Mittwoch, 31. Dezember 1997

31. Dezember

Wir haben uns heute was Schrilles überlegt. Nils, Phil und ich haben etwas ganz Tolles für Oma gekocht. Es war zwar etwas kompliziert, sie überhaupt dazu zu bringen, daß sie eben nicht in der Küche wurschtelt, aber wir haben es dann doch mit vereinten Kräften geschafft. Und es war richtig toll. Ich glaube, sie hat sich tierisch gefreut. Das Ganze war Phils Idee gewesen und Nils und ich haben natürlich sofort gleich zugestimmt. Jedenfalls haben wir bis fast eben gekocht, gebacken, gegessen und überhaupt. Natürlich sah die Küche aus wie ein totales Schlachtfeld aber wir haben alles wieder richtig saubergemacht und aufgeräumt. Und die ganze Sache hat tierischen Spaß gemacht und Oma war hin und weg.

Nils und ich werden jetzt noch eine Stunde pennen, damit wir heute Abend fit sind. Phil kommt auch mit. Wird bestimmt lustig. 
"Du bist verrückt. Du bist der verrückteste Tim, den ich kenne."
Nils hat recht. Aber es mußte einfach sein. Ich wollte es. Nils und ich waren gestern auf Sylt!
Gleich als er aus der Dusche kam, habe ich ihn mir gegriffen, habe schnell noch Phil und Oma Bescheid gesagt und dann sind wir ab zum Bahnhof. Da saßen wir dann, im Zug nach Westerland. Nils hörte gar nicht mehr auf, den Kopf zu schütteln. Westerland, Sylt. Wir nahmen den Bus in Richtung Hörnum, stiegen inmitten dieser unwirklichen Landschaft aus. Natürlich konnten wir nicht in das Heim gehen. Dort, wo alles eigentlich erst richtig angefangen hatte. Aber wir taperten zu der Stelle, wo wir am Abend danach am Strand waren. Und da standen wir also wieder am Meer. Nils schüttelte immer wieder den Kopf und gleichzeitig strahlten seine Augena. Nein, der ganze Nils strahlte. Wir waren beide so glücklich, daß wir überhaupt nicht froren. Und es war bestimmt verdammt kalt. Da standen wir, das schrecklichste Wetter, was man sich vorstellen kann, kalt, naß, jede Menge Wind. Das Meer brüllte uns an und wir, wir standen da, eng umschlungen, küßten uns und vergaßen alles andere.
"Du bist verrückt. Du bist der verrückteste Tim, den ich kenne. Mein kleiner verrückter Tim."
Vielleicht war es verrückt. Nein, nicht nur vielleicht. Es war wirklich verrückt. Es ist verrückt. Doch es war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Momente. Ich weiß nicht, wie lange wir da einfach nur so standen, aneinander geklammert, gleichzeitig schwebend und fliegend. Und dann den ganzen langen Weg zurück, den ganzen Abend. Wir haben nicht ein Wort miteinander geredet. Es hätte alles kaputt gemacht. Wir haben uns einfach nur in die Augen geschaut und es reichte. Ein leichter, fast zögernder Kuß zum Einschlafen. Nils, mein Nils.

Heute wird wohl kein Schiff mehr gehn und keiner geht vor die Tür.
Alle sind heute verschüchtert, nur ich bin es nicht und das liegt an dir.
Am Fenster fliegt eine Kuh vorbei, da kommt jede Hilfe zu spät.
Ein Glas auf die Kuh und eins auf die See.

Ich liebe die See und sie liebt mich auch, hörst du, wie sie nach mir brüllt?
Ich hätte sie niemals verlassen soll'n, das ist's, was ich mir klarmachen will.
Wenn hinter uns nicht der Deich wär', käm' jede Hilfe zu spät.
Ein Glas auf den Deich und eins auf die See.

Hier wurd' ich an Land gespült, hier setzt' ich mich fest.
Von dir weht mich kein Sturm mehr fort, bei dir will ich bleiben, solang' du mich lässt.
Deine Hand kommt in meine und jede Hilfe zu spät.
Ein Glas auf uns und eins auf die See.

Dienstag, 30. Dezember 1997

30. Dezember

"Ich habe nichts gemacht."
"Du hast mit diesem Mädel gebaggert. Gebaggert bis zum Abwinken."
"Was kann ich denn dafür, daß die mich süß findet?"
"Von wegen, ich wäre der Mädchenschwarm an unserer Schule."
"Hey Tim, komm doch mal wieder runter. Das war doch alles nur Spaß hier."
"Ja, das weiß ich doch. Das eben doch auch."
"Na ich weiß nicht, das sah aber fast so aus, als wenn du mir hier eine Szene machen willst."
"Doch nicht wegen so einem Mädel."
"Na dann ist ja gut."
"Na? Amüsiert ihr euch gut?" Tassi kam an.
Nils und ich guckten uns an: "Ach doch, ja."
"Wenn ihr irgendwas haben wollt, müßt ihr sagen. Torben hat was dabei."
"Nö, laß mal, da spielt der Doping-Test hinterher verrückt."
"Doping-Test? Machen die bei euch Doping-Tests beim Ringen?"
"Ach nö, das war ein Scheherz!"
Irgendwie verstehen mich aber auch alle Leute im Moment falsch. Ich weiß ja auch nicht. Es war auf jeden Fall ein schöner Abend, ich habe mal wieder bis zum Umfallen (tatsächlich) getanzt. So tun mir jetzt auch alle Knochen weh. Nils ist gerade unter der Dusche. Ich habe gerade ein verrückte Idee. Vielleicht die verrückteste Idee überhaupt!!!

Montag, 29. Dezember 1997

29. Dezember

"Und du bist wirklich immer noch schwul?"
"Ja was denkst du denn?"
"Und das ist echt dein Freund? Der sieht überhaupt nicht schwul aus. So wenig schwul wie du."
Nils und ich guckten uns an, kicherten erst und kriegten dann einen tierischen Lachanfall. Tassi guckte verwirrt von einem zum anderen: "Was habt ihr denn?"
"Du bist ja echt kraß drauf. Wie sieht man denn schwul aus?"
"Ich weiß nicht, irgendwie, ach was weiß ich. So wie dieser Maik zum Beispiel, der von letztem Jahr."
Mir wurde innerhalb einer Zehntelsekunde abwechselnd heiß und kalt. Ich warf Tassi mit zusammengekniffenen Augen einen böse-flehenden Blick zu: 'Halt den Mund', dachte ich, 'halt jetzt bloß den Mund.'
"Welcher Maik?", wollte Nils wissen.
"Auf der Party, letztes Silvester, war so eine Super-Schwuchtel. Bei DEM wußte man sofort, daß er schwul war. Aber bei Tim und dir? Ich bin mir ja da immer noch nicht sicher, ob Tim mich nicht damit nur verarscht. Er hat mich ja die ganzen Jahre nicht einmal angegraben."
"Wieso sollte ich ausgerechnet DICH angraben?"
"Wieso nicht`?", fragte er gespielt beleidigt zurück.
Nils und ich kicherten immer weiter. Tassi spielte ja bestimmt nur den Naivling, aber irgendwie war er trotzdem reichlich naiv. Ok, woher soll er auch wissen, wie es ist, wenn man schwul ist. Vielleicht kennt er ja außer mir und Maik und jetzt Nils keine anderen schwulen Jungs. Ich fand den Satz, den er beim letzten Mal schon gebracht hat und den er natürlich jetzt auch wieder bringen mußte schon ganz cool: "Dann nehmt ihr mir wenigstens nicht die Mädchen weg."
"Oh, Tim kann hervorragend mit Mädchen flirten."
"Was?"
"Er ist DER Mädchenschwarm bei uns in der Schule."
"Nils, bitte."
"Nein, echt mal, kriegst du das gar nicht mit? Das gibt wirklich etliche Mädchen, die total auf dich abfahren."
"Na toll. Aber ich glaube, darauf kann ich verzichten. Also, nur um das mal klarzustellen: Ich flirte nicht mit irgendwelchen Mädels."
"Ist er bei euch auch manchmal so unheimlich peinlich?"
"Peinlich? Wie, wo? Wann war ich hier mal peinlich?" Ich fand es irgendwie daneben, daß sich offenbar Nils und Tassi scheinbar stillschweigend verbündet hatten und ich nun das Ziel ihrer gemeinsamen Lästerei war.
"Eigenwillig und vorlaut, würde ich sagen."
"Nils! Schluß jetzt!"
Die beiden grinsten unverschämt. Dann gab mir Nils ein Kuß: "Aber ein ganz lieber vorlauter Tim."
"Tsts, benehmt euch."
"Wieso? Hier kennt uns doch niemand."
"Was mache ich hier nur? Ich sitze mit zwei sich knutschenden Schwulen in meinem Lieblingsladen, wo mich mindestens die Hälfte der Leute kennen. Die glauben jetzt garantiert alle, daß ich auch schwul bin."
"Ich glaube, DIE Gefahr besteht nicht."
Es war wirklich ein total witziger Blödelabend.
"Was macht ihr morgen?"
"Keine Ahnung, lange pennen, vielleicht eine Hafenrundfahrt, ein bissele shoppen."
Nils protestierte: "Eine Hafenrundfahrt? Bei dem Wetter?"
"Wir können ja erst Klamotten zum Anziehen kaufen und dann die Hafenrundfahrt machen. Ach komm, ich habe das bisher nur einmal gemacht, obwohl ich früher hier gewohnt habe."
"Ja, von mir aus machen wir eine Hafenrundfahrt", meinte Nils mit gespielter Gleichgültigkeit.
"Hafenrundfahrt, da komme ich mit, wird bestimmt cool. Mal sehen ob du seekrank wirst."
Ich kicherte. Nils und seekrank. Ist irgendwie eine witzige Vorstellung.
"Morgen Abend ist eine Party bei Nadja. Ich glaube, sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn ihr auch kommt. Ich sag auch nicht, daß ihr schwul seid."
"Mein Gott, gibt es denn kein anderes Thema für dich?"
"Ja, sorry, schon gut."

Und so haben wir heute Vormittag unsere Shopping- und Hafenrundfahrt-Tour gemacht. Ich in meiner eigenen Stadt als Tourist. Aber es war schon cool. Endlich mal wieder ein paar vernünftige Klamotten eingekauft. Den Bauch mit allerlei Zeugs in den Passagen vollgeschlagen. Den alten Elbtunnel rauf und runtergefahren. Ja, und die Hafenrundfahrt. Eiskalt, aber cool. Ich stand mit Nils am Bug und hatte ihn umarmt, damit wir uns wärmen konnten. Tassi hat sogar ein paar Fotos gemacht. Ich möchte ja mal nicht wissen, wie die geworden sind, so eiskalt verfroren, wie wir da standen. Aber ich glaube, es hat Nils wirklich Spaß gemacht. Auf dem Weg jetzt nach Hause hat er was ganz komisches gesagt: "Ich glaube, wenn es hier einen vernünftigen Ringerclub geben würde, dann würde ich sogar mit dir hierherziehen."
Eigentlich hätte ich ihn in dem Augenblick am liebsten in den Arm genommen, aber wir standen gerade auf dem U-Bahnhof und auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand eine recht bedrohlich aussehende Gruppe von Halb-Skins.
Aber schon irgendwie verrückt das alles. Heute Abend gehen wir zur Party von Nadja.

Sonntag, 28. Dezember 1997

28. Dezember

"Mir tun die Füße weh."
"Dir tun die Füße weh? Du bist nur nicht richtig im Training."
"Wenn es darum geht, dafür trainiert zu sein, durch Hamburg zu laufen, sicherlich."
Wir setzten uns in das Café an der Alster. Dort wo lauter alte Damen mit Hut Kuchen "aber bitte mit Sahne" essen.
"Und? Wie gefällt's dir?"
"Unübersichtlich und irgendwie kahl. Und außerdem ist nichts los."
"Selbst in Hamburg sind die Läden am Sonntag zu."
"Aber irgendwie schon nett, besonders hier mit dem großen See."
"Das ist kein See, das ist...ach ist ja auch egal."
"Laß uns mal hinfahren, wo ich früher gewohnt habe. Wenn du magst, können wir ja auch noch bei Tassi vorbeischauen."
"Der, der wo weiß, daß du schwul bist? Aus deiner alten Klasse?"
"Yo!"

Also sind wir nach Hausbruch gefahren, ewig lange getapert, bis wir vor dem Haus stand, wo ich mal gewohnt habe. Es ist ein total seltsames Gefühl. Ich würde am liebsten reingehen. So ganz selbstverständlich. Das ist schließlich mein Zuhause. Natürlich ist es das nicht. Aber mir irgendwie vorzustellen, daß da oben, wo mein Zimmer war... schon irgendwie schräg.
"Also ich finde ja euer Haus jetzt schöner. Die ganze Gegend hier ist so dunkel, überall Bäume und Wald."
Ich seufzte. Nils ist und bleibt ein kleines schwäbisches Landei. Aber ein liebes. Ich rief Tassi an und wir haben uns für den Abend verabredet. Jetzt machen wir aber erst mal ein bissele Siesta. Nils pennt schon und ich werde mich auch gleich dazulegen. Hamburg macht irgendwie doch müde.

Samstag, 27. Dezember 1997

27. Dezember

"Das ist aber eine Fahrerei."
"Wir hätten ja auch den Flieger nehmen können, dann würden wir nicht den ganzen Tag im Zug sitzen."
"Bischt narrisch? Willst mich umbringen?"
Ich grinste. Mein kleiner Nils und das Fliegen. Und so saßen wir also den halben Tag im Zug, um von Bergbach nach Hamburg zu kommen. Nils, Oma, Phil und ich. Es war eine total witzige Fahrt. Als wir durch die Vororte fuhren und erst recht als wir ausstiegen war es, als wenn ich nach Hause komme. Also richtig nach Hause. Ok, es ist nicht richtig zu Hause, weil wir ja bei Oma im Haus wohnen, aber trotzdem.
Nachdem wir angekommen waren, griff ich mir Nils und wir taperten als erstes zur Elbe runter.
"Irgendwie aber auch nur ein Fluß", meinte er mit gespielter Langeweile.
War mir ja schon fast klar, daß er nicht in Begeisterungsstürme ausbricht.
"Und das hier ist so dein alter Kochertalweg?"
"Nicht so richtig, vielleicht nur mal, wenn ich hier bei meiner Oma war. Aber wir, also meine Family und ich, wir haben auf der anderen Seite der Elbe gewohnt, noch hinter Finkenwerder, in Hausbruch."
"Komische Orte hab ihr hier, Klein Flottbek, Hausbruch, Fischbek. Ziemlich schräg."
"Morgen fahren wir mal hin, wo ich gewohnt habe, und gucken, dann fahren wir mal in die Stadt."
"Welche Stadt?"
"Na, Hamburg."
"Ich denke, wir sind in Hamburg."
"Mein Gott. Wenn ich sage, wir fahren IN die Stadt, meine ich natürlich in die Innenstadt. Das ist hier ein bissele anders als in Bergbach, wo du das ganze Dorf in zehn Minuten durch bist."
"Ja, ist ja schon gut."
"Komm, wir fahren mal nach Wedel, zum Willkomm Höft."
"Zu was?"
"Laß dich überraschen, ist ganz witzig."

Und so standen wir eine halbe Stunde später wieder an der Elbe und warteten auf das nächste große Schiff. Das heißt, eigentlich wartete ich nur, weil ich ja wußte, was passiert. Nils jedenfalls bekam einen Riesenschreck als plötzlich die Lautsprecheranlage über uns loslegte.
"Totschick. Geht das den ganzen Tag so?"
"Fast, in der Nacht ist Ruhe."
"Na toll."
"Hey, was bist du denn so grummelig?"
"Ich bin nicht grummelig. Echt nicht. Sorry."
Ich umarmte ihn, hielt ihn einfach nur fest.
"Keine Angst, daß uns jemand sieht?", flüsterte ich provozierend.
"Hier? Am Ende der bekannten Welt? Ich wette, dort hinten fließt das ganze Wasser den Rand runter und die Schiffe kommen am anderen Ende wieder hervor. Nein, ich glaube, hier sieht uns bestimmt niemand, der mich kennt."
"Hier gibt es bestimmt jede Menge Sachen für Schwule?" Ich finde es irgendwie gut, daß Nils dieses Wort schon fast selbstverständlich benutzt.
"Ja, garantiert. Aber ich kenne fast nichts."
"Was? Ich dachte, du zeigst mir alle Bars und Clubs hier." Er grinste.
"Ich kenne hier fast gar keinen schwulen Laden. Ich war jedenfalls noch nirgendwo richtig drin."
"Ich glaube dir sogar. Dafür muß man erst von Hamburg nach Stuttgart kommen."
Wir fuhren zurück und kamen gerade rechtzeitig zum Abendessen.
Phil wollte wissen, was wir am Abend machen.
"Keine Ahnung. Vielleicht gehen wir ins Fliegenpilz?"
"Da wird es aber heute am Samstag ziemlich voll sein."
"Ach Shit, heute ist ja Samstag. Dieses ganze Feiertagsgedöns hat mich total durcheinander gebracht. Dann müßten wir ja eigentlich Party machen."
"Nein, bitte nicht, ich bin total müde."
Phil und ich guckten Nils gleichzeitig an: "Müde?"
"Ja doch, Mensch, ich habe den ganzen Tag im Zug gesessen."

Wir sind schließlich in irgend so einen Salsa-Latino-Club getapert, den Phil kennt. War gar nicht schlecht, abgesehen von den aufgedonnerten Mädels. Aber das kommt eben davon, wenn man mit Heten weggeht. Auf jeden Fall kennt Phil eine der Bedienungen, und daher haben wir Mojitos bis zum Abwinken bekommen.
"Wie geht's euch zwei eigentlich. Ich meine so zusammen?"
"Komische Frage. Wie geht's uns?" Ich guckte zu Nils. Der hatte schon den dritten Mojito intus, nahm mich in den Arm und küßte mich: "Gut geht es uns." Ich war total übergerascht und Phil grinste. Ich blickte Nils an. Und da war etwas in seinem Gesicht, in seinen Augen, was ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Daß ich das schon lange nicht mehr gesehen habe, fiel mir erst in dem Moment auf, als ich es sah: Er sah glücklich aus, richtig glücklich. Nils, mein Nils küßt mich einfach so in einem stinknormalen Laden und sieht glücklich aus. Was will ich eigentlich noch?

Freitag, 26. Dezember 1997

26. Dezember

"Ach, nun ist schon wieder fast alles vorbei."
"Aber war doch schön."
Morgen geht es nach Hamburg. Ich fahre zusammen mit Nils, Phil und Oma nach Hamburg. Das wird ja bestimmt eine witzige Fahrt. Und ich freue mich. Ich freue mich darauf, wieder mal nach Hamburg zu kommen. Und ich freue mich darauf, daß Nils mitkommt.
Immer wieder überlege ich mir, wie es wäre, wenn ich nach dem Abi zurück nach Hamburg gehe. Ich würde das so gerne machen. Aber ich weiß, daß das weder Mom und Dad noch Nils mitmachen würden. Und dann wäre es total blöde. Ich wäre da alleine. Ok, ich kenne noch die Leute aus meiner alten Klasse. Aber so richtig? Nein, ohne Nils wäre das echt nichts. Vielleicht gefällt es ihm ja. Aber wenn er unbedingt weiter ringen will, dann kriege ich ihn sowieso nicht weg aus Bergbach.

Ich habe Tassi angerufen und gefragt, was Silvester so geht. Er meint, daß alle zu einer Party im Tunnel gehen und er versucht noch, daß er Tickets für uns kriegt. Ich hab schon ein paar Mal davon gehört und habe eigentlich immer gedacht, daß das irgendwo an den Landungsbrücken beim alten Elbtunnel ist, aber Tassi meint, das ist direkt an der Reeperbahn. Na toll, ich hoffe, daß das nicht total uncool und verprollt ist. Ich glaube, Tassi freut sich richtig, daß ich komme. Vor allem ist er total neugierig aus Nils. Er meint, er kann sich das noch immer nicht so richtig vorstellen, daß ich schwul bin und daß er deshalb unbedingt sehen will, wer mein Freund ist. Heteros sind manchmal aber auch wirklich echt ziemlich beschränkt.

Donnerstag, 25. Dezember 1997

25. Dezember

"Hoffe, dir geht es gut. Frohe Weihnachten."
Heiko! Ich war richtig übergerascht, ihn so schnell wieder am Telefon zu hören. Und ich konnte mir genau vorstellen, wie er grinste.
Wir haben eine ganze Stunde zusammen telefoniert. Und irgendwie finde ich das richtig cool, daß er angerufen hat. Daß er sich gemeldet hat. Daß ER mit mir sprechen wollte.

Erster Weihnachtstag. Das heißt Spaziergänge, Nichtstun und das heißt Omas super Apfelkuchen. Ich glaube, Winter ist nicht die richtige Zeit für Äpfel, aber weil ich irgendwann mal vor etlichen Jahren gesagt habe, daß mir ihr Apfelkuchen so gut schmeckt, versucht sie, ihn bei allen Gelegenheiten zu backen. Und er schmeckt. Wahnsinn! Ich glaube, ich habe den halben Kuchen allein aufgegessen. Und jetzt überlege ich, ob ich nicht noch runtergehe und mir noch ein Stück hole. Obwohl ich total satt bin.

Am Nachmittag war ich bei Nils. Er hat sich total über das Buch gefreut. Naja, mit dem Nachteil, daß er meinte, daß wir gleich beim nächsten Training die neuen Moves, die da drin stehen, ausprobieren müssen. Hätte ich mir ja auch irgendwie vorher denken können. Nils hat mir ein total cooles Ringer-Basecap geschenkt. Ich glaube, das werde ich von jetzt ab nur noch auf haben. Wir sind dann noch in die Fußgängerzone getapert. Es war eine richtig schöne Stimmung, Schnee, die Weihnachtsbeleuchtung. Im Venezia gab es grauselig schmeckenden Glühwein. Aber es war ok, er machte ein angenehmes Gefühl im Kopf.

Mittwoch, 24. Dezember 1997

24. Dezember

"Wir können uns auch erst die Weihnachtssendung im Dritten angucken, anschließend die Geschenke auspacken und DANN wird es gemütlich."
"Kinder seht euch den Baum an."
"Früher war mehr Lametta!"
Phil und ich lagen vor Lachen fast auf dem Boden, wir waren alle total angegackert und nur Lisa verstand nicht so richtig, warum wir so albern drauf waren. Loriots Weihnachtsfeier ist einfach göttlich und inzwischen kann unsere ganze Family den Text schon auswendig. Weihnachten ist ein seltsames Fest. Und noch etwas ist seltsam. Ich merke, wie es mir immer mehr gefällt. Ok, ich glaube, als ich so alt war wie Lisa, fand ich Weihnachten immer total spannend und aufregend. Doch dann irgendwann, irgendwann fand ich das alles nur noch nervig und kitschig. Aber in diesem Jahr ist es mir noch mehr aufgefallen als im letzten Jahr: Irgendwie ist es auch schön. Mom vollbringt immer wahre Wunder beim Dekorieren. Überall im Haus Kerzen und kleine weiße Lichter, alles schillert irgendwie warm, golden und gemütlich.
Pappsatt saß ich am Tisch und schaute mir die ganze Szene an. Lisa, die ganz aufgeregt hin und her rannte und sich mit der Verpackung abmühte, Oma, die einfach nur da saß und lächelte, Dad, der Lisa beim Auspacken hilft, Mom, die den Nachtisch aus der Küche holt und Phil, der mir gegenüber saß und lächelte: "Gibt es irgendwas zu Weihnachten, was du dir wünschst, was man aber nicht verschenken kann?"
"Wie philosophisch."
"Sag mal."
"Kann ich jetzt nicht. Nicht jetzt und hier."
Phil nickte.
"Vielleicht ist es ja gerade das, daß ich es nicht sagen kann, also daß ich es vielleicht sagen könnte, was ich mir wünsche."
Phil nickte wieder: "Ich verstehe schon. Glaubst du, daß es irgendwann einmal so sein wird?"
"Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Aber so lange es auch so geht..."

Ich überlege, wie es wäre, wenn Nils zusammen mit uns Weihnachten feiern würde. Es ist eine sehr seltsame Vorstellung. So sehr ich auch versuche, es mir in Gedanken vorzustellen: Ich kriege es einfach nicht hin. Es ist total merkwürdig. Ok, ich kann mir erst recht nicht vorstellen, Weihnachten mit seinen Eltern zu verbringen. Aber das ist auch etwas anderes. Wieso verdammt noch mal kriege ich das nicht auf die Reihe?
"Und? Ist er wieder weg?"
Ich nickte.
Nils und ich hatten beschlossen, KT ausfallen zu lassen und waren ins Zollhaus gezogen.
"Wie geht es dir?"
"Im Moment...ich weiß nicht. Doris würde sagen, ich befinde mich im Stadium der kompensierten Retention."
"Der WAS?"
"Ich hab es im Griff. Glaube ich. Hoffe ich."
"Die Frage ist nur, wie lange."
"Super, danke."
"Ich glaube, das war ein bißchen daneben, daß ich mich geweigert habe, gegen Heiko zu kämpfen, oder?"
"Daneben ist untertrieben. Ich fand's absolut bekloppt."
"Flo hat mich hinterher auch darauf angesprochen, Kevin. Alle wollten wissen, wieso."
"Und? Was hast du gesagt?"
"Ich habe gesagt, daß ich mir die Schulter gezerrt habe."
"Toll."
"Ja, hinterher war mir klar, daß das bescheuert war. Ich hätte einfach auf die Matte gehen und ihn zusammenfalten sollen. Dann wäre endlich Ruhe."
"Das ist doch kein Duell und wir sind nicht in irgendeinem Film. Echt, du brauchst doch nicht um mich zu kämpfen. Heiko wäre das total egal gewesen, ob du gewinnst oder er. Mensch Nils, Heiko will mich nicht dir wegnehmen. Er ist wichtig für MICH und er wird mir auch immer wichtig sein. Aber ich bin nicht besonders wichtig für IHN. Das ist der Unterschied. Und deshalb geht es auch nicht um ein Duell. Ich werde ihn nie vergessen und ich werde immer dieses Kribbeln haben, wenn ich ihn sehe oder an ihn denke. Aber DU, du bist MEIN Freund. Ich bin mit dir zusammen. Fertig, Ende."
Ich hatte so wild drauflos geredet, daß ich erst einmal Luft holen mußte, als ich fertig war. Nils schaute mich an und ich weiß nicht, ob er mir glaubt oder nicht. Aber wenigstens war das Thema damit für den Abend zu Ende und wir lenkten uns mit vielen lustigen Warsteinern ab. Aber ich gebe zu, daß mir den ganzen Abend eine Frage von Doris durch den Kopf ging, und jetzt, wo ich das alles aufschreibe, wieder durch den Kopf geht: Was wäre, wenn Heiko sagen würde: Komm her, laß es uns zusammen versuchen. Was würde ich machen? Verdammt noch mal, und ich weiß genau, WAS ich machen würde.

Weihnachten. Obwohl Mom und Dad erst gestern wieder zurückgekommen sind, ist irgendwie gar keine Hektik bei den Vorbereitungen ausgebrochen. Jetzt geht es gleich mit Phil zum Bahnhof, Oma abholen.

Dienstag, 23. Dezember 1997

23. Dezember

"Na dann...Tschüß."
Er stieg in den Zug. Ich sah, wie er sich einen Platz suchte, in seiner Tasche kramte, seinen Walkman rausholte und irgendwas zu lesen. Dreh dich um, schau noch einmal hoch, guck aus dem Fenster, dachte ich für mich. Doch er tat es nicht. Es wäre nicht Heiko gewesen, wenn er sich umgeblickt hätte, wenn er noch mal aus dem Fenster geguckt hätte, ob ich auf dem Bahnsteig stehe und ihm nachguckte. Der Zug setzte sich in Bewegung. Kein letzter Blick. Ich taperte nach Hause. Ich hätte mir so sehr einen letzten Blick von ihm gewünscht, doch ich weiß, daß er es nie machen würde. Ich glaube, nicht mal bei Matthes.

Ich komme nach Hause. Noch vor einer Stunde war er hier. Waren wir gemeinsam hier. Und jetzt erscheint mir diese Wohnung so leer. Ich fühle mich so leer. Vier Tage war er hier. Vier Tage hat er hier gewohnt, gelebt, gelacht, geschlafen. Vier Tage war er einfach nur da, in meiner Nähe. Und jetzt ist niemand mehr da. Ist ER nicht mehr da. Ich gehe ins Bad, sammele Handtücher ein, ziehe die Decke ab und stopfe alles in die Maschine. Bringe die leere Flasche Bailey's zum Container, wasche die Gläser ab. Nichts soll mich mehr an ihn erinnern. Wo ich mich doch so gerne an in erinnere.

"Du hast gar nichts gesagt, wegen dem Chaos, was ich hier verursacht habe", meinte er, als er seine Tasche packte. Ich schaute ihn fragend an und als ich sah, wie er grinste, dämmerte mir etwas und ich mußte auch grinsen.

