe ihr zum was-weiß-ich wievielten Male erklärt, daß Ringen alle andere als brutal ist. Ich weiß nicht, ob sie es verstanden hat, überhaupt verstehen wollte. Auf jeden Fall macht sie in unserer Projektgruppe mit. Und darüber bin ich froh. Denn ich glaube, sie kann das bestimmt gut rüberbringen. Obwohl sie natürlich meinte, sie würde ja lieber bei der Gruppe mitmachen, die die Naturschützer spielt. Naja, das sieht ihr ähnlich.

Training heute war recht unspektakulär. Ich scheine der Einzige zu sein, für den der Samstag etwas Besonderes ist, der aufgeregt ist. Aber ich bin ja auch der Einzige, der zum ersten Mal auf der Matte steht.

Mittwoch, 18. September 1996

18. September

"Keine Ahnung, ich rufe sie heute Nachmittag mal an."
Doris war heute nicht in der Schule. Komisch. Es scheint ihr wirklich nicht so toll zu gehen. Jedenfalls haben wir heute mit dem GK-Projekt angefangen und weil sie nicht da war, arbeite ich jetzt mit Markus zusammen. Nicht daß mich das besonders stören würde, aber er ist keine große Hilfe. Als wir in der Bibliothek waren und anfangen mußten zu recherchieren hatte er überhaupt keinen Schimmer, wie man überhaupt anfängt mit dem Suchen. Na toll. Auf jeden Fall ist das Ganze als Vorbereitung für die Sylt-Fahrt gedacht. Wir sollen Argumente der Anwohner zum Thema Nationalpark sammeln und dann vertreten. Eigentlich kann ich ja solche Projekttage nicht ab, aber irgendwie scheint es Spaß zu machen, auch wenn Markus dabei etwas unterbelichtet ist. Als er in einer alten Ausgabe vom Spiegel blätterte habe ich ihn mal von der Seite beobachtet. Ich finde er hat einen niedlichen Mund. Ok, jetzt rufe ich erst mal Doris an.

Entwarnung, Doris kommt morgen wieder zur Schule, scheint also nichts Dramatisches zu sein. Ich habe ihr von dem GK-Projekt erzählt und gefragt, ob sie nicht noch in unserer Gruppe mitmachen möchte. Sie meint, sie überlegt es sich noch. Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas beleidigt war, daß ich das mit Markus mache. Naja, aber was hätte ich anderes machen sollen?

Dienstag, 17. September 1996

17. September

"Keine Steigerung mehr."
Nils erzählte mir, daß man vor dem Wettkampf den Körper wohl nicht mehr so extrem belasten soll. "Was du jetzt nicht drauf hast, kriegst du bis Samstag auch nicht mehr rauf." Na ok, wenn er meint. Was das Ringen betrifft verlasse ich mich voll und ganz auf ihn. Was soll ich auch anderes machen? Es gibt zwischen uns sowieso kein anderes Thema mehr über das wir uns unterhalten. Es scheint so eine Art unausgesprochene Verabredung zu geben, uns über irgendwas zu unterhalten, worüber wir uns streiten könnten. Dann war Wiegen angesagt. Nils meint, ich brauche wenigstens kein Gewicht machen, was auch immer er damit sagen wollte.

Kaum war ich zu Hause rief Benji an. Er fragte, ob ich nicht am Samstag mit ihm zum Zuschauen zum Sparkassen-Cup kommen will. Ha! Ich sagte ihm, daß ich da antreten werde, was er wohl total cool fand. Er fragte mich, ob ich noch ein paar Tips brauchte. Aber mein Kopf ist im Moment so voll, ich glaube da paßt nun überhaupt nichts mehr rein. Er meint aber er kommt am Samstag. Ich habe den Eindruck, als wenn alle Leute, die ich kenne kommen. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.

Montag, 16. September 1996

16. September

"Kann man hier in dem Kaff irgendwo boarden?"
Markus hat mich angequatscht. MICH. Ich weiß echt nicht, wieso ausgerechnet mich. Ich muß wohl auch ziemlich verdattert geguckt haben. Jedenfalls mußte er mir erst mal erklären was er meinte. Naja und dann konnte ich ihm noch nicht mal weiterhelfen. Naja, woher soll ich auch wissen, wo man hier Skateboard fahren kann. Ich finde das ja sowieso ziemlich affig. Jost war auch so total drauf und hatte sein Board überall dabei. Ok, ich hab Markus gesagt, daß ich keine Ahnung habe und daß ich auch noch nicht so lange hier wohne. Ok, ich habe dann noch ein bißchen Interesse für's Skateboardfahren geheuchelt. Er meint, ich soll mal mitmachen, wenn er eine Halfpipe gefunden hat. Naja, solange ich nicht auf's Board rauf muß. Auf jeden Fall ist er überhaupt nicht tuntig, so wie Nils meinte. Aber das war komisch, als ich mich mit Markus unterhielt hat Nils die ganze Zeit so komisch rübergeguckt. Aber eigentlich ist mir das Ganze inzwischen schon egal. Dann soll er mich eben auch für schwul halten.

Doris konnte ich nun auch nicht mehr fragen, denn sie war nach der großen Pause abgehauen, weil sie nur noch am Kotzen war. Na toll.

Training war heute unter "verschärften Bedingungen" wie Dimitri sagte. Es gibt überhaupt keinen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Mannschaft mehr. Ich erwische mich immer öfter dabei, daß ich beim ganz normalen Laufen Schritt- und Griffkombis mache. Oha, wenn das jemand sieht, der muß mich wirklich für absolut bekloppt halten.

Sonntag, 15. September 1996

15. September

"Heute nur für Stammgäste."
So eine Scheiße. Ein anderer Türsteher und wir stehen da wie die Deppen. Melanie hat zwar eine halbe Ewigkeit mit ihm diskutiert, aber nix war. Naja und das blödeste war, daß niemand einen anderen Laden in Stuttgart kannte. Na toll. So sind wir den ganzen Abend nur durch die Fußgängerzone gezogen, haben uns den Bauch mit Burgern und Pizza vollgeschlagen und sind dann gegen Mitternacht wieder mit dem Zug zurück. Voll daneben. Wir sind dann zwar gleich vom Bahnhof noch zur Tofa, aber da war auch kaum noch was los. Zum Schluß saßen Florian, Nils und ich noch auf dem Marktplatz und haben rumgeblödelt. Naja und dann bin ich ab nach Hause gezogen.

Also ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß ich nicht komisch bin sondern Doris. Sie ist nur noch launisch und mürrisch seit sie aus den Ferien wieder zurück ist. Ich weiß gar nicht was mit ihr los ist. Jedenfalls war ich gerade bei ihr aber es war nur nervig. An allem hat sie rumgenörgelt. Vielleicht sind Mädels ja ab und zu so.

Samstag, 14. September 1996

14. September

"Noch eine Woche, jetzt fängt die heisse Phase an." Naja wieder mal Sondertraining mit Nils. Mein Kopf ist ganz beim Ringen. Ich denke eigentlich an nichts mehr anderes. Hinterher waren wir noch bei Nils und haben ein Trainingsvideo aus Amiland geguckt, das die Jungs vom Montana-Austausch mitgebracht haben. Ich habe alles aufgesogen wie ein Schwamm, will so viel wie möglich behalten. Das Problem ist nur, daß ich total fertig bin. Ich meine, ich kann mich kaum noch bewegen. Ich weiß gar nicht, ob das so der Sinn der ganzen Sache ist. Heute abend gehe ich auf jeden Fall mit den anderen ins X1, mal wieder etwas abdancen.

Freitag, 13. September 1996

13. September

"Du bist komisch", meint Doris. Ich weiß gar nicht, wieso sie das sagt. Es gab eigentlich überhaupt keinen Grund. Und überhaupt, warum soll ich eigentlich immer seltsam sein? Ich war heute Nachmittag mit dem Rad draußen. Bin einfach nur durch die Gegend gefahren, habe am Kochertalweg gesessen, geträumt, nachgedacht. Eigentlich will ich nicht immer nur so viel nachdenken. Eigentlich will ich nur so sein wie alle anderen auch. Ich will lachen wie sie, die gleichen Probleme haben, mich über die gleichen Sachen aufregen und ansonsten über nichts anderes nachdenken. Ach Shit ich drehe mich auch nur noch im Kreis.

Donnerstag, 12. September 1996

12. September

"Ringen ist Taktik."
Ach ja? Eigentlich hasse ich solche allgemeinen Phrasen. Doch Nils gibt mir Tips, wie ich meinen Gegner verunsichern kann, Tips, die ganz einleuchtend klingen. Zwei Tage Training hintereinander sind schon die Härte. Und dann meinte er noch, daß wir nach dem regulären Training eine Sondersession einlegen. Ok, eigentlich müßte ich ihm ja wirklich dankbar sein, daß er mich coacht. Aber ich glaube, daß das auch zum Teil sein eigener Ehrgeiz ist; so nach dem Motto: Das was der Tim kann, das hat er alles von mir.

Wie auch immer. Wir haben weitertrainiert, nachdem die anderen schon weg waren. Die Halle war schon deutlich leerer. Ein paar aus der 1. Männer trainierten noch an den Dummies. Und Nils übte Griffkombis mit mir. Im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Umfallen. Zum Glück kein Wort mehr über Schwule. Ab nun scheint sich alles nur noch ums Ringen zu drehen. Und ich muß zugeben, daß er wirklich gut als Trainer ist. Jedenfalls habe ich tatsächlich das Gefühl was gelernt zu haben. Die Magenkrämpfe vor dem Turnier werden etwas weniger.

Ich frage mich echt, was ich hier eigentlich mache. Ich lasse mich von einem absoluten Schwulenhasser trainieren. Und warum das Ganze? Ich weiß es nicht. Ich habe echt nicht die geringste Ahnung. Verdammt noch mal, nein, ich bin nicht mehr in ihn verknallt. Das ist vorbei. Peng! Aus! Also, warum? Ok, weil er mir hilft, besser zu werden. Also nutze ich ihn aus? Ja, und wenn schon, er hat es nicht besser verdient. Andererseits...wer nutzt hier wen aus? Ich denke, das ist ein Ding auf Gegenseitigkeit. Aber inzwischen bin ich so weit gekommen, ich will nicht mehr zurück. Ich mache weiter. Und ich will es schaffen, mein erstes Turnier.

Mittwoch, 11. September 1996

11. September

"München."
Oha, ein Bayer. Sogar mit Dialekt. Aber ich finde nicht, daß er tuntig redet. Jedenfalls habe ich mich heute ein bißchen mit Markus unterhalten. Ich weiß auch nicht wieso. Ob mich Nils' Bemerkung neugierig gemacht hatte? Oder wollte ich ihm nur zeigen, daß ich mich auch mit Leuten unterhalte, von denen er annimmt, daß sie schwul sind. Ok, ich gebe zu, unterhalten war etwas zu viel gesagt. Diese Skater kriegen ja sowieso den Mund kaum auf und wenn, kommt eh nur komisches Zeug raus. Ich bin jedenfalls zu dem Ergebnis gekomen, daß er zwar niedlich aber nicht schwul und damit uninteressant ist. Natürlich hat Doris wieder alles beobachtet und fragte mich gleich, ob ich ihn niedlich finde. Es ist wirklich schlimm, ihr kann man nichts vormachen. Ich erklärte ihr, daß er als Hete nicht in Frage kommt. Sie meint, ich soll endlich aufhören, die Leute in Schubladen zu sortieren und abzuhaken. Vielleicht hat sie ja recht.

Jedenfalls, hat sich Nils, und das ist ja das eigentliche Highlight des heutigen Tages, bei mir entschuldigt!!! Yeah. Der große, coole Nils hat sich bei MIR entschuldigt. Und ich? Ich habe ihm großherzig vergeben. Das tat richtig gut. Ich bemühe mich aber, nicht ganz zu vergessen, was er gestern gesagt hat. Nils, der Schwulenhasser. Scheiße, verrate ich mich nicht eigentlich selbst?

Das erste Mal Kadertraining. Ich fühlte mich an mein allererstes Training erinnert. Drill bis zum Umfallen. Soll das eigentlich immer so weitergehen? Außerdem schwirrt mir der Kopf: Chain-Wrestling war angesagt, ein Griff nach dem anderen, komplette Griffkombinationen. Irgendwann bekam ich nichts mehr auf die Reihe. Shit und in 10 Tagen ist es so weit. Was mache ich nur?

Dienstag, 10. September 1996

10. September

"Ich glaube, der Neue ist eine Schwuchtel."
Beinahe hätte ich die Hantel fallengelassen. Ich hatte Mühe, nicht aufgeregt zu klingen: "Wieso?"
"Na hast du mal gehört, wie der redet?"
"Ja und?"
"Der klingt doch total tuntig."
In diesem Moment hätte ich Nils am liebsten eine reingehauen. Was bildet dieser Penner sich eigentlich ein? Erstmal glaube ich nun wirklich absolut nicht, daß Markus schwul ist. Und tuntig klingt er auch nicht, finde ich. Shit, wie kommt Nils nur auf so bekloppte Ideen?
"Ist mir noch nicht aufgefallen." Shit, warum fällt mir immer nur so ein Blödsinn als Antwort ein?
"Doch, du mußt mal darauf achten, wenn er aufgeregt ist, wie er dann mit den Händen rumfuchtelt. Das sieht total tuntig aus."
"Du scheinst ja da der absolute Spezialist zu sein." Oha, der hatte gesessen. Nils' Gesichtsausdruck veränderte sich von einer Sekunde auf die andere. Sein Blick wurde eiskalt und purer Haß sprühte aus seinen Augen: "Was willst du damit sagen? Willst du etwa sagen ich wäre so eine verdammte Schwuchtel?" Er packte mich am T-Shirt, zog mich hoch und drückte mich gegen die Wand. Wo war dieser Blick, in den ich mich vor so langer Zeit verliebt hatte? Nichts, alles an ihm war nur noch eiskalt. Zum Glück sah uns niemand. Ich war so verdattert über seine Reaktion, daß ich nur noch "Nein" stammeln konnte. Er ließ mich los und trainierte weiter, als wäre nichts geschehen. In mir stieg die Wut hoch. Ich weiß gar nicht, worüber ich wütender war. Über ihn oder über meine eigene Feigheit. Nein es war wieder diese Demütigung, dieses absolute Gefühl der Hilflosigkeit. Ich griff mein Handtuch und ging in die Umkleide. Das hatte ich nicht nötig, mich so behandeln zu lassen. Nils kam mir hinterher. "Hey, was ist denn los?" Wie kann ein Mensch nur so bekloppt sein? "Was los ist? Hey, mach das nie wieder mit mir, ok?"
"Ach komm, das war doch nichts."
"Nichts? Ich sag dir was. Wenn du das noch ein einziges Mal machst, dann hau ich dir eine rein."
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich die totale Verwirrung in Nils' Augen. Ich glaube, er merkte, daß ich es ernst meinte. Und meine Wut schmolz dahin, je unsicherer er wurde. Doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich wollte weiterhin wütend auf ihn sein. Und eigentlich habe ich auch allen Grund dazu. Ich meine, damit daß er nicht schwul ist, habe ich mich ja schon abgefunden. Daß er aber nun solche Sprüche ablassen muß, das trifft mich total. Ja Nils, ich, ich - dein Freund Tim - bin so eine verdammte Schwuchtel so wie du das nennst. Was sagst du nun? So eine verdammte Schuchtel, die dir das nächste Mal tatsächlich eine aufs Maul haut, wenn du sie wieder so demütigst. Shit! Solche Antworten fallen mir immer hinterher ein. Obwohl, ich glaube ich würde sie niemals in Wirklichkeit loslassen. So eine Scheiße, ich habe auf dem Heimweg tatsächlich geheult und ich heule immer noch.

Montag, 9. September 1996

9. September

"Hey, wie waren die Ferien? Nette Italienerinnen kennengelernt?"
Jaja, immer wieder die gleichen bekloppten Fragen. 'Nee, aber einen netten kleinen Italiener.' Das wäre die richtige Antwort gewesen. Aber selbst das wäre gelogen. Der eine Italiener war so wort-und gesichtslos, daß ich mich nicht einmal mehr daran erinnere, ob er beschnitten war oder nicht und der andere ist nicht mehr als eine Brieffreundschaft über 1000 Kilometer Entfernung.

Während also alles anderen von ihren Urlaubsflirts berichteten ("Solche Titten hatte die" oder wahlweise "Er hatt ja soooo niedliche Augen") schaute ich gelangweilt aus dem Fenster. Der erste Tag in der Schule ist sowieso immer grauenhaft. Mit den Gedanken ist man noch in den Ferien. Alle Leute sind braungebrannt und erholt und haben auf alles Lust nur nicht auf Schule. Sogar Falkenberg schien noch in Ferienlaune zu sein. Und sonst? Ein paar neue Lehrer und ein neuer Schüler: Markus. Er sieht ganz niedlich aus und hat glaube ich eine ganz gute Figur, so weit wie ich das sehen konnte. Er ist etwas kleiner als ich und voll der Skater. Ich habe ihm sogar einmal richtig in die Augen gucken können und er hat gelächelt. Er hat GELÄCHELT! Ach was, ja und? Was soll's. Ich muß langsam aufhören immer und überall Schwule zu sehen, die dann hinterher sowieso wieder Hetero sind.

Das Training fing ja heute gleich wieder richtig an. Dimitri meint, in der neuen Saison müssen wir das Tempo wieder mehr anziehen. Er meint, nachdem unsere BL-Mannschaft dieses Jahr nicht den Titel geholt hat, müssen wir doppelt trainieren. Na toll. Fast den ganzen Abend über Kraftübungen. Ausgerechnet. Aber ich habe eine neue Methode gefunden, das alles durchzustehen. Ich suche mir einfach einen Punkt an der Wand aus und konzentriere mich auf ihn. Dann denke ich nur noch "Durchhalten und bloß nicht aufgeben" und es geht. Nein, ich will mir vor den anderen keine Blöße geben. Ich werde es ihnen zeigen.

Sonntag, 8. September 1996

8. September

1:30
"Hey was haust du denn schon ab? Ist doch total cool heute."
Na toll, ja, für Nils vielleicht, Ich war wieder mal den ganzen Abend am rumfrusten. Es ist manchmal wirklich schlimm. Wenn ich die ganzen Heten sehe, wie sie sich amüsieren, rummachen, Spaß haben, dann werde ich wirklich manchmal total sauer. Warum muß das Leben so verdammt ungerecht sein? Warum kann ich nicht so sein, wie sie? Warum kann ich mich nicht auch wie sie mit Mädels amüsieren? Es toll finden, wenn sie kreischend durch die Gegend rennen um dann doch wieder hinterher mit ihnen zusammen abzuzotteln? Ich frage mich echt, wozu ich das alles eigentlich noch mache. Was hat das alles für einen Sinn? Ich sehe mich schon irgendwo ganz alt und allein sitzen und niemand will etwas mit mir zu tun haben weil ich schwul bin. Nein, das will ich nicht. Scheiße, wie soll denn das alles weitergehen?


18:30
"Wenn du noch einmal so betrunken zurück kommst, lassen wir dich nicht mehr so lange abends weggehen." Standpauke von Mom und Dad. Wenn ihr wüßtet! Ich bin überhaupt nicht besoffen nach Hause gekommen. Ich habe mich an UNSEREM Wodkavorrat bedient. Weil ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe, in der Nacht. Ich bin runtergegangen und habe glaube ich, eine halbe Flasche getrunken. Alles, woran ich mich dann noch erinnere, ist wie ich auf mein Bett gefallen bin. Seltsamerweise ist mein Kopf völlig klar. Motzt nur rum. Ihr wißt eben nicht, was da drin vorgeht.

Samstag, 7. September 1996

7. September

"Junge, und wenn dir dabei was passiert?"
Habe heute meiner Family von dem Turnier erzählt. Mom macht sich wie immer Sorgen. Dad ließ nur ein "Na, da bin ich ja mal gespannt" hören während Phil nur grinste. Lisa war ganz verschreckt von Moms Satz. Ich mußte sie erst mal wieder trösten. Jedenfalls meinten sie alle, sie würden hinkommen. Na toll, ich weiß gar nicht, ob ich davon so begeistert bin. Aber wie sollte ich es ihnen ausreden?

Gerade hat Doris unser Date für heute Abend abgesagt. Sie sagt, daß ihr kotzübel ist. Na toll. Dann gehe ich mit Max und Nils in die ToFa, auch wenn es bestimmt öde wird.

Freitag, 6. September 1996

6. September

2:45
"Du hast die ganze Mannschaft blamiert, ist dir das klar?" Shit, wieder so ein bekloppter Traum. Ich stehe auf irgendeiner Matte und habe einen Wettkampf versiebt. Die ganze Halle starrt mich an. Wenn das stimmt, was manche Leute sagen, daß Träume wahr werden, dann sehe ich schwarz. Vielleicht sollte ich doch mit dem Ringen aufhören. Obwohl, wie sähe das denn jetzt aus? Nein, ich werde versuchen, mich durchzubeißen.

Doris findet es witzig, wenn ich bei dem Cup mitmache. Sie meint, sie würde sogar kommen und zugucken. Obwohl sie, wie sie sagt, nicht so auf Männer steht, die sich prügeln. Ich habe eine halbe Stunde gebraucht, ihr zu erklären, daß Ringen nichts mit Prügeln zu tun hat. Ich weiß nicht, ob sie es begriffen hat. Kaum habe ich aufgelegt, rief auch schon Nils an. Jetzt kommt er und holt mich zum Laufen ab. Intensivtraining meint er. Na gut.


23:50
Gerade ist Nils wieder abgedackelt. Hehe, ich hab ihn wohl voll frustriert. Irgendwie scheinen meine Lauf-Sessions am Strand was gebracht zu haben, denn ich habe es länger durchgehalten als er. Jedenfalls meint er, Kondition hätte ich ja schon genug. Wir müßten halt jetzt anfangen, Kraft und Technik zu trainieren. Ich gebe zu, daß ich inzwischen richtig Lust auf das Turnier habe. Ich will endlich mal zeigen, was ich kann.

Donnerstag, 5. September 1996

5. September

"Und als Neuzugang wird Tim in der zweiten Mannschaft in dieser Saison antreten."
Mir summten die Ohren. Ich glaube ich bekam einen knallroten Kopf. Das ist jedenfalls immer so, wenn mir die Ohren summten. Für einige Sekunden bekam ich gar nichts mehr mit. Ich meine, Nils hat mich ja schon oft genug, darauf vorbereitet. Aber daß das jetzt nun wirklich mal passiert. "In zwei Wochen, 21. September, Sparkassen-Cup." Ich verstehe nicht, wieso Dimitri es immer noch nicht schafft in ganzen Sätzen zu reden. Na toll, der angekündigte Sparkassen-Cup. Was auch immer das nun wieder sein soll. Nils grinst nur. Er grinste das ganze Training über sein unverschämtestes Grinsen. Hinterher in der Kabine sagte er: "Ich habe damit nichts zu tun."
"Na sehr schön, daß du dich schon rechtfertigst, obwohl ich noch gar nichts gesagt habe."
"Ich weiß doch genau was du denkst."
"Ach ja?"
"Ja, aber ich habe wirklich damit nichts zu tun. Aber es ist halt die logische Konsequenz. Was sollst du denn immer nur trainieren, trainieren, wenn du nie zum Wettkampf antrittst?"
"Ich denke nur, daß ich noch nicht ganz so weit bin?"
"Doch das bist du. Du mußt vor allem Erfahrungen sammeln. Und die bekommst du nicht beim Training."
Ich war einfach zu müde, um mit ihm zu streiten. "Und ehrlich gesagt, ist dieser Sparkassen-Cup nun wirklich eine ziemliche Schlaffi-Veranstaltung." Na toll, mein erster richtiger Kampf und dann heißt es auch noch, eine Schlaffi-Veranstaltung. Ich weiß nicht, ob mich das nun beruhigen soll oder eher ärgern.
Jedenfalls kam Dimitri noch mal rein und meinte, ich soll jetzt auch immer am Mittwoch zum Training kommen. Jawoll, Herr Kommandant. Sehr wohl Herr Kommandant. Zu alledem will Nils jetzt auch noch bis dahin ein Intensivtraining mit mir machen. Shit, auf was habe ich mich denn da bloß eingelassen? Ok, andererseits hat er ja natürlich auch recht. Ich kann nicht immer nur trainieren. Irgendwann will ich ja wirklich mal zu einem Wettkampf. Aber schon so schnell? Shit, wenn ich mich da total blamiere? Ok, mal sehen was passiert.

Mittwoch, 4. September 1996

4. September

"Nö, keine Lust."
Es gibt Tage, da kann man alle möglichen Leute anrufen, aber entweder sind die Leute nicht da oder haben keine Zeit oder Lust. Naja, bin ich halt alleine ins Schwimmbad gefahren. Wer weiß, ist vielleicht einer der letzten warmen Tage in diesem Sommer. Aber es ist total schwül heute. Passend zu meiner Stimmung, alles total bleiern. Unter der Dusche nichts los. Also habe ich mich daran gemacht, Bahnen zu schwimmen. Insgesamt 2000 m habe ich geschafft. Für diese Zeit hatte mich meinen Kopf wieder frei. Mir ist aufgefallen, daß ich, seit ich hier bin, gar nicht mehr richtig gelaufen bin. Aber ich habe auch wenig Lust, sätndig irgendwelchen bekannten Leuten so begegnen. Dann lieber Bahnen schwimmen. Wieder zu Hause vor dem Spiegel ist mir aufgefallen, daß ich wirklich einiges an Muskeln zugelegt habe in den letzten Monaten. Wenigstens etwas. Mir geht es ein bißchen besser.

Dienstag, 3. September 1996

3. September

"Hey man, whazzup?"
Naja, gerade gestern noch an ihn gedacht, schon ruft er an. Benji macht jetzt auf total coolen HipHop-Freak, wohl seitdem die Jungs aus Montana da waren. Er ist total begeistert und meint, sie wären da alle viel cooler und lockerer drauf und hätten sowieso die besseren Trainingsmethoden. Jaja, von mir aus. Ist mir eigentlich ziemlich egal. Er hat mich gefragt, ob ich nicht im nächsten Jahr nach Montana fahren will. Ich glaube nicht. Ich meine, was soll ich da? So spannend finde ich Berge nun wirklich nicht.

Ich weiß nicht, irgendwie nerven mich alle im Moment. Sogar Nils beim Krafttraining heute. Ich kann seine permanente gute Laune nicht mehr ertragen. Ich weiß auch nicht.

Habe jedenfalls endlich den Brief an Matteo fertig. Mir scheint so, als habe ich wirklich nur lauter belangloses Zeugs geschrieben. Aber, was soll ich auch schreiben? Daß ich im Moment nur so rumhänge? Daß mich alles einfach wie mal nur ankotzt?

Montag, 2. September 1996

2. September

"Hey, was ist denn los mit dir? Du wirst ja richtig zum Kämpfer?"
Ach ja? Ich weiß auch nicht. Ich habe heute beim Training Florian gepinnt und mich auch ansonsten glaube ich recht gut gehalten. Ich kann auch gar nicht sagen, was los war. Vielleicht war es der ganze Frust, der einfach nur rausgekommen ist. Keine Ahnung. Zum Glück kein Wort von irgendwelchen Mannschaftsaufstellungen. Statt dessen zwei Neuzugänge. Aber leider keine Anfänger sondern wieder mal irgendwelche Cracks aus Nachbarorten. "Eingekauft", meinte Nils. Aber er wollte nicht mehr dazu sagen. Ich warte ja nur auf den Tag, an dem Benjamin hier auch auftaucht. Vielleicht habe ich ja da auch irgendwas mißverstanden mit dem Sport.

Sonntag, 1. September 1996

1. September

"Nächste Woche ist wieder Schule."
Na toll, als wenn ich da nicht selber drauf gekommen wäre. Auf der anderen Seite ist es so, daß ich es gar nicht so schlecht finde. Irgendwie waren diese Ferien ziemlich komisch. Ich fühle mich, als wäre alles um mich rum in graue Watte gehüllt. Ich weiß gar nicht, wie ich das beschreiben soll. Alles rauscht so an mir vorbei und ich habe den Eindruck, als wenn ich gar nicht dazu gehöre. Alles passiert einfach ohne mich. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt richtig und wirklich lebe.

Bin mit dem Rad rausgefahren. Zum Kochertalweg. Wie wild die Hügel rauf nur um etwas zu spüren. Nichts. Es ist nicht so, daß ich leer wäre. Vielleicht bin ich einfach nur zu voll, um überhaupt irgendwas aufzunehmen. Alles, was ich sehe und höre, sehe und höre ich wie durch eine Wand. Das alles ist irgendwo da drüben, nicht da wo ich bin. Wo ich bin, ist nichts, da bin nur ich und ansonsten alles leer. Ich sitze auf dem Marktplatz. Überall entsetzlich fröhliche Leute, Lachen. Es ist einfach ungerecht. Warum können die Leute so fröhlich sein? Ein paar Mädels aus der Schule kommen vorbei. Ja, Hallo, ja mir gehts auch gut und tschüß. Es erscheint mir alles so kindisch. Bin ich wirklich schon soo alt? Ich weiß es nicht. Keine Lust, zu Abend zu essen. Kopfhöhrer auf und Musik an. Wegträumen.