Dienstag, 31. Dezember 1996

31. Dezember

"Tim, träumst du schon wieder?"
Ich saß am Frühstückstisch und guckte hinaus in den Garten. Was hatte ich getan? Ich habe gestern Abend meinem besten Kumpel erzählt, daß ich schwul bin. Einfach so, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Bin ich eigentlich völlig bekloppt? Nein, es war gut so. Und ich wundere mich immer noch darüber, wie easy die ganze Sache war. Was wäre, wenn Tassi es jemandem anderes erzählt? Ja und, wem soll er es erzählen? Und wenn schon. Scheiße noch mal, es ist ok so wie es ist. Ich blicke zu Mom: "Sorry, ich war eben mit den Gedanken woanders."
"Das habe ich gemerkt. Gehst du heute Abend weg?"
"Ja, zu einer Party von Dommes."
"Na dann wird es ja wieder mal ein Sylvester im trauten Familienkreise."
Ich tat, als hätte ich den vorwurfsvollen Ton in ihrer Stimme überhört.

Den Tag über halfen Phil und ich Oma beim Aufräumen vom Keller. Es ist schon erstaunlich, was sie alles für Krempel angesammelt hat. "In der ersten Woche im neuen Jahr kommt die Sperrmüllabfuhr. Ich muß ja langsam zusehen, daß ich meine Sachen in Ordnung bringe."
"Oma, bitte, du wirst bestimmt 100 Jahre alt." Sie lachte. Ich wollte dieses "Sachen in Ordnung bringen" nicht hören. Das hatte wirklich so dieses Vorbereiten auf den Tod. Und das kann, das will ich mir nicht vorstellen.

Dann habe ich am Nachmittag noch etwas gepennt und jetzt mache ich mich fertig für die Party. Ich freue mich schon echt drauf, weil es bestimmt total lustig wird.

Montag, 30. Dezember 1996

30. Dezember

"Du bist WAS?"
Tassi starrte mich an, als hätte er einen Geist gesehen. Ich hatte den Mut gefunden. Wir saßen im Fliegenpilz und hatten die vierte Runde Flens hinter uns.
"Ich bin schwul", wiederholte ich trocken.
Er schüttelte den Kopf: "Das glaube ich nicht. Du bist vielleicht höchstens bi, aber doch nicht schwul." Ich mußte lachen, mit DER Reaktion hatte ich nicht gerechnet: "Wie kommst du denn da drauf, daß ich bi sein könnte?"
"Na da war doch diese Sache mit Gabi."
"Pfff, das war nun überhaupt nichts."
Tassi schüttelte wieder den Kopf: "Wie hast du denn das gemerkt, ich meine, woran merkt man denn so was?"
"Das merkst du einfach. Wenn du nur noch anderen Jungs hinterherguckst, wenn du an nichts anderes mehr denken kannst als an Jungs, dann wird dir eines Tages klar, daß du schwul bist."
"Mir wird das garantiert nicht passieren", protestierte er.
"Schon klar, daß du nicht schwul bist."
"Aha, also bist du nicht in mich verknallt."
Ich prustete los: "Nein, ganz bestimmt nicht!" Auf diese Idee wäre ich nie im Leben gekommen. Ich kenne Tassi schon seit dem Kindergarten. Aber verknallt war ich nie in ihn. Er war immer einfach nur ein guter, mein bester Kumpel gewesen. Meine prompte und bestimmte Antwort schien ihn aber dann doch etwas zu treffen: "Wie, wirklich nicht?"
"Nein!" versicherte ich ihm. Ich weiß wirklich nicht, ob ihn das beruhigte oder beleidigte.
"Und wie ist das? Ich meine, was sagen deine Eltern dazu?"
"Sie wissen es nicht. Du bist fast der Erste, dem ich es erzähle."
"Fast?"
"Es gibt ein Mädchen in Bergbach, der ich es erzählt habe. Und naja, meinen Freund."
"Oh, du hast einen Freund? Einen schwulen Freund?" Er erschreckte vor sich selber, weil er den letzten Satz so laut ausgerufen hatte, daß die Mädchen vom Nachbartisch zu uns rüberguckten.
"Yo, einen ganz lieben Freund", seufzte ich. Ich merkte wie irritiert er war. "Aber das ist ein ganz anderes Thema."
"Warum erzählst du mir das eigentlich?"
"Ich denke, es ist an der Zeit, daß ich anfange, ehrlich zu den Leuten zu sein." Das klang unheimlich erwachsen und ich wußte, daß ich es gar nicht so ehrlich meinte. Tassi nickte und grinste: "Na dann nimmst du mir wenigstens nicht die Mädels morgen weg."
"Nee, ganz bestimmt nicht. Hauptsache es kommen genug niedliche Jungs."
"Du hast doch gesagt, daß du einen Freund hast."
"Ja." seufzte ich und mußte wieder an Nils denken.

Wir blödelten noch ein bißchen herum und taperten dann los. Wenn ich mir das jetzt überlege, war es überhaupt nicht schlimm. Ok, ich gebe zu, daß ich wirklich nichts zu verlieren hatte. Außerdem kenne ich Tassi nun schon. Trotzdem bin ich irgendwie erleichtert, daß er es so locker aufgenommen hat.