Ich bin traurig, daß er weg ist. Es war schön und es wird wieder schön sein, wenn wir uns wiedersehen. Vielleicht werden wir miteinander schlafen, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich habe etwas gelernt. Ich glaube, ich habe etwas über ihn und etwas über mich gelernt. Und ich glaube, wir haben eine neue Ebene in unserem Verhältnis begonnen. Irgendwie. Hier. In den letzten Tagen. In der letzten Nacht. Mein Zimmer, die Wohnung, alles sieht aus wie immer. In zwei Stunden kommt meine Family wieder. Weihnachten. Hamburg. Nils. Keine Spur mehr von Heiko. Aber das stimmt nicht. Heiko ist hier, in meinem Zimmer, in meinem Kopf und in meinem Herz. Und da wird er auch immer bleiben.
"Nein!"
Es dauerte einige Sekunden, bis Mahmout verstanden hatten, was Nils da gesagt hatte. Es dauerte einige Sekunden, bis es überhaupt in MEINEM Gehirn ankam. Verstanden habe ich es bis jetzt nicht. Jedenfalls nicht richtig. Heiko kam mit zum Training. Und alles lief eigentlich ganz gut. Es kamen die ersten Trainingswettkämpfe. Flo hat immer noch mit seiner Rippe zu kämpfen und so hatte Heiko ein leichtes Spiel und gewann. Dann rief Mahmout das nächste Pairing auf: "Nils und Heiko!"
"Nein!"
Das war Nils. Zum allerersten Mal seit ich ihn kenne, hatte Nils einer Anweisung von einem Coach widersprochen. Es war eine merkwürdige Szene: Heiko stand mitten auf der Matte und Nils stand am Rand, die Arme verschränkt und rief einfach nur sein Nein in die Halle. Ich guckte zu ihm, aber er schaute Mahmout an. Ich weiß nicht, ob jemals überhaupt irgend jemand ein Pairing abgelehnt hatte. Aber Mahmout war offenbar selbst so überrascht, daß er nichts dagegen sagte. Statt dessen gab er das nächste Pairing bekannt, endlich. "Na gut, dann eben Heiko und Tim."
Kaum hatte er es ausgesprochen kam wieder ein Nein. Diesmal von Heiko.
Ich verstand überhaupt nichts. Ich guckte zu Heiko und Heiko guckte zurück. Einfach so. So wie Heiko guckt. Ich wurde nicht schlau aus ihm. Diesmal dauerte es nur eine Sekunde, bis Mahmout sich daran erinnerte, daß ER der Trainer war: "Wenn hier jeder glaubt, daß er machen kann was er will, dann ist das Training für heute zu Ende."
Super, ganz toll. Das war es jetzt also. Nils weigert sich, mit Heiko zu ringen und Heiko weigert sich, mit mir zu ringen. Mahmout ist sauer und läßt den Rest des Trainings platzen. Ich bleibe sitzen und verstehe die Welt nicht. Während der Rest der Gang anscheinend froh ist, daß das Training heute früher zu Ende ist, bleibe ich sitzen. Mir gehen tausend Sachen durch den Kopf, aber ich kriege das alles nicht geordnet.
"Alles ok?" Nils steht vor mir.
"Alles ok? Was sollte das denn eben? Warum hast du dich so komisch?"
"Tim, ich kann nicht gegen Heiko ringen. Das geht einfach nicht. Denkst du denn, ich kann da so einfach auf die Matte gehen, vergessen, daß ihr miteinander geschlafen habt, vergessen, was er für dich bedeutet und dann so einfach da raus gehen und mal eben so locker gegen ihn ringen?"
"Wir hatten jetzt keinen Sex, Nils. Wirklich nicht."
"Ich glaube dir das. Aber denkst du denn, ich wäre fair geblieben? Irgendwie hätte das doch so ausgesehen, als wäre es ein Kampf um dich. Heiko gegen Nils kämpfen um Tim."
"Du brauchst nicht um mich zu kämpfen. Verdammt noch mal, du hast mich doch schon längst! Und Heiko? Heiko würde nie um mich kämpfen. Der hat ganz andere Sachen im Kopf. Ich bin viel zu unwichtig für ihn."
"Wenn du dich da mal nicht irrst."
"Nils, bitte."
"Laß uns ein anderes Mal darüber reden, ok? Sehen wir uns morgen beim KT?"
Ich nickte. Zum ersten Mal, zum allerersten Mal war Nils vor etwas davongelaufen. Ich legte mich auf die Matte, schloß die Augen.
"Können wir?" Heiko stand vor mir und lächelte: "Vielleicht solltest du dich wenigstens mal umziehen." Ich blickte ihm direkt in die Augen. Und in diesem Moment haßte ich ihn. Ich haßte ihn zum allerersten Mal, seit wir uns kannten. Nein, ich haßte ihn seit dem Augenblick, als er Nein gesagt hatte. Wortlos stand ich auf und taperte in die Umkleide, Heiko mir hinterher.
"Was ist los?"
"Was los ist? Das frage ich dich."
Heiko guckte mich an. Er guckte mir in die Augen und diesmal war da kein Grinsen, kein Lächeln, nicht Heikos unbefangener Blick. Zum allerersten Mal guckte er richtig ernst: "Ich glaube, wir müssen mal miteinander reden."
"Das glaube ich auch", meinte ich trotzig. Ich drehte meinen Kopf weg und ging unter die Dusche. Wortlos zog ich mich um, wortlos machten wir uns auf dem Heimweg. Als wir beim Jet vorbeikamen, verschwand Heiko kurz und kam mit einer Flasche Bailey's wieder zurück. Ich sagte nichts. Wir schwiegen, bis wir endlich bei mir zu Hause waren. Er warf seine Tasche in die Ecke, griff sich die Flasche Bailey's und ging nach unten. Er holte zwei Gläser aus der Küche und setzte sich an unseren Eßtisch.
"Und?"
"Was und?"
"Was willst du mir sagen, Tim?"
"Was ich dir sagen will?"
"Natürlich, du willst mir was sagen. Also los. Warum bist du auf einmal so komisch? Warum bist du sauer?" Dieser Arsch. Wie konnte nur so ignorant sein? Ok, wenn er es so wollte.
"Warum wolltest du nicht mit mir ringen?"
"Aha, das ist es also."
"Ja, das ist es also. Was sollte das?"
"Der Grund, warum du dich so aufregst, ist die Antwort auf deine Frage."
"Machen wir jetzt hier Rätselraten? Sag mir endlich, was los ist."
"Du bist der Grund, Tim. Schau dich doch mal an. Du bist sauer, weil wir nicht zusammen gerungen haben? Für dich wäre es doch wieder so ein tierisch wichtiges Ding gewesen wie in Leipzig. Gewinnen, gegen mich gewinnen. Unheimlich wichtig. Ich wollte nicht, daß das wieder so eine Dimension annimmt."
"Dimension. Dimension. So ein Blödsinn, was redest du denn da?"
Heiko schwieg, er schaute mich an, er schaute mich einfach nur an und ich wunderte mich, daß er, Heiko, daß er so gucken konnte. Schließlich meinte er: "Das wäre doch für dich wieder total wichtig gewesen, zu gewinnen. Sei ehrlich."
Ich überlegte. Und ich glaube, nein ich bin sicher, ich sagte die Wahrheit: "Nein. Ich hätte schon gerne gewonnen. Aber es hätte nicht mehr die Bedeutung gehabt wie in Leipzig. Ich hätte nur einfach gerne mit dir gerungen. Aber nein, du mußt dich ja so affig tun."
"Du bist stinkig, weil ich nicht mit dir gerungen habe. Ok, vielleicht war es dir nicht wichtig, zu gewinnen. Aber es war dir vielleicht wichtig, mit mir zu ringen."
"Ja und?"
"Du hast da viel zu viele Gefühle drin."
"Wenn ich einfach nur gerne mit dir ringen möchte?"
"Tim, du willst mich nicht verstehen."
"Heiko, jetzt mal ehrlich: Vielleicht liebe ich dich immer noch. Aber ich habe es im Griff, ich kann damit leben. Aber verdammt noch mal, laß diese verfluchte Überheblichkeit." Der Bailey's zeigte seine Wirkung: "Der tolle Heiko, der immer entscheidet, wo es langgeht, der alles und immer und jeden im Griff hat." Ich sah eine Spur Verwunderung in seinen Augen. Ich hatte angefangen zu reden und wollte nicht mehr so schnell aufhören: "Du hast alles in der Hand, du bist der große Bestimmer. Du entscheidest, wo und wann wir Sex haben, nein, überhaupt, du entscheidest OB wir Sex haben."
"Du hättest Nein sagen können."
"Darum geht es nicht. Natürlich wollte ich. Ich wollte und will immer. Ich hätte nie Nein gesagt. Weder damals in Köln noch in Leipzig. Es geht darum, daß wenn DU mal nicht der Bestimmer wärest sondern wenn ICH mal sagen würde, laß uns jetzt mal hier und jetzt Sex haben, dann würdest DU garantiert Nein sagen, einfach nur so. Entweder um mir nur einfach zu widersprechen, oder um wieder den großen Heiko zu spielen, der alles immer in jeder Situation in der Hand hat."
"Du hast es doch noch nie probiert."
"Nein, das wollte ich mir ersparen. Dein 'Dich hatte ich schon mal' von damals hat mir gereicht." "Mein Gott, du bist echt kompliziert. Echt mal. Du tust ja gerade so, als würde ich dich immer wieder überfahren."
"Nein, das ist es nicht. Kannst du mich denn nicht verstehen? Du sagst: Laß uns miteinander schlafen. Ja. Du sagst: Laß uns nicht miteinander schlafen. Ja. DU triffst die Entscheidung, in welche Richtung auch immer. Nicht ICH. NIE ICH!"
"Irgend jemand muß sie treffen."
"Und das mußt immer du sein?"
"Wenn du sie nicht triffst."
Ich schwieg.
"Ist es das, was dich so ankotzt? Eigentlich ist es nämlich wahrscheinlich immer der kleine Tim, der sonst die Entscheidungen trifft. Und plötzlich kannst du es nicht mehr. Plötzlich TRAUST du dich nicht mehr. Du fühlst dich plötzlich hilflos."
Ich guckte ihn an. Und ich konnte nichts sagen. Da stand er vor mir, wir beide schrien uns fast an und plötzlich war da nicht mehr der unkomplizierte, oberflächliche Heiko, der alles immer so locker nahm. Auf einmal stand da ein ganz anderer Heiko und auf einmal hatte dieser Heiko etwas gesagt, was mich tief im Innersten getroffen hatte, etwas, was irgendwie, nein nicht nur irgendwie, zutraf.
Und auf einmal nahm mich dieser Heiko in den Arm und hielt mich ganz fest. "Mein Gott, Tim, mach doch nicht alles so schwierig. Ich weiß, daß du mich liebst. Aber wir beide wissen, daß daraus nichts werden kann. Aber verdammt, ich will dich auch nicht verlieren. Ich meine es wirklich ehrlich. Ich spiele nicht mit dir. Und wenn wir miteinander schlafen, dann, weil wir beide da drauf Bock haben und es geil finden. Und wenn mal nicht, dann eben, weil jemand von uns gerade mal keine Lust hat. Und wenn ich mal Nein sage, dann heißt das in diesem Moment Nein und heißt nicht für immer und ewig Nein. Das solltest du eigentlich inzwischen verstanden haben. Das heißt nicht, daß ich nichts mehr für dich empfinde oder daß du unwichtig für mich geworden bist."
Er blickte mir in die Augen. Und für eine Zehntelsekunde blitzte dort etwas auf. Ich weiß nicht, was es war, aber es war so voller Wärme und Gefühl. Und auf einmal begann ich Heiko ein bißchen besser zu verstehen.
"Wollen wir unseren Kampf von heute Nachmittag nachholen?", fragte er.
Ich lächelte und schüttelte den Kopf: "Nicht heute, ein anderes Mal."
"Deine Entscheidung", sagte er grinsend.
Ich nickte. Schon verrückt das alles.

Montag, 22. Dezember 1997

22. Dezember

Nun ist er wieder nach Stuttgart gefahren. Ich weiß immer noch nicht, was er da macht. Ich will auch nicht mehr fragen. Ich komme mir ja echt schon wie eine eifersüchtige Ehefrau vor. Verdammt, wenn er es mir erzählen will, wird er mir das schon sagen. Er meint, daß er heute zum Training wieder da ist. Ich habe Nils angerufen und ihm Bescheid gesagt. Er meinte nur, das würde zu Heiko passen. Na toll.
Doris rief an: "Holst du mir ein Bier?"
"Was?"
"Na, das war doch DIE Aktion des Abends."
Toll, ich wußte genau, worauf sie anspielte.
"Ich gebe zu, er hat was. Wenn er lächelt, wickelt er jeden um den Finger. Auch wenn man nichts von ihm will, hat er eine ganz bestimmte Art, die Leute für sich einzunehmen. Und das weiß er ganz genau."
"Super, und ich Blödi renne auch noch los und hole ihm sein Bier."
"Ich glaube, er hat das gar nicht böse gemeint. Ich glaube auch nicht, daß er das ausnutzt. Ich glaube, für ihn war das wirklich nur so eine völlig natürliche und selbstverständliche Sache. Und ich glaube, es ist genau das, was seinen Charme ausmacht."
Ich wunderte mich, wie Doris nach den paar Stunden Heiko zu ihren Theorien kam. Sie wechselte das Thema: "Und wie geht es dir mit der ganzen Sache?"
"Ich glaube, bis jetzt erstaunlich gut." Und das war noch nicht einmal gelogen. Ich erzählte ihr die ganze Absetz-Story nicht. Das war mir einfach zu kompliziert, ihr das zu erklären.

Seit ich aufgelegt habe, lasse ich mir das Gespräch mit Doris immer wieder durch den Kopf gehen.
Heiko pennt und ich sitze im Wohnzimmer und schreibe. Eine gute Stunde nach seinem Anruf war er da. Einfach so, Heiko stand in der Tür, lächelte und war da, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ich versuchte, meinen Ärger der letzten Stunden zu reaktivieren: "Was war denn los? Wo warst du? Ich hätte beinahe die Polizei gerufen, wenn du dich nicht gemeldet hättest."
"Christian hat mich in der Tofa angesprochen. Wir haben gequatscht und dann sind wir zu ihm nach Hause nach Ulm gefahren."
"Und warum hast du nicht Bescheid gesagt? Wir haben dich echt gesucht."
"Ich habe dich nicht gefunden, echt nicht."
Toll, ganz toll. Als wenn die Tofa soooo riesig wäre.
"Laß mich raten, ihr habt die ganze Zeit rumgemacht?"
"Na klar." Typisch Heiko! Nein, nicht DASS sondern wie er "Na klar" sagte.
"Und wieso kommt ihr jetzt mitten in der Nacht auf die Idee, wieder zurück nach Bergbach zu kommen?" Eigentlich wollte ich ihn noch fragen, warum er bei der ganzen Rummacherei nicht mal eine Minute Zeit gehabt hat, sich zu melden. Aber das hätte garantiert total nach Mom geklungen. Sie hat früher auch solche Sprüche draufgehabt, wenn ich zu spät nach Hause gekommen bin. Irgendwie war mir ja meine ganze Fragerei sowieso schon unangenehm. Aber auf der anderen Seite bin ich neugierig und außerdem wollte ich ihn nicht so davonkommen lassen.
"Er arbeitet am Flughafen in Stuttgart und hat Frühdienst um halb sechs. So und jetzt ist Schluß mit Quizshow, ich bin echt müde und gehe jetzt pennen."

Damit rollte er sich in seinen Schlafsack und war eine halbe Minute später weggepooft. Und seltsamerweise pennte ich auch ziemlich schnell ein. Doch nun bin ich wieder wach, habe irgendwie den Eindruck, daß mir alles wieder mal total aus dem Ruder läuft und ich nichts dagegen tun kann. Aha, Heiko ist wach!
"Hallo?"
In meinem Kopf drehte sich alles, dabei hatte ich keinen Alk getrunken. Ich guckte auf die Uhr, kurz nach eins. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ich fummelte nach dem Lichtschalter.
"Hallo? Wer ist denn da?"
"Na, ich bin's, Heiko."
"Jeez, was ist los? Wo bist du denn?"
Mein Verstand kehrte nur langsam zurück.
"In Ulm."
"In Ulm? Was machst du in Ulm?"
"Erzähle ich dir dann. Ich wollte nur hören, ob du da bist und ob ich vorbeikommen kann."
"Natürlich bin ich da. Verdammt, ich habe mir echt Sorgen um dich gemacht. Wie willst du denn jetzt mitten in der Nacht von Ulm hierher kommen?"
"Christian bringt mich, ich erzähle dir das alles nachher."

Heiko in Ulm. Wer ist Christian? Zum Glück ist heute keine Schule. Das ist doch alles total daneben. Jetzt kann ich nicht mehr einschlafen. Und ich bin sauer auf Heiko. Gleichzeitig frage ich mich aber auch, warum ich sauer bin. Bin ich wirklich nur sauer, weil er verschwunden ist und sich jetzt erst, mitten in der Nacht, meldet? Oder bin ich vielleicht auch sauer, weil er wahrscheinlich mit einem anderen Typ abgezogen ist? Bin ich wieder sauer auf seine selbstverständliche lockere Art, wie er die ganze Sache sieht? Ich weiß es nicht. Ich schaue mir das Chaos an, das er in meinem Zimmer angerichtet hat: Überall liegen seine Klamotten und ich versuche, mich darüber zu ärgern. Ich kann es nicht. Ich drehe Eno an und mache mir erst mal eine Tasse Kakao.

Sonntag, 21. Dezember 1997

21. Dezember

"Er hat sich immer noch nicht gemeldet."
"Scheiße. Und jetzt?"
"Wenn er sich bis morgen früh nicht meldet, dann gehe ich wirklich zur Polizei. Vielleicht ist ja wirklich was passiert. Ich mache mir tierische Vorwürfe, daß ich nicht besser auf ihn aufgepaßt habe."
"Was hättest du denn auf ihn aufpassen sollen? Der kommt doch nicht vom Dorf. Und ein Kleinkind ist er doch auch nicht mehr. Shit, ich würde ja vorbeikommen, aber meine Eltern haben schon einen riesigen Streß gemacht, daß ich kaum noch zu Hause bin und so weiter. Ich glaube, ich muß echt mal wieder eine Nacht zu Hause schlafen."
"Ist schon ok, wir sehen uns morgen, was auch passiert."
"Aber rufe an, wenn was ist, ok?"
"Ok. Ich liebe dich."
"Ich muß los, meine Eltern sind bestimmt schon sauer, daß ich so spät komme. Ruf mich an, wenn was ist, ok? Auf jeden Fall heute Abend, ob er sich gemeldet hat, ok?"
"Es war schön, daß du da warst heute Nacht."
Er umarmte mich, ein langer Kuß zum Abschied. Dann eierte und schlidderte er die Straße runter. Kurz vor der Kurve drehte er sich um und winkte. Ich liebe ihn!

Eine total verrückte Tofa-Nacht. Heiko kam kurz nach acht und war irgendwie ziemlich nölig drauf. Ich weiß ja auch nicht, was war. Jedenfalls habe ich ihm vorgeschlagen, daß wir in die Tofa gehen könnten, um ein bissele Party zu machen. Er nölte weiter, und maulte rum, daß er keine Lust hat. Ich wollte mir aber von ihm nicht die gute Laune vermiesen lassen und sagte, daß ich dann eben alleine gehe. Das fand er dann wohl doch nicht so toll und meinte dann, er kommt mit.
"Nils kommt auch."
"Und er weiß, daß ich komme?"
"Ja, er hat es ja sogar vorgeschlagen."
"Verstehe ich nicht. Als wir uns heute früh am Bahnhof getroffen haben, sah es so aus, als hätte er mich am liebsten erwürgen wollen."
"Vielleicht hat er ja eingesehen, daß es total kindisch ist, wenn ihr nicht miteinander redet. Und vielleicht siehst du das ja auch ein."
"Wieso ich? Ich habe damit kein Problem."
Ich guckte ihn an. Das kam so spontan, so selbstverständlich, daß ich ihm fast glaubte.
Ich gebe zu, daß ich schon ein komisches Gefühl hatte, als wir lostaperten. Ich war mir nicht sicher, ob das gutgehen würde. Nils und Heiko zusammen in der Tofa. Wir holten Nils ab. So die ersten Minuten war die Stimmung schon noch etwas gespannt. Aber dann fing Heiko an zu reden und setzte sein Lächeln auf. Ich merkte, wie Nils innerhalb kürzester Zeit total locker wurde, selber anfing, drauflos zu reden und zu lachen. Jedenfalls kamen wir total vergackert in der Tofa an. Merkwürdigerweise schien heute wieder Bergbach-Complete angesagt zu sein. Es waren alle möglichen und unmöglichen Leute da. Flo mit Ina, Max, Kevin und sogar Jonas. Na toll. Aber das Verrückteste war, daß Doris auf einmal vor mit stand. Ich guckte sie total verdattert an: "Was machst du denn hier?"
"Was soll denn diese Frage? Darf ich nicht?"
"Natürlich darfst du, hey, ich freue mich sogar, daß du da bist. Aber wie denn? Das ist doch hier nicht dein Laden."
"Manchmal hast du seltsame Gedanken, Tim. Aber vielleicht bin ich ja auch nur zum Heiko-Gucken gekommen."
"Zum Heiko-Gucken? Woher wußtest du denn...?"
Nils, Nils diese kleine Ratte! Was sollte DAS denn jetzt. Ich suchte ihn, wollte ihn fragen, was das sollte. Ich fand ihn in dem Gewühle nicht. Statt dessen rannte ich direkt Jonas in die Arme. "Ich denke, ihr hattet heute Wettkampf, da geht man nicht mehr weg."
"Wir hatten keinen Wettkampf." Das kommt davon, wenn man lügt.
"Dein Freund ist ein Arsch."
"Vorsichtig, ganz vorsichtig! Nils ist kein Arsch!"
Toll, ganz toll. Jetzt durfte ich Nils' Lügerei ausbaden. Ich war richtig froh, als Ina angehüpft kam und mich auf die Tanzfläche mitzog. Es war richtig gute Stimmung und gute Musik. Nach einer Weile bekam ich mit, wie Flo am Rand der Tanzfläche stand und mich ziemlich finster anguckte. Oh Shit, na klar. Warum nicht gleich noch ein Problem mehr? Ich ließ Ina stehen und ging zu Flo, griff in am Arm und zog ihn in eine halbwegs stille Ecke. Ich hatte keine Lust mehr auf irgendwelche Komplikationen, auf Probleme, auf Eifersuchtsszenen, auf verstockte, vermaulte Laute, auf Leute, die nichts verstehen oder alles falsch verstehen. Ich wollte einfach nur reinen Tisch machen. "Paß auf Florian", begann ich, "bevor du auch nur irgendwas denkst oder sagst: Nein, nein, nein! Ich habe nichts mit Ina, ich will nichts mit Ina haben und ich WERDE vor allem auch nie was mit Ina haben. Ist das klar?! Du brauchst also gar nicht so finster zu gucken, ich nehme sie dir nicht weg."
Mein Gefühlsausbruch war wohl etwas heftig denn er guckte mich total verdattert an. Doris kam vorbei uns ich zottelte sie an unseren Tisch. "Damit du siehst, daß ich es ernst meine, das hier", ich zeigte auf Doris, "das hier ist meine beste Freundin." Und um das Ganze noch zu bekräftigen gab ich ihr einen Kuß auf die Wange. Flo und Doris guckten sich eine Sekunde lang an und fingen dann an zu lachen. Es muß aber auch eine total komische Szene gewesen sein.
"Weißt du was, Tim, ich glaube dir. Ich glaube dir auf's Wort." Er kicherte.
Auftritt Heiko. "Gehst du irgendwann noch mal Bier holen?"
"Nee, hatte ich eigentlich nicht vor, wieso?"
Er drückte mir drei Mark in die Hand: "Bring mir mal eines mit."
"Äh, hallo? Ich habe gesagt, ich gehe nicht so bald Bier holen."
"Ich will aber eines und mag mich nicht anstellen."
Ich verstand das gar nicht richtig, ich war einerseits verwirrt und auf der anderen Seite so überdreht, daß ich gar nicht weiter nachdachte. Ich taperte also zum Tresen, mogelte mich durch die Schlange und kam mit zwei Bier zurück. Heiko nickte mir zu und zottelte wieder weiter. Jetzt erst, wenn ich das schreibe, frage ich mich echt, was das für ein Ding war. Was sollte denn das? Doris blickte mich an und sagte nichts. Ina kam von der Tanzfläche und klammerte sich an Flo. Ich versuchte krampfhaft, sie nicht anzugucken. Auftritt Nils: "Ach hier seid ihr."
"Ja, vorne war es uns zu laut."
"Wenn es dir zu laut ist, bist du zu alt."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang."
"Wo ist Heiko?"
"War bis eben noch hier, keine Ahnung, wo er hinwollte."
Doris blickte von Nils zu mir und wieder zurück. Es sah so aus, als würde sie bei einem Tennismatch zuschauen. Ich bekam wieder einen Lachanfall und rettete mich auf die Tanzfläche.
Irgendwann sah ich Flo am Rand der Tanzfläche, er machte unser "Ich-gehe-jetzt-Zeichen" und zog ab. Ich taperte zu Doris und Nils, die noch am Rand standen. Doris verabschiedete sich auch und Nils gähnte.
"Was hältst du von gehen?"
"Gute Idee, ich bin auch genug gehüpft für heute. Ich werde mal Heiko einsammeln und dann kann es losgehen."
Doch Heiko war nirgends zu finden. Inzwischen war es ziemlich leer geworden und wir durchkämmten den Laden zweimal hintereinander. Ich guckte sogar auf den Klos nach.
"Und?"
"Nichts. Verschwunden. Verdunstet."
"Und jetzt?"
"Keine Ahnung. Also hier ist er definitiv nicht."
Wir warteten noch eine halbe Stunde. Dann fingen wir das ganze Suchspielchen noch mal von vorne an, aber Heiko blieb verschollen. Langsam wurde ich sauer.
"Ich gehe jetzt nach Hause", beschloß ich.
"Und Heiko? Findet der alleine zurück?"
"Muß er wohl. Vielleicht sitzt er ja schon bei mir vor der Tür und heult sich die Augen aus."
In diesem Moment war es mir scheißegal, was mit Heiko war.
"Das hättest du wohl gerne, was?"
Wir taperten los. Ich war ziemlich kaputt von der ganzen Tanzerei. Ich kuschelte mich in Nils Arm. Irgendwie kamen wir ganz automatisch bei mir zu Hause an.
"Kein Heiko. Niemand da."
Ich blickte Nils an. Ich brauchte nichts zu sagen, nicht zu fragen. Er kam einfach mit.
"Dein Heiko scheint ein ziemliches Chaoskind zu sein", sagte er, als er Heikos verteilte Klamotten sah.
"Er ist nicht MEIN Heiko."
"Ich glaube, ich kann dich inzwischen besser verstehen. Er hat was. Wenn er einen anlächelt, dann wird man butterweich."
Ich blickte ihn mißtrauisch an.
"Nein, keine Angst, ich finde ihn NICHT niedlich und ich habe mich auch NICHT in ihn verguckt. Ich meine nur, ich kann dich jetzt irgendwie verstehen."
Ich küßte ihn, er sollte nicht mehr reden. Ich wollte ihn einfach nur fühlen, einfach nur noch mit ihm zusammen sein.

"Vielleicht hat ihn Jonas abgeschleppt?", meinte Nils beim Frühstück.
"Das kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen. Ich glaube nicht, daß Heiko auf Jonas abfahren würde. Aber ich mache mir echt Sorgen. Er hat nicht mal angerufen."
"Und was machen wir jetzt?"
"Keine Ahnung. Wir können ja schlecht die Polizei anrufen. Die lachen uns ja aus."
"Also warten wir ab?"
"Müssen wir wohl."

Als Nils sich verabschiedet hatte, wurde ich noch unruhiger. Ich rannte in der Wohnung hin und her, probierte das Telefon aus, ob es funktionierte. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich versuche, erst mal was zu essen.

Samstag, 20. Dezember 1997

20. Dezember

Irgendwie war das ein ziemlich blöder Tag. Nils und ich wollten ja heute Vormittag nach Stuttgart fahren, um unsere Weihnachtseinkäufe zu machen. Das haben wir auch gemacht. Ja, und Heiko wollte natürlich auch nach Stuttgart. Und so kam es, daß wir alle zusammen gefahren sind. Nils und ich hatten uns auf dem Bahnhof verabredet und als er sah, daß ich mit Heiko im Schlepptau ankam, sah ich ganz genau, was er dachte.
Mehr als ein "Hi" brachten wir alle Drei nicht raus. Es war eine absolute Scheiß-Situation. Die ganze Bahnfahrt nach Stuttgart redeten wir alle kein Wort, nicht mal Heiko sagte was. Ich glaube, ich habe mich noch nie so unwohl gefühlt. Ankunft in Stuttgart, endlich.
"Bis heute Abend irgendwann bei dir." Heiko verschwand im Gewühl.
"Das mußte ja nun nicht sein, daß er mitkommt."
"Was sollte ich denn machen? Ich habe doch gesagt, daß er hier was vorhat. Hätte ich ihm sagen sollen, fahr mit dem Bus, oder per Anhalter, oder einen Zug später?"
"Ich mag ihn nicht."
"Ja, ich weiß. Dann wärst du gestern wahrscheinlich sowieso nicht mitgekommen. Wir waren noch im Havanna."
"Nein, ganz bestimmt nicht. Es ist ok, wenn ihr was zusammen macht, wen er hier ist. Nur ich muß ja nicht unbedingt dabei sein. Da chille ich lieber."
"Wo hast du denn gestern gechilled?"
"Na, zu Hause."
"Du warst gestern abend nicht zu Hause. Ich habe angerufen."
"Ach so, du meinst später am Abend? Da war ich bei Kevin, Bier trinken, quatschen, wir haben ein paar Videogames gespielt."

Ich hatte schlechte Laune. Die schweigende Zugfahrt hatte mich doch ziemlich mitgenommen. Ich wollte die ganze Einkaufsarie so schnell wie möglich hinter mich bringen und düste von Laden zu Laden, während sich Nils endlos ausmehrte. Irgendwann hatten wir richtig Zoff und schrien uns mitten in der Fußgängerzone an. Das ging so fünf Minuten bis wir plötzlich aufhörten. Einfach nur so. Gleichzeitig, von einer Sekunde auf die andere wurde uns beiden klar, wie bekloppt das ist, was wir da gerade abziehen. Wir einigten uns darauf, daß jeder für sich shoppen geht und daß wir uns in zwei Stunden im Café treffen. Ich war irgendwie erleichtert, schaffte meine Tour in einer Stunde, zum Glück war auch das Ringerbuch für Nils schon da. Am Schloßplatz holte ich mir erstmal einen Glühwein, stand da, schaute auf die vorbeihuschenden Leute und schüttelte innerlich den Kopf. Ein Wahnsinn das alles, dachte ich. Und damit meinte ich nicht so sehr den Weihnachtsstreß, sondern die Sache mit Heiko, Nils und mir. Was mache ich eigentlich? Was mache ich mit Nils? Was tue ich Nils an? Was tue ich Heiko an? Nein, falsch! Absolut daneben! Ich tue Heiko nichts an. Niemand kann Heiko was antun, Heiko tut anderen was an. Ich versuchte wieder einmal, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, als mich jemand von hinten antippte: "Unsere kleine, treulose Jungschwuppe."
Robert, der hatte mir gerade noch gefehlt.
"Fleißig am Weihnachtseinkäufe machen?" Blöde Frage. Denkt er, ich habe die Einkaufstüten einfach nur als Dekoration dabei?
"Ja. Ist ja zum Glück nur einmal im Jahr."
"Und schon was erreicht mit Zivildienst?"
"Ja, nein, na auf jeden Fall weiß ich jetzt mehr Bescheid."
Mir war nach einem zweiten Glühwein. Ich verbrannte mir die Lippe.
"Warum bist du so komisch?"
"Bin ich komisch? Ich bin nicht komisch. Ich bin nicht mal witzig."
"Ok, nicht komisch, seltsam. So fahrig, durch den Wind. Der wievielte Glühwein ist das denn?"
"Der zweite. Ich bin nicht besoffen. Der ganze Trubel hier nervt nur tierisch ab."
"Wollen wir uns irgendwo in ein Café setzen? Ins Dorian?"
"Da treffe ich mich mit Nils in einer Stunde."
"Ja und?"
Nein, nicht jetzt auch noch Robert und Nils. "Bitte, echt, ich will einfach alleine sein, mit Nils alleine sein. Ok? Ich rufe dich an." Ich schüttete den Rest des Glühweins in mich hinein. Jetzt hatte ich mir auch noch den Magen verbrannt. Ich bin ein Arsch. Robert konnte nun wirklich nichts dafür und es tat mir auch echt leid, wie ich ihn behandelt habe. So ein Scheiß. Ich nehme mir vor, daß ich ihn in den nächsten Tagen anrufe und ihm alles erzähle.

Endlich raus aus dem Trubel. Der Glühwein zeigt doch seine Wirkung. Mir ist warm, ich werde angenehm müde und etwas trieselig. Beschließe, daß jetzt ein warmer Kakao genau das ist, was in meine Stimmung paßt. Und ich muß irgendwie dann tatsächlich weggenickt sein. Ich wache auf, als mich Nils sanft auf die Stirn küßte: "Scheint ja doch eine anstrengende Einkaufstour gewesen zu sein, wenn du jetzt hier schon einpennst. Oder war die Nacht so heftig?" Kein Ärger, kein Maulen, ich blicke in Nils' strahlende, fröhliche Augen. Das ist wieder mein Nils, so wie ich ihn kenne. Wir lachen, blödeln. Es ist alles wieder so, wie es sein muß. Auf der Rückfahrt penne ich wieder ein, irgendwie war die letzte Nacht dann doch zu kurz.
"Was machen wir denn heute Abend? Willst du vielleicht doch noch weiterpennen?", fragte er, als wir aus dem Zug stiegen.
"Eigentlich nicht, irgendwie bin ich jetzt wieder ganz munter."
"Was ist mit Heiko?"
"Ich weiß nicht, er meint, er wird so gegen acht wieder hier eintrudeln."
"Wie ist es denn mit Tofa heute Abend? Vielleicht will Heiko ja mitkommen."
Ich guckte ihn an. Was hatte er gerade gesagt? Plötzlich war er wie ausgewechselt. Nils schlägt vor, daß wir drei zusammen in die Tofa gehen? Was soll das denn? Ich überlegte. Irgendwie schien mir die Idee aber gar nicht so blöd zu sein. In der Tofa muß man nicht viel reden, man kann einfach Party machen. Aber ich wundere mich, daß Nils von einer Stunde auf die andere wie ausgewechselt ist. Wieso macht ihm das jetzt auf einmal nichts mehr aus, mit Heiko zusammen wegzugehen? Manche Sachen verstehe ich echt nicht.
"Da bist du ja."
Das genau waren Heikos Worte, als er gestern aus dem Zug stieg. Ich war ja wirklich ziemlich hin und hergerissen. Eigentlich hätte ich ihm ja am liebsten abgesagt. Aber als ich dann auf dem Weg zum Bahnhof war, freute ich mich dann doch, daß er kommt. Er stieg aus dem Zug, lächelte und mir wurden wieder die Knie weich. Er umarmte mich, was mir aber selbst auf unserem Kleinstadtbahnhof nichts ausmachte.
"Bist du mit dem Auto da?"
"Bin ich vielleicht schon 18?" Ich versuchte, mein Herzklopfen hinter frechen Antworten zu verstecken.
"Nein, wir fahren die paar Stationen mit dem Bus."
Heiko plapperte drauflos. Einfach so. Ich hörte zu und sog jedes Wort in mich auf. Es war alles andere als weltbewegendes Zeugs, aber ich genoß es, genoß es so, daß ich fast unsere Haltestelle versäumte. Wir taperten die Straße hoch und Heiko keuchte unter seiner schweren Tasche.
"Was hast du denn da alles drin? So viel Zeugs für die paar Tage?"
"Na klar, immer in jeder Situation richtig gekleidet."
"Wo hast du denn den Werbespruch her?"
Wir waren angekommen.
"Hier wohnst du?"
"Ja. Ich meine, natürlich ich nicht alleine, mit meinen Eltern und mit meiner kleinen Schwester und meinem Bruder."
"Nett, sehr nett."
Heiko ließ seine Tasche auf den Boden fallen. "Cooles Zimmer, coole Aussicht. Schon was anderes als bei mir, wo mir die Leute von gegenüber direkt ins Zimmer gucken."
Er fing an, wie selbstverständlich seinen Krempel in meinem Zimmer zu verteilen und ich fand es auch total selbstverständlich. Es war ein total seltsames Gefühl. Heiko ist hier und er wirkt überhaupt nicht wie ein Fremdkörper, es ist so, als wenn er schon immer hier war, hierher gehört. Nach kürzester Zeit sah mein Zimmer aus wie ein Schlachtfeld und ich grinste nur innerlich.
"Und jetzt? Was machen wir jetzt?"
"Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht, wie so dein Zeitplan hier aussieht. Erzähl doch mal, was du so getimed hast."
"Heute habe ich nichts vor. Ich dachte mir, heute können wir was zusammen machen. Morgen, am Sonntag und am Montag bin ich dann den ganzen Tag in Stuttgart."
"Was machst du denn eigentlich in Stuttgart?"
"Erzähle ich dir irgendwann mal. Ist etwas kompliziert", meinte er geheimnisvoll.
Na toll, spielt er eben den Mystery Man.
"Und? Was machen wir denn nun heute?"
"Ich könnte dir ein bissele unser tolles Dorf zeigen. Ist nicht Köln und ist auch nicht spannend. Aber so sehr viel haben wir nicht zu bieten."
"Ja, warum denn nicht. Und heute abend?"
Meine Güte, vielleicht hätte ich mir ja vorher ein Touristenprogramm überlegen sollen.
"Vielleicht gehen wir in die Alte Schmiede, ins Zollhaus oder in die Tofa."
"Sagt mir alles nichts."
"Hätte mich jetzt auch gewundert. Laß dich überraschen."
Wir taperten los, durch das weihnachtliche Bergbach. Kitsch pur. Die Innenstadt leuchtete und funkelte und ich war kurz davor, sentimental und romantisch zu werden. Heiko plapperte unaufhörlich weiter, erzählte vom Ringen, von Matthes, von der Schule. Und während mich sonst so ein endloser Wortstrom nervte, genoß ich es einfach. Zwischendurch schob ich mal solche Dinge wie: "Das ist unser Marktbrunnen." ein. Heiko nickte kurz und es ging weiter. Die Fußgängerzone hatte nun echt nicht viel zu bieten und so taperten wir weiter. Es hatte wieder angefangen zu schneien und irgendwann waren wir am Kochertalweg. Ich weiß ja auch nicht, warum ich ihn unbedingt da hin gebracht habe. Doch, ich weiß es. Ich wollte ihm irgendwie den Ort zeigen, der für mich hier einer der wenigen wichtigen Orte ist. Und so standen wir da, schauten hinunter auf das weihnachtlich-winterlich beleuchtete Bergbach und das, was ich eigentlich nicht wollte, passierte. Es war eine total schöne, romantische Stimmung. Um uns herum alles dunkel, der Schnee dämpfte jedes Geräusch. Ich wollte einfach nur die Situation für einen Moment genießen. Und was macht Heiko? "Ja, und was ist hier?"
"Äh, hier ist, ich meine, da unten ist Bergbach."
"Ja. Ach so. Mir ist kalt. Wollen wir nicht langsam zurück gehen?"
Heiko. Na klar, das war Heiko, der neben mir stand. Was hatte ich denn eigentlich erwartet? Ich bekam irgendwie schlechte Laune, ärgerte mich über mich selber, daß ich ihn überhaupt da nach oben geschleppt hatte. Er war es gar nicht wert, daß ich ihm das zeige. Das klingt jetzt aber auch wieder zu heftig. Was soll's. Als wir endlich wieder zu Hause waren, bekam ich Hunger.
"Wie sieht es denn so mit Essen aus?", fragte ich.
"Ja."
"Wie? Ja?"
"Essen, ja."
"Und was?"
"Keine Ahnung, schlag was vor. Was hast du denn da?"
Daran hatte ich nun überhaupt nicht gedacht, daß ich ja was kochen könnte oder müßte, wenn er da ist. Ich meine, wenn Mom und Dad weg sind, bediene ich mich immer munter aus dem Kühlschrank, aus dem Tiefkühler oder aus der Speisekammer. Jetzt müßte ich das erst mal alles durchforsten und mir überlegen, was ich denn für uns koche.
"Was hältst du denn davon, etwas vom China-Imbiß kommen zu lassen?"
"Ja, ist ok."

"Und deine Family ist jetzt über's Wochenende verreist?"
"Ja."
"Wie praktisch." Heiko lächelte. Und wenn ich vorhin noch etwas verärgert über ihn war, dieses Lächeln wischte wieder alle beiseite.
"Laß mich raten: sie wissen immer noch nicht, daß du schwul bist."
"Stimmt."
"Und Nils?"
"Wie und Nils? Der weiß, daß ich schwul bin."
"Haha, ja toll. Ich meine, weiß er, daß ich hier bin? Was sagt er, was macht er?"
"Natürlich weiß er es. Er weiß, daß wir zusammen geschlafen haben. Er weiß, was zwischen uns gelaufen ist."
"Und?"
"Und was?"
"Mensch, ist das jetzt so eine Macke von dir? Dir alle Sachen immer nur in kleinsten Häppchen aus der Nase ziehen zu lassen? Was sagt er dazu?"
"Nichts, was soll er dazu sagen?" Ich war richtig ein bißchen stolz auf meiner Antwort, die ich einfach so locker, ganz im Heiko-Stil rausbrachte.
"Was sagt Matthes dazu, daß du hier bei mir bist?"
Gegenangriff. Obwohl das Wort Angriff natürlich total übertrieben ist.
"Kein Problem. Ich glaube, der hat heute und morgen eine Verabredung mit einem Typen aus dem MyWay."
"Eine Verabredung? Zum Sex?"
Das rutschte mir so raus. Vermutlich war es Heikos Einfluß.
"Kann schon sein. So wie ich ihn kenne."
Ich versuchte irgendwas in Heikos Gesicht zu finden, was wenigstens ein bißchen nach Eifersucht oder Ärger aussieht. Aber da war nichts. Pokerface, Teilnahmslosigkeit, was weiß ich.
"Ist das wirklich so locker bei euch? Macht dir das wirklich nichts aus, daß du jetzt schon weißt, daß er mit einem anderen Jungen rummachen wird, während du nicht da bist?"
"Nein. Ich hab dir doch erzählt, daß wir das so abgesprochen haben, daß wir eine offene Beziehung haben."
"Ja schon, aber...", ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war nicht verwundert, denn ich wußte ja Bescheid. Aber irgendwie machten mich seine Ansichten immer noch sprachlos.
"Ich bin satt. Was machen wir jetzt?"
"Weggehen? Wie wäre es mit der Tofa?"
"Tofa?"
"Ein Club, die Leute sind zwar ziemliche Bauern, aber es läuft ganz gute Musik da. Ist so das Beste was wir hier auf dem Dorf haben. Aber eigentlich kennst du den doch. Ihr seid doch in die Tofa gezogen, als ihr alle im April hier wart."
"Ach dieser Laden ist das. Ich glaube, ich hab heute keine Lust auf so was. Was gibt es denn noch?"
"Alte Schmiede vielleicht? Können wir Billard spielen. Oder nein, warte, ich habe eine Idee, wir gehen ins Havanna, das ist recht cool da. Ist einfach eine Bar, wir können sitzen und quatschen und Leute angucken."
"Ok."
Nils schoß mir durch den Kopf. Was ist mit Nils?
"Wen rufst du an?"
"Nils, ich will fragen, ob er mitkommt."
Aber Nils war nicht zu Hause. Seine Mutter meinte, er wäre unterwegs, wüßte aber auch nicht wohin. Na toll. Er hatte doch gesagt, daß er am Abend zu Hause bleibt und fernsieht. Na gut, dann eben nicht.
Wir taperten los und es war ein richtig cooler Abend. Dummerweise war 2for1-Rum-Runner-Tag. Was wir natürlich total ausgenutzt haben. Nach der zweiten Runde drehte sich in mir schon alles. Und Heiko kam wieder auf sein Lieblingsthema Sex zu sprechen. Und ich war so breit, daß ich, glaube ich, alles über mich erzählt habe, alles was ich geil finde, was ich gerne mache und auch was ich gerne mal ausprobieren würde. Und Heiko machte das gleiche. Zwischendurch trafen sich unsere Blicke immer wieder, und obwohl wir schon total verrallert waren, war es jedes Mal wie ein kleiner Blitz, der mich tief im Inneren traf und mich ein Stück näher an hin heranzog. Nach der dritten Runde beschlossen wir dann, zu gehen, und torkelten und rutschten in Richtung nach Hause. Veranstalteten eine Schneeballschlacht in unserem Garten, die in einem Mini-Ringkampf endete. Irgendwie schafften wir es dann doch noch bis in mein Zimmer. Heiko wickelte sich in seinen Schlafsack und murmelte noch etwas von gute Nacht und war weg. Ich ließ mich in mein Bett fallen, schloß die Augen, alles drehte sich, aber es war angenehm.

Und nun bin ich jetzt schon wieder munter und ich habe komischerweise keine Kopfschmerzen, mir ist nicht übel, gar nichts. Ich habe erst mal unsere nassen Klamotten im Bad über die Heizung gehängt. Ich bin einfach knallwach. Heiko pennt seelenruhig. Was ist es, was ich an Heiko so toll finde? Ok, er sieht niedlich aus, aber auch nicht so niedlich, daß ich extrem ausraste. Es gibt jede Menge Jungs, die viel niedlicher aussehen. Vielleicht ist es sein Lächeln? Wenn er grinst, wenn er lächelt, dann dreht sich alles in mir. Ich glaube, er könnte alles von mir verlangen, wenn er dieses Lächeln aufsetzt. Ist es seine lockere Art mit den ganzen Sachen umzugehen? Mit Beziehungen, mit Sex, mit Fremdgehen? Ich weiß es nicht. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. Ich glaube, ich habe ihm gestern mehr über mich und meinen Sex erzählt als irgend jemandem sonst. Nicht mal Nils habe ich das alles gesagt. Bei Heiko ist es überhaupt kein Problem. Ich glaube, ich könnte ihm die verrücktesten Sexsachen erzählen, und er fände nichts dabei. Ich überlege gerade, ob ich mich mit ihm schon mal über irgend etwas Ernsthaftes unterhalten habe. Aber mir fällt nichts ein. Oberflächlich. Ist Heiko oberflächlich? Nein, ich glaube nicht, daß es das ist. Und ich glaube, daß da noch irgendwas in ihm drin ist, was nicht rauskommt. Vielleicht werde ich irgendwann verstehen, was es ist. Jetzt gehe ich erst mal nach unten und werde Frühstück machen.

Freitag, 19. Dezember 1997

19. Dezember

Jeeez, bin ich breit, ich schreib morgen weiter!
Heiko absagen. Das wäre es. Das geht mir seit heute Nacht durch den Kopf. Seit meiner Nacht heute mit Nils. Aber das geht natürlich nicht. Er hat sich darauf verlassen, daß er hier bei mir unterkommen kann. Also was soll's. Aber jetzt bin ich mir sicher, daß Heiko und ich nicht miteinander schlafen werden.
"Was machst du heute Abend?"
"Ich weiß nicht. Ich glaube mal, ich werde einfach nur fernsehen. Du bist ja bestimmt mit Heiko unterwegs." Kein Vorwurf, einfach nur eine Feststellung.
"Wollen wir nicht alle zusammen weggehen heute Abend?"
"Nein, laß mal, ich glaube, ihr zwei habt bestimmt eine Menge zu quatschen."
"Hey, Nils, bitte, ich möchte nicht..."
Er legte den Finger auf meinen Mund: "Es ist ok. Hast du gehört? Ich weiß, daß ihr nicht zusammen rummachen werdet und dann ist es ok. Ehrlich!"

Nils taperte davon. Es gibt manchmal Situationen, wo ich mir wünsche, ganz allein auf einer einsamen Insel zu sein. Nichts tun zu müssen, an nichts denken zu müssen. Das war so ein Augenblick. Ich habe Angst, daß das alles irgendwann über meinem Kopf zusammenstürzt, daß einfach alles zu viel wird. Nils, Heiko, wer darf mit wem wie zusammentreffen, wer will mit wem wie wo zusammentreffen, daran denken, daß die Wohnung wieder ok ist, wenn Mom und Dad zurückkommen, nebenher noch Weihnachtseinkäufe machen.
"Ich liebe dich."
Statt einer Antwort küßte ich Nils sanft auf die Stirn. Es war eine wunderschöne Nacht. Wir haben seit so langer Zeit endlich wieder richtig in Ruhe miteinander geschlafen. Es gab niemanden, der uns stören könnte und es war einfach traumhaft. Mit ihm im Arm einschlafen, in seinem Arm aufwachen. Es geht mir so gut. Ich höre, wie er gleich aus der Dusche kommt. Ich wollte das einfach nur mal aufschreiben, wie es mir geht.

Donnerstag, 18. Dezember 1997

18. Dezember

Nils kommt heute Abend nach dem Training zu mir. Das mit der "perfekten Gelegenheit" ist mir die ganze Zeit durch den Kopf gegangen. Ich will ihn endlich wieder richtig bei mir haben. Ich will mit ihm schlafen. Ich bin verrückt, ich weiß. Nils kommt, pennt bei mir, mit mir und morgen, morgen um diese Zeit stehe ich am Bahnhof und hole Heiko ab. Das ist eigentlich so was von daneben. Aber diese Nacht, diese Nacht gehört Nils und mir.
"Und wenn du irgendwelche wilden Parties feierst, sorge dafür, daß wenigstens das Haus stehen bleibt."
Dad zwinkerte mir zu. Dann legte er den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen die Einfahrt runterrollen. Lisa winkte. Der Wagen verschwand in der Kurve. Ich gehe zurück ins Haus. Bis Dienstag heißt es 'Tim allein zu Haus'. Ich gehe durch's Haus. Für einige Minuten kommt es mir vor, als wenn es mein Haus wäre. Perfekt eingerichtet, perfekt aufgeräumt, eine perfekte Kulisse. Was soll das eigentlich. Als wenn Heiko auf so was steht. Aber vielleicht steht er ja auf so was? Was mache ich mir da eigentlich für bekloppte Gedanken. Shit, ich merke schon wieder, daß ich an nichts anderes denken kann als an Heiko.
Jetzt erst mal Schule.

Mittwoch, 17. Dezember 1997

17. Dezember

"Was ist denn nun los? Du räumst dein Zimmer auf? Freiwillig? Hast du Fieber?"
"Ja und? Ist doch Weihnachten."
"Ach, wenn doch jedes Jahr Weihnachten wäre."
Mom hatte einen ihrer seltenen Scherze gemacht und das verwirrte mich. Phil grinste mich unverschämt um die Ecke an. Ja und? Ich räume mein Zimmer auf. Schließlich kommt Heiko. Soll er da in eine Desaster Area kommen?

"Dann habt ihr zwei ja sturmfreie Bude. Ein ganzes verlängertes Wochenende lang." Phil grinste.
"Wieso? Bist du nicht da?"
"Nö, ich fahre nun doch mit. Aber du, großer Ringer, du hast ja Wettkampf. Nein, ist schon ok. Ich gönne es dir ja, daß du mit Nils alleine bist."
Shit, was sollte ich denn nun machen? Ich beschloß, die Wahrheit zu sagen: "Ich kriege Besuch aus Köln. Der wird hier pennen."
Phil sah verwirrt aus: "Weiß Nils das?"
"Natürlich. Ich habe es ihm erzählt. Das ist kein Problem für ihn."
Phil nickte. Aber ich weiß nicht, ob er es verstand. Ich glaube nicht. Und wenn ich mir das richtig überlege. Jetzt so...alle sind weg. Es wäre wirklich die perfekte Gelegenheit für ein perfektes langes Wochenende mit Nils. SHIT! SHIT! Was mache ich da nur? Ein perfektes Wochenende mit Nils oder ein ungewisses Wochenende mit Heiko, was mir bestimmt wieder weh tun wird. Ich bin verrückt, wahnsinnig, bekloppt. Ich bin, ich bin...JA WAS BIN ICH EIGENTLICH?

Dienstag, 16. Dezember 1997

16. Dezember

"Dafür extra nach Stuttgart fahren?"
"Wieso nicht? Hier kriegt man doch sowieso nichts Vernünftiges."
"Ich weiß noch überhaupt nicht, was ich schenken soll."
"Ich schon. Und das, obwohl ich Weihnachten einfach schrecklich finde."
"Finde ich eigentlich nicht. Und überhaupt. Ist Heiko nicht da?"
"Das hatten wir doch schon. Heiko ist bestimmt an dem Tag IRGENDWO in Stuttgart. Er kommt hierher, weil er irgendwas zu tun hat. Ich weiß nicht was und ich weiß nicht wo. Ich weiß nur, daß er nicht die ganze Zeit mit mir rumhängen wird."
"Was du schade findest." Nils grinste. Er war wie ausgewechselt. Hätten wir das Gespräch gestern gehabt, dann hätte er das total beleidigt und maulig gesagt. Heute blitzten mich seine Augen dabei frech grinsend und unverschämt an. Ich überging seine Bemerkung. Also am Samstag Vormittag nach Stuttgart für Weihnachtseinkäufe. Zum Glück weiß ich schon genau, was ich allen schenke. Sogar Nils' Weihnachtsgeschenk habe ich schon bestellt. Ein total cooles Ringertrainingsbuch aus Amerika, das ich im Internet gesehen habe. Ich habe einfach bei einem Buchladen in Stuttgart angerufen und gefragt, wie lange es dauert, das zu bestellen. Sie meinten, daß sie es innerhalb von drei Tagen kriegen, weil es in London im Lager ist. SUPER! Ich glaube, er wird sich drüber freuen.

Montag, 15. Dezember 1997

15. Dezember

"Mir dröhnt immer noch der Kopf."
"Schuld eigene. Was war überhaupt los? Warum hast du so viel gekippt?"
Irgendwie konnten Nils und ich gestern nicht da drüber reden. Erst mal, weil Phil dabei war und dann waren wir so von dem Besuch bei Tobias geklatscht, daß uns ganz andere Sachen durch den Kopf gingen.
"Keine Ahnung. Ging so weg. Flo hat immer wieder nachgeschüttet. Und so komische Sachen gefragt."
"Wie? Komische Sachen?"
"Ich glaube, er wollte mich besoffen machen und mich dann über uns ausfragen."
"Echt?" Das sah Flo ja nun überhaupt nicht ähnlich. Ich meine, was für ein Interesse sollte er denn da dran haben? Vor allem, wo er doch seinen Kopf jetzt ganz woanders haben sollte.
"Ja, er wollte wissen, wie gut wir denn befreundet sind, warum wir keine Freundinnen haben und solche Sachen."
"Toll, gaaaanz toll. Und? Was hast du gesagt?"
"Nichts natürlich."
"Wie? Nichts? Irgendwas muß du doch geantwortet haben."
"Ja schon, aber da dran kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber ich glaube es war nichts Weltbewegendes."
"Na, das will ich hoffen." Ich fasse es nicht! Ich fasse es echt nicht! Ich hoffe, daß Nils sich das nur eingebildet hat, so von wegen mit dem Besoffen-Machen.
Flo war wie immer. Wenn er was aus Nils rausbekommen hat, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Er stand knutschend mit Ina auf dem Hof und war glücklich.
Dann kam Jonas. Plötzlich stand er vor uns. Ich glaube, Nils wäre am liebsten abgehauen. Aber er hat wohl gemerkt, daß das absolut bekloppt ausgesehen hätte. Also blieb er stehen und tappelte von einem Bein auf das andere.
"Hey, ich mache am Samstag eine Party. Kommt ihr?"
Noch während es in meinem Kopf ratterte 'Jonas macht eine Party? Wer kommt denn überhaupt zu einer Party, die Jonas macht?', hatte Nils schon geantwortet: "Sorry, nein, wir haben Wettkampf." Was natürlich absoluter Unsinn war, weil selbst Auswärtskämpfe nie ein Grund waren, nicht zu irgendeiner Party zu gehen. Aber es war natürlich klar, daß Nils garantiert nie zu einer Party von Jonas gehen würde.
"Außerdem haben wir Besuch, äh, habe ich Besuch", schob ich nach.
Nils blitzte mich mit zusammengekniffenen Augen an.
"Schade, dann vielleicht nächste Woche?"
"Da ist Weihnachten." Nils' Stimme war eiskalt unfreundlich.
Jonas nickte und taperte davon.
"Wieso warst du so unfreundlich zu ihm? Wir haben an dem Samstag keinen Wettkampf."
"Ja und? Hast du etwa Lust, auf eine Party von Jonas zu gehen, damit hinterher die ganze Schule Bescheid weiß?"
"Pfffff", machte ich.
"Und außerdem, was sollte das mit dem 'Wir kriegen Besuch'? Den Besuch kriegst DU doch wohl."
"Ja. Ist das jetzt doch ein Problem für dich, oder warum führst du dich so komisch auf?"
"Hängt er dann die ganze Zeit mit dir ab?"
"Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Er ist doch eigentlich in Stuttgart. Er will aber zum Training am Montag kommen."
"Hast du schon mit Mahmout darüber geredet, ob das ok ist?"
"Nein, meinst du, daß das ein Problem ist?" "Fragen mußt du ihn auf jeden Fall. Du kannst doch nicht einfach irgendwelche Auswärtigen mit zum Training anschleppen."
Mir lag auf der Zunge zu sagen, daß es ja nicht irgendein Auswärtiger ist, sondern Heiko, aber zum Glück schluckte ich das herunter.
"Wollt ihr zwei wieder irgendein Match machen?"
"Nein, sicher nicht. DIE Sache ist vorbei."
"Wer's glaubt. Wehe du verlierst auch nur einen Trainingskampf gegen ihn."
Ich guckte in den Himmel und zählte Wolken. Heiko und nicht Heiko. Gewinnen und nicht gewinnen. Ich schob die Gedanken beiseite, wollte mir keine Gedanken darüber machen.

Mahmout jedenfalls hat gesagt, daß es ok ist, wenn Heiko zum Training kommt. Er meint, wenn er in einem Verein ist, dann ist es ok, so von wegen Versicherung und so. Na also. Jaaaa..... und ich habe heute im Trainingskampf gegen Nils gewonnen!!! Ich weiß nicht, ob es da dran gelegen hat, daß ich so gut war oder er so schlecht. Naja, ich glaube es war wirklich, weil er noch so kopfmäßig bedröhnt war, daß er nichts auf die Reihe bekommen hat. Ich glaube, er hat sich ziemlich darüber geärgert. Nichts da mit stolz sein auf "seinen" Tim, daß der so gut ist.
Aber im Moment ist mir das egal. Ich will nicht darüber nachdenken müssen.

Sonntag, 14. Dezember 1997

14. Dezember

Wir kommen gerade von Tobias aus Heidelberg zurück. Er sieht aus wie eine halbe Leiche, keine Haare auf dem Kopf, blaß, total abgemagert. Ich habe echt den totalen Schreck bekommen. Nils und ich wußten gar nicht, was wir sagen sollten am Anfang, so geschockt waren wir. Zum Glück hat Tobias geredet. Irgendwie stimmte das alles nicht. Tobias war gut drauf, fast fröhlich, meinte, daß wohl alles weg ist und daß er zu Weihnachten nach Hause kann. Seine Stimmung und das was er sagte, paßte nicht zu dem, wie er aussah. Aber ich glaube, es war gut, daß wir da waren. Er hat sich total gefreut. Wir haben ihm natürlich den neuesten Gossip aus der Schule erzählt und er hat alles begierig wie ein Schwamm aufgesogen. Das muß wirklich total schrecklich sein, wenn man den ganzen Tag in so einem abgeriegelten Klinikzimmer verbringt und niemand sieht als vielleicht seine Mutter und die Schwestern und Ärzte und die anderen Patienten, denen es genauso beschissen geht. Fast die ganze Rückfahrt schwiegen wir. Und das lag bestimmt nicht da dran, daß Nils immer noch einen dicken Kopf von der Party hatte.

Shit, ich kriege dieses Bild gar nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde mich jetzt erst mal auf Mathe stürzen und hoffe, das lenkt mich ab. Natürlich wollen alle noch mal vor Weihnachten ihre Klausuren loswerden. Es ist immer das Gleiche.
"Ich sterbe. Ich trinke nie wieder irgendwas."
Wir standen an der Landstraße nach Degendorf und Nils kotzte sich die Seele aus dem Leib. Ich habe erst gar nicht mitbekommen, daß er so viel getrunken hatte. Erst als Flos Baileys-Vorrat zu Ende war und Nils durch die Gegend torkelte, schwante mir Schlimmes, aber da war es eh schon zu spät. Ich hatte mich ziemlich lange mit Ina unterhalten, so daß Flo schon ein bissele komisch geguckt hat. Aber unterhalten stimmt ja eigentlich gar nicht. Ich habe sie mehr die ganze Zeit total verarscht und sie hat es nicht gemerkt. Sie ist ja vielleicht ein liebes Mädel, aber totendoof, fummelte ständig an ihrem Tamagotchi rum und steht auf Backstreet Boys. So was ist ja vielleicht mit 10 noch ok, aber mit 16 oder 17? Ich frage mich echt, was Flo an ihr findet, wo er ja noch nicht mal mit ihr gepennt hat bisher. Aber was soll's, wenn ER auf sie steht und die beiden zusammen sind, ist es sowieso egal. Heterojungs sind eben manchmal richtig blöd. Aber ich muß echt aufpassen, nicht daß Flo glaubt, ich habe irgendein Interesse an ihr, weil ich da so lange mit ihr gequatscht habe. Aber ich kann ihm ja schlecht sagen, daß er sich keine Sorgen machen braucht.
So insgesamt war die Party ganz nett. So eine typische Flo-Party eben. Irgendwann bekam ich den totalen Lachanfall, ich weiß gar nicht mehr wieso, und dann fanden wir uns plötzlich alle in unserem neuen "N-Trance-Nananananaaaa-da-ya-think-I-m-sexy" Umzugsgegröhle wieder. Noch völlig angekichert taperten Nils und ich nach Hause, als er dann auf einmal sagte, daß er kotzen muß. Naja und da standen wir dann. Schon ziemlich strange. Daß er den ganzen Abend geraucht hat wie ein Bekloppter, regt mich schon gar nicht mehr auf. Das heißt, es regt mich natürlich schon auf, aber ich sage nichts mehr dazu. Ich KANN nichts mehr dazu sagen. Nachdem ich ihn halbwegs sicher zu Hause abgeliefert hatte, stand ich an unserer Kreuzung, schloß die Augen und sog die kalte Dezemberluft in mich hinein. Es ist seltsam: Wenn ich jetzt schreibe, daß ich mich immer mehr erwachsener fühle, dann liest sich das total komisch. Aber irgendwie stimmt das. Wenn da nicht diese neverending Sache mit Heiko wäre, dann würde ich wirklich sagen, daß es stimmt. Ach ich weiß auch nicht, wie ich das beschreiben soll.

Samstag, 13. Dezember 1997

13. Dezember

"Vielleicht gehe ich ja das nächste Jahr in die Männermannschaft."
"Naja, warum auch nicht."
"Und du?"
"Was und ich?"
"Was machst du nach der A-Jugend?"
"Was weiß ich denn, darüber mache ich mir doch jetzt noch keine Gedanken."
"Solltest du aber."
"Aber nicht heute."
Ich hatte wirklich andere Sachen im Kopf, als mir darüber Gedanken zu machen. Zum Beispiel wie ich gegen meinen Gegner ankommen sollte, der nicht nur einen Kopf größer als ich war, sondern auch viel mehr Muskeln hatte. Daß der überhaupt in meiner Gewichtsklasse war. Und natürlich habe ich auch verloren. Keine Chance. Das einzige, was noch halbwegs positiv ist, ist, daß es kein Schultersieg war. Selbst Nils meinte hinterher: "Kann man machen nix." Sehr schön, daß er so was auch endlich mal einsieht.
Habe Mom und Dad noch mal erzählt, daß ich am nächsten Wochenende Besuch kriege. Sie haben nur genickt. Irgendwie ist es ja ganz schön, daß sie mir vertrauen, daß ich keine Sturmfrei-Parties mache und die Bude auf den Kopf stelle. Also dann, Heiko kommt. Nächsten Freitag trudelt er ein und fährt am Montag Abend wieder zurück. Seltsame Sache. Hier wird er also in der nächsten Woche vor mir stehen. Wir werden reden, quatschen, aber wir werden nicht miteinander schlafen. Ich habe es Nils versprochen und ich werde es auch einhalten. Nicht, daß ich es nicht will. Ich würde sofort Sex mit ihm haben wollen. Aber es geht nicht und Ende. Fertig. Heiko will sogar am Montag einmal beim Training bei uns mitmachen. Er meint, man kann aus so was nur lernen, wenn man mal bei einem anderen Coach trainiert. In der Hinsicht ist er genauso abgedreht wie Nils.
Was er mir allerdings immer noch nicht richtig erzählt hat ist, WAS er eigentlich hier will oder in Stuttgart will. Es stimmt schon, es ist reichlich bekloppt, hier in Bergbach zu übernachten, wenn man in Stuttgart zu tun hat. Ich will ihn nicht fragen. Vielleicht habe ich Angst vor der Antwort. Ja, ich habe Angst vor der Antwort, die ehrlich sein könnte und in der ich nicht vorkomme.
Ich werde mich jetzt für Flos Party umziehen. Heute also werden wir Ina richtig kennenlernen. Mal sehen, wie das wird.

Freitag, 12. Dezember 1997

12. Dezember

Das war ja irgendwie ein total merkwürdiges Ding. Aber ich habe eine Menge erfahren. Diese Typen da, waren ja echt so, wie man sich die Leute von so einer Anti-Kriegsdienst-Ini vorstellt. So wie Tara aber eben als Typen. Echt schrill. Nein, schrill ist falsch. Naja, egal. Also sie meinen, ich soll erst mal gar nichts machen. Das heißt, sie haben eigentlich nicht gesagt, was ich machen soll, sondern sie haben so komisch dreimal um die Ecke geredet. So von Briefen, die nicht ankommen, von Terminen, die man verpaßt, weil man sich verfahren hat oder weil man verschlafen hat. Nils' Augen wurden immer größer, ich habe richtig gesehen, wie über seinem Kopf lauter Fragezeichen aufgestiegen sind. Aber ich finde das ziemlich cool. Obwohl, so hundertprozentig weiß ich noch immer nicht, was ich machen soll. Selbst wenn ich den ersten oder zweiten Termin zur Musterung verschlafe oder verpasse, ich meine, ich kann ja nicht untertauchen und von der Bildfläche verschwinden. Aber auf jeden Fall meinen sie, daß ich jetzt auf diesen Erfassungsbrief erst mal gar nichts machen muß. Und wenn dann der erste Brief mit Posturkunde eintrudelt, soll ich mich noch mal bei ihnen melden.
Nils seufzte als wir rauskamen: "Vielleicht kann ich ja zum THW gehen, dann muß ich nicht zum Bund."
"Tolle Alternative. Vielleicht wirst du ja auch Sportsoldat. Ein ringender Sportsoldat."
"Du bist albern. Ich weiß nicht, ob ich das so einfach packe mit dem Zivildienst, so wie du."
"Du hast das nicht richtig verstanden. Ich will weder Kriegs- noch Zivildienst machen."
"Wollen will ich auch nicht. Aber dann kommst du in den Knast. Hast du nicht zugehört?"
"Ich habe zugehört. Und ich habe, glaube ich, auch verstanden, daß es auch ohne Knast geht."
"Pfff...laß uns das Thema wechseln, bitte. Ich krieg echt Angst. Nachher darf ich dir noch einen Kuchen mit einer Feile drin backen."
"Du kannst nicht backen."
"Wann holt uns Philipp ab?"
"Wann wir ihn sozusagen abrufen. Er hat Dads Handy und treibt sich in irgendwelchen Ausstellungen rum."
"Am Freitag Abend?"
"Was weiß ich denn. Also, was ist jetzt mit einem von MEINEN Cafés?"
Es war ein schöner Abend. Erst schütteten wir schrecklich bunte Cocktails in uns hinein, dann erstanden wir tatsächlich bei Lindemanns ein Back-Kochbuch für fünf Mark im Sonderangebot. Wir kicherten verblödet auf der gesamten Rückfahrt, weil wir uns vorstellten, wie man wohl eine Feile in diese lecker süßen Torten einbäckt.

Verrückt das alles. Ich habe jetzt fest beschlossen nicht zum Bund zu gehen. Und ich will auch keinen Zivildienst machen. Was ich mache, werde ich dann sehen.

Ich gucke auf den Kalender. Shit, es ist schon der 12. Dezember. Heute ist Freitag, Freitag der Zwölfte. Eine Woche noch. Genau eine Woche.
"Briederchen will nach Stuttgart und Cheidelberg. Briederchen sollte sehen, daß er macht schnell Fahrerlaubnis für Auto."
"Ohne Führerschein kann ich fahren, aber nicht ohne Auto."
"Sonst geht's dir noch gut, was?" "Das war ein Joke."
"Wann wollt ihr denn fahren?"
"Ich denke mal, am Sonntag ist nicht schlecht. An einem anderen Tag geht es sowieso nicht, wegen Schule und Training."
"Ach ja, Training. Aber Heidelberg ist eh nicht schlecht. Da kann ich mir die Stadt mal anschauen, so von wegen Studium."
"Wieso? Ich dachte du willst in Stuttgart studieren?"
"Ja, auch. Nein, aber vielleicht ist ja Heidelberg schöner."
"Schöner? Aha."
"Und heute Nachmittag wollt ihr nach Stuttgart zu dieser ominösen Anti-Kriegsdienst-Ini?"
"Jaaaa. So was hätte dir vielleicht auch ganz gut getan. Dann wärst du nicht vom Laster gefallen und hättest dir den Arm zertrümmern lassen."
"Haben wir gelacht."
"Stundenlang."
"Um drei?"
"Wie? Du willst uns wirklich hinfahren?"
"Wenn du noch mal fragst, dann sage ich gleich nein."
Phil, Phil, Phil. Er ist irgendwie richtig cool.

Donnerstag, 11. Dezember 1997

11. Dezember

"Er ist immer noch in der Klinik, in Heidelberg. Ich kann aber nicht die ganze Zeit bei ihm bleiben. Ich habe keinen Urlaub mehr. Ich hoffe ja, daß er wenigstens zu Weihnachten rauskommt."
Ich hatte bei Tobias zu Hause angerufen aber nur seine Mutter erwischt. Shit. Dann ist er immer noch in der Klinik in Heidelberg. Irgendwie glaube ich, müßte ich ihn mal besuchen. Das ist nur so verdammt weit weg. Ich frage mal Nils, vielleicht können wir ja am Sonntag oder so hinfahren.

Jonas hat mir eine Adresse von einem Beratungsbüro in Stuttgart mitgebracht.
"Wir haben ja bis jetzt nicht viel Zeit gehabt, miteinander zu reden."
"Ja, stimmt."
"Den Freitag gut verdaut?"
"Na klar, was denkst du denn? So was haut mich nicht so schnell um."
"Du hattest aber ganz schön einen im Tee."
"Und du nicht?"
"Na ich konnte wenigstens noch mit dem Auto fahren."
"Das glaubst du. Wenn dich die Bullen erwischt hätten, dann wär's das gewesen mit dem Führerschein."
"Was soll's. Die kontrollieren sowieso nur samstags."
"Hast du deinem Freund von Freitag erzählt?"
Das klang so merkwürdig, wenn er 'dein Freund' sagte: "Mein Freund heißt Nils, also bitte. Ja natürlich habe ich ihm davon erzählt."
"Ich glaube, er hat was gegen mich. Er guckt mich so finster an."
"Wieso sollte er was gegen dich haben?"
"Keine Ahnung. Vielleicht ist er ja eifersüchtig."
"Eifersüchtig? Auf was denn. Quark, das bildest du dir nur ein."
"Vielleicht. Da kommt er übrigens. Ich glaub ich werde mich mal verdrücken."
Jonas verschwand. Auftritt Nils: "Was wollte er denn?"
"Nichts, wir haben uns nur kurz unterhalten. Über letzten Freitag. Und er wollte wissen, ob du was gegen ihn hast."
"Ob ich was gegen ihn habe?"
"Er meint, du guckst ihn immer so böse an."
"Soll ich ihn die ganze Zeit angrinsen?"
"Er hat mir eine Adresse von einer Anti-Wehrdienst-Ini in Stuttgart gegeben. Ich fahre da morgen mal hin und höre mal, was die so zu sagen haben."
"Na toll."
"Was, na toll?"
"Schon mal wieder den ganzen Tag verplant."
"Hey, ich dachte, du kommst mit? Das ist doch für dich genauso wichtig."
"Also nicht nur den Tag verplant, sondern mich auch noch."
Ich guckte ihn an. In diesem Moment war ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal so richtig sauer auf ihn. Ich meine, geärgert habe ich mich oft über ihn. Aber in diesem Moment war ich nur noch sauer und wütend, so daß ich ihm am liebsten eine runtergehauen hätte. Was bildet er sich eigentlich ein? Was zickt er so rum? Wenn ich ihm schon keine runterhauen konnte und wollte, so hätte ich ihn einfach stehenlassen können. Aber selbst das konnte ich nicht. Statt dessen schaute ich ihn nur an. Ich schaute ihn an und auf einmal tat er mir leid. Ich weiß auch nicht wieso. Ich weiß nicht, wie lange wir da so standen. Plötzlich sagte er: "Es tut mir leid. Ich weiß, daß ich manchmal ein Arsch bin."
Ich konnte nicht mehr böse auf ihn sein. Ich wollte auch nicht mehr böse auf ihn sein.
"Kommst du mit?"
Er nickte: "Vielleicht gehen wir ja hinterher in eines deiner tollen schwulen Cafés?"
"In eines meiner Cafés?" Ich mußte lachen. Es ist schön, daß wir aus solchen Sachen wieder so heraus kommen.
"Sag mal, wenn wir schon bei durch die Gegend fahren sind. Tobias und Heidelberg."
"Ist der immer noch da?"
"Ja, ich habe heute früh mit seiner Mutter telefoniert."
"Du meinst, wir sollten ihn mal besuchen?"
"Wäre ja vielleicht ganz nett, oder? Das ist bloß elendig weit weg. Bestimmt 200 Kilometer oder so."
"Pff. Hast du mal nach den Zügen geschaut?"
"Nein, bis jetzt noch nicht. Ich wollte erst mal hören, was du dazu sagst."
Na das paßte ja. Nils muß sich ja irgendwie verarscht vorkommen.
"Geht ja eigentlich nur irgendein Sonntag, oder?"
"Ich denke auch. Was anderes geht eh nicht, mit dem Zug dauert das bestimmt drei Stunden."
"Ok, du erkundigst dich nach dem Zug und ich komme mit. Ok?"
"Super Arbeitsteilung. Wenn wir Doris mitnehmen dann können wir ja schon fast als Kleinfamilie fahren."

Mittwoch, 10. Dezember 1997

10. Dezember

"Meine Güte, davon geht doch nun die Welt nicht unter."
"Ich habe eben schlechte Laune. Dieser ganze Bundeswehr-Scheiß ist doch nur zum Kotzen."
"Tim nun komm doch mal runter. Das ist doch nur die Erfassung. Mehr nicht. Warte doch erst mal, bis die Musterung kommt."
Ich schwieg. Was konnte ich auch machen. Anscheinend versteht mich keiner. Doris konnte mir auch nicht weiterhelfen. Sie meint, sie kennt auch niemanden, der Ahnung von dieser ganzen Sache hat. Sie fand es irgendwie merkwürdig, daß ich sie gefragt habe. Aber ich dachte, wenn jemand vielleicht Bescheid weiß, dann doch bestimmt die. Aber naja, sie ist eben nur ein Mädel, wie soll sie davon Ahnung haben.

Ich habe sogar mit Jonas darüber gesprochen. Wir sind uns zufällig im Glaskasten über den Weg gelaufen. Er wollte wissen, warum ich so ein grummeliges Gesicht mache. Er hat erzählt, daß er schon einen Zivildienstplatz für nach dem Abi bei der Lebenshilfe bei mir um die Ecke hat. Wenigstens meint er, daß er noch irgendwo eine Adresse von einer Beratungsstelle hat.

Wenn ich schlechte Laune habe, ringe ich besser. Das klingt seltsam, aber es ist wirklich so. Das muß wohl mit meinen Aggressionen zusammenhängen.

"Du bist launisch", meinte Nils auf dem Heimweg.
"Vielleicht. Ich kann es nicht ändern. Was soll ich denn machen? Keiner versteht mich."
"Du tust ja gerade so, als wenn du einzigste Mensch auf der Welt bist..."
"Der einzige, der einzige Mensch auf der Welt, würde Flo sagen."
Nils mußte kichern: "Du bist unmöglich. Unmöglich und verrückt."
Während des Trainings hatte sich eine leichte Schneedecke über Bergbach gelegt. Alles klang nur noch gedämpft und leise. Nils kramte in seien Taschen, holte eine Zigarette hervor.
"Was soll denn das? Muß das sein?"
"Hey, ich hab das im Griff! Ok?"
"Im Griff. Was SOLL denn das? Nils, warum fängst du plötzlich an zu rauchen? Wieso? Was steckt dahinter?"
"Nichts. Was soll denn dahinter stecken?"
Ich bin merkwürdig hilflos. Mir fällt nichts ein. Keine Argumente. Keine Frage. Ich stehe nur da, sehe wie Nils raucht und finde es nur so daneben. Der Abschiedskuß schmeckt schrecklich.
Ich glaube, ich rufe Doris an.

"Dann sag ihm, daß du das scheiße findest."
"Was meinst du, was ich gemacht habe. Aber er meint, ich soll mich nicht so affig haben."
"Warum glaubst du, raucht er plötzlich?"
"Ich weiß es nicht. Ich weiß es echt nicht. Keine Ahnung. Vielleicht will er mich ärgern, mir irgendwas beweisen. Ich habe echt keine Peilung."
"Vielleicht geht es ja vorbei. Du, ich muß, Lena weint."
Doris ist mir auch keine große Hilfe. Ich glaube, ich höre noch ein bißchen Musik und gehe schlafen.

Dienstag, 9. Dezember 1997

9. Dezember

"Post für dich. Liegt auf der Kommode im Flur."
Ich kam gerade vom Krafttraining und war frustriert, weil ich schon so lange keine Fortschritte mit den Gewichten gemacht hatte. Und so war ich mit dem Kopf ganz woanders, als ich den Brief aufriß. Erst als ich zum zweiten Mal gelesen hatte, was da stand, hatte ich kapiert, das es jetzt losgeht. Es war ein Brief vom Meldebehörde. Die Erfassung. Die Erfassung für die Bundeswehr, für den Wehrdienst, für was weiß ich. Ich ging nach unten und legte den Brief wortlos auf den Tisch.
"Willst du etwa auch zur Bundeswehr gehen?" fragte Dad.
"Nie, kommt überhaupt nicht in Frage."
"Na dann schreibst du denen eben, daß du verweigerst und fertig."
"Ich glaube, so einfach ist das auch nicht. Ich glaube, hier drauf kann ich noch gar nicht verweigern. Das ist ja erst so eine Art Datenerfassung."
"Und jetzt?"
"Keine Ahnung. Ich glaube, ich frage erst mal nach, was ich jetzt machen muß."
"Ich will nicht, daß sich mein zweiter Sohn auch noch alle Knochen bricht, oder daß da wer weiß was passiert."
"Jeez, nein. Ich gehe nicht zum Bund. Ganz bestimmt nicht. Ich laß mir doch keine Gehirnwäsche verpassen. Und wenn ich so richtig nachdenke, dann werde ich glaube ich auch keinen Zivildienst machen."
"Das wird ja nun nicht gehen. Du mußt Zivildienst machen, wenn du nicht zum Bund gehst."
"Na, mal sehen."
Toll, meine Stimmung ist wieder mal auf dem Nullpunkt. Nicht daß mir das nicht klar gewesen ist, daß das irgendwann kommt. Aber jetzt, wo es wirklich da ist, geht es mir trotzdem scheiße. Also mir ist klar, daß ich auf jeden Fall nicht zum Bund gehe. Aber Zivildienst will ich auch nicht machen. Das Ganze ist doch eine einzige große Verarsche. Da klaut mir der Staat so einfach mal ein Jahr von meinem Leben und will mich in die Sklaverei schicken. Irgendwas muß ich mir überlegen. Vielleicht gehe ich ja wirklich nach London oder so. Shit, ich muß unbedingt jemanden fragen, der davon Ahnung hat. Ich glaube, ich rufe mal Robert an, der weiß bestimmt Bescheid.

Toll, Robert war sauer, weil ich mich so lange nicht mehr angerufen habe. Super. So richtig weiterhelfen konnte er mir aber auch nicht. Er hat Zivildienst gemacht und das ging ganz leicht mit der Anerkennung.

Habe gerade noch mal Nils angerufen und ihm von dem Brief erzählt. Er meint, er weiß auch noch gar nicht, was er macht, wenn er zum Bund muß. Er meint aber, daß er ganz bestimmt keinen Zivildienst machen will. Na toll, ich befürchte ja fast, daß er dann zum Bund geht.

Montag, 8. Dezember 1997

8. Dezember

"Und? Wie findest du sie?"
"Keine Ahnung, ich habe sie doch nur kurz gesehen."
Nils, Flo und ich saßen nach dem Training beim Chinamann und Flo wollte wissen, wie ich Ina finde. Ich hätte ja beinahe so etwas wie 'Ist halt irgend so ein Mädel' gesagt, aber ich schaffte es noch, mir rechtzeitig auf die Zunge zu beißen.
"Ich nehme mal an, dir geht's gut?"
"Gut, gut, gut, guuuut!"
Ich grinste. Nils grinste. Flo ist verknallt. Richtig dolle. Irgendwie schön.
"Ist sie gut im Bett?"
So komisch wie das jetzt klingt, aber mir fiel wirklich der Löffel aus der Hand. Wenn Nils nur etwas näher gesessen hätte, hätte er einen tierischen Tritt vor sein Schienbein von mir bekommen.
Aber Flo blieb ganz ruhig: "Wir haben noch nicht zusammen geschlafen. Sie will noch nicht."
Jetzt wurde ich auch übermütig: "Das alte Lied: 'Ich bin noch nicht so weit, laß uns doch erst noch ein wenig besser kennenlernen. Ich brauche noch etwas Zeit.'" Das hatte ich mal irgendwo gelesen.
Flo lächelte etwas gequält: "Scheinst das ja schon zu kennen."
Ich zuckte nur mit den Schultern. Auf einmal war ich der mädelkennende, erfahrene Hetero. Einfach so, ohne daß ich es da drauf angelegt hatte. Der Rest der Veranstaltung war ausgefüllt mit Flos Schwärmereien für Ina, was am Anfang noch ganz lustig war aber nach einer Weile tierisch abnervte. Jedenfalls macht er am Samstag wieder mal eine Party, wo Ina kommt und wir auch eingeladen sind. Dann werden wir sie also besichtigen und aufpassen müssen, was wir sagen.

"Was sollte denn das mit dem 'Ist sie gut im Bett?' vorhin?"
"Hat mich halt interessiert. Oder es war taktisch geschickt. Such dir was aus."
"DAS interessiert dich, ob Flos neues Mädel gut im Bett ist? Und taktisch geschickt? Na ich weiß nicht, ich fand das einfach irgendwie geschmacklos."
"Sei nicht so spießig."
"Ich bin nicht spießig! Ich bin alles, aber nicht spießig!" Ich schrie richtig.
"Komisch, du darfst frech und vorlaut sein. Und wenn ich mal ein bißchen prollig bin, rastest du gleich aus."
Ich gab auf. Ich wollte mich nicht schon wieder mit Nils streiten. Und so ein bissel hat er recht. Ich meine, diese Frage hätte ja wirklich auch irgendwie von mir kommen können. Na jedenfalls hat Flo jetzt seine Ina und die Welt ist wieder in Ordnung.

Jonas habe ich heute nur kurz gesehen auf dem Gang. Ich hätte auch nicht richtig gewußt, wie ich reagieren soll, wenn wir uns direkt gegenüber stehen. Schon blöde. Ich kann doch jetzt nicht so tun, als würde ich ihn nicht mehr kennen.

Sonntag, 7. Dezember 1997

7. Dezember

"Na und, was ist denn schon dabei?"
"Was dabei ist? Du hast noch nie geraucht."
Nils stand vor der Halle und rauchte eine Zigarette.
"Wieso rauchst du überhaupt. Ich meine, seit wann, und wieso?"
"Meine Güte, Tim, nun mach doch nicht so einen Aufstand, wenn ich mal EINE Zigarette rauche."
Ich fand das total daneben. Aber auf der anderen Seite wollte ich mich auch nicht so sehr aufregen. Vielleicht sehe ich das ja wirklich so eng. Aber es ist schon reichlich strange. Aber wenn ich so einen Terz mache, stehe ich wieder als der Doofie da.
"Und, wo warst DU gestern Abend?" Nils zog an seiner Zigarette, was total affig aussah.
"Wie kommst du da drauf, daß ich weg war?"
"Weil ich dich kenne, kleiner Tim", er drehte sich zu mir, sein Atem roch nach Rauch. "Wenn du weggehen willst, gehst du weg. Egal, ob ich da bin, mitkomme oder nicht. Du machst eben was DU willst." Da war kein Vorwurf in seiner Stimme. Es klang einfach wie eine nicht veränderbare Tatsache.
"Ich war in der Alten Schmiede und hinterher noch in der Tofa."
Schweigen. Bestimmt fünf Minuten lang. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht von mir heraus mehr erzählte. Ich weiß es nicht.
"Alleine?"
"Nein."
"Muß ich dir jetzt jeden Buchstaben einzeln aus der Nase ziehen?"
"Verdammt noch mal, warum warst DU nicht da gestern Abend. Ich wollte mit DIR weggehen. Ich wollte mit DIR zusammen sein."
"Also? Mit wem warst du weg? Warum machst du denn so ein Geheimnis da draus?"
"Es ist kein Geheimnis. Ich war mit Jonas da."
"Warum mit ihm?"
Diese Frage fand ich nun total überraschend. Es dauerte einen Augenblick, bevor ich antworten konnte.
"Warum nicht mit ihm? Ich meine, nur weil er schwul ist... Es ist nichts gewesen, echt nicht. Wir haben einfach nur gequatscht und ich habe wie bekloppt in der Tofa getanzt. Ich habe sogar noch Flo mit seinem neuen Mädel getroffen."
"Also hat Flo dich zusammen mit Jonas gesehen?"
"Ja doch, aber verdammt noch mal, das heißt doch noch lange nicht, daß nur weil ich mit einem Schwulen zusammen in der Tofa bin, jeder gleich von mir denkt, von UNS denkt, das ich, daß WIR beide schwul sind."
Nils schwieg, zündete sich noch eine Zigarette an.
"Nils verdammt noch mal. Hör doch endlich mal auf mit deinem Verfolgungswahn. Denkst du denn, ich mache mir keine Gedanken? Denkst du denn, ich würde das toll finden, wenn alle Leute um uns herum wissen, daß ich, daß WIR schwul sind? Aber ich kriege ja echt noch Paras, wenn ich jedes Wort, jedes Gespräch auf dreimal rumdrehe. Mit wem darf ich reden, mit wem nicht mehr. Von wem könnte man denken, wenn ich mich mit dem unterhalte, daß ich schwul bin?"
Ich merkte, wie die Kälte in mir aufstieg. Die Kälte und die Müdigkeit. Zu wenig Schlaf, der Wettkampf, zu viele Gedanken. Ich nahm ihn einfach in den Armen, drückte ihn an mich. Es war mir egal, wie sehr er nach Rauch stank, es war mir egal, ob jemand aus der Halle herauskommen könnte.
"Ich bin doch bei dir, ich bin immer bei dir und wir werden immer zusammen sein."
"Ich weiß", flüsterte er in mein Ohr, "und dafür liebe ich dich."
Er schob seine Hand unter mein Kapuzenshirt, kalte Finger auf meiner Brust. Es dauert eine Ewigkeit, bis sie warm sind. Von weitem sehe ich Scheinwerfer auf die Halle zukommen. Ich erkenne unseren BMW. Wir holen unsere Klamotten. Im Wagen ist es mollig warm.
"Und? Habt ihr heute mal wieder gewonnen?", will Dad wissen.
"Ja, haushoch und Tim hat sogar einen Schultersieg gemacht."
"Respekt." Ich bezweifele, daß Dad den Unterschied zwischen Schulter- und Punktsieg kennt, aber das ist auch egal. Die Schäbische Alb zieht am Fenster vorbei. "Tim hat gewonnen", murmelte Nils, ganz dicht an meinem Ohr. Das Autoradio summte leise vor sich hin. Ich spüre die Müdigkeit in mir aufsteigen. Mir fallen die Augen zu. Nils' drückt sein Knie gegen meines. Ich spüre seinen Atem an meinem Hals, seine Hand in meiner, versteckt und trotzdem da. Wir fahren und könnten so um die halbe Welt fahren.