Sonntag, 29. Dezember 1996

29. Dezember

"Ok, ich hau ab."
Es war halb sechs Uhr früh und Phil turtelte immer noch mit dieser komischen Blondine rum. Ich kam mir reichlich überflüssig vor und so setzte ich mich ab. Es wurde langsam hell. Eigentlich hasse ich es, aus einem Laden zu kommen, wenn es hell wird. Es ist, als wenn ich ein Stück meines Lebens versäumt habe. Ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll. Jedenfalls bin ich auf die verrückte Idee gekommen, den ganzen Weg vom Grünspan bis zur Elbchaussee zu laufen. Es war kalt und es begann sogar ein wenig zu schneien. Aber ich genoß die Luft und es gab sogar so früh am Morgen ein bißchen Einsamkeit. Ich hatte Zeit zum Nachdenken. Und mir gingen so viele Sache durch den Kopf. Natürlich zuallererst Nils. Was er wohl machte? Was er wohl genau in diesem Augenblick machte? Ich stellte mir vor, wie er schlafend im Bett liegt. Nils mein Nils. Ich sehne mich so nach dir. Und noch eine andere Sache kommt mir immer wieder in den Kopf. Ich fange an, Satz für Satz ein Gespräch mit Tassi durchzuspielen, wo ich ihm sage, daß ich schwul bin. Es ist, als wenn ich tatsächlich im Kopf so was wie ein Theaterstück schreibe. Jeden Satz, jede Reaktion spiele ich durch. Ich habe auf jede Frage eine Antwort, auf jedes Argument, was er bringen könnte eine Erklärung. Gerade als ich die Auffahrt hochkomme fällt der Vorhang. Ein seltsames Stück mit zig verschiedenen Verläufen. Selten waren Dinge in meinem Kopf so klar. Ich war so sehr mit den ganzen Sachen beschäftigt, daß ich völlig gedankenverloren an Oma vorbeilief. "Junge, wo kommst du denn her? Du bist ja ganz rot im Gesicht." Ich schreckte auf. Ich erklärte ihr, daß ich einen etwas längeren Spaziergang gemacht hätte und sie schüttelte den Kopf: "Na dann schnell ab mit dir in die heiße Wanne, bevor du dir noch den Tod holst." Doch mir war nicht kalt. Dieser lange Spaziergang hatte meine Gedanken wieder klar gemacht.

Samstag, 28. Dezember 1996

28. Dezember

"Huhh, was machst DU denn hier?"
Ich war gerade im schönsten Wühlen im Streetz als mich ein Mädel von hinten anquatschte. Es war Julia aus meiner alten Klasse. Ich hätte sie gar nicht erkannt, weil sie total gruftimäßig drauf war und ihre Haare schwarz gefärbt hatte. Aber dafür hatte sie mich ja erkannt. Wir quatschten ein bißchen, wobei ich es eigentlich eher war, der redete, weil sie alle möglichen Sachen wissen wollte, wie es mir denn in Bergbach gehen würde usw. Naja, es war ganz witzig. Wir waren hinterher sogar noch ein Eis (YEAH, im Dezember!) essen. Ich merke, wie mir die Hamburger Atmospähre gefehlt hat. Jedenfalls habe ich mir ein paar Klamotten von einem Teil meines Weihnachtsgeldes gekauft.

Jetzt ruft Phil von unten. Wir wollen heute ins Grünspan gehen. Ok, das ist eigentlich nicht so mein Laden, aber nachdem ich Tassi nicht mehr erreicht habe, denke ich, daß ich mir ruhig auch mal das Grünspan wieder reinziehen kann.

Freitag, 27. Dezember 1996

27. Dezember

"Eigentlich bist du zu beneiden."
"Ich? Wieso?"
"Na du bist weg von diesem Scheiß hier, weg vom GySue mit all den beknackten Leuten, weg aus Neugraben mit den ganzen Nazi-Spießern."
"Glaubst du etwa, daß das in Bergbach, in Schwaben anders ist?!"
Tassi zuckte mit den Schultern und warf mir noch ein Flens rüber. Unser altes Spiel mit dem Flens-Gummiringe-Sammeln galt immer noch. Ich war kurz davor, ES ihm zu sagen. Aber trotz diverser Flens habe ich es dann doch nicht gepackt. Eigentlich wäre es ja genau die richtige Situation gewesen, aber was soll's. Jedenfalls kenne ich jetzt den letzten Klatsch und Tratsch von der Schule aber es läßt mich merkwürdig kalt. Auf jeden Fall habe ich eine Einladung für die Sylvester-Party von Dommes gekriegt, was bestimmt ganz witzig ist.

Auf der Rückfahrt muß ich echt den Schutzengel gehabt haben. Ich hatte noch überlegt, ob ich ein Ticket ziehe oder nicht. Naja und ganz der gut erzogene Junge wie ich bin, habe ich es natürlich gemacht. Yeah und prompt gab es eine Kontrolle. Ich muß also so etwas wie den siebenten Sinn haben, oder den sechsten.

Donnerstag, 26. Dezember 1996

26. Dezember

"Weißt du denn schon, was du nach dem Abitur studieren willst?"
Ich schüttele den Kopf. Heute war sozusagen die zweite Reihe der Family dran. Onkel Eike und Co. Naja, wieder dieses klassische Gelaber. Langsam habe ich von der Festtagsstimmung genug.

Wenigstens treffe ich mich morgen mit Tassi. Das wird bestimmt ganz lustig und ich freue mich schon darauf. Aber es ist auch seltsam, inzwischen scheint er mir merkwürdig weit weg zu sein. Und dann bin ich gleichzeitig noch auf eine andere Idee gekommen. Was wäre eigentlich, wenn ich Tassi erzählen würde, was mit mir los ist? Ich meine, daß ich schwul bin? (Es ist immer noch seltsam, dieses Wort einfach so hinzuschreiben.) Was sollte mir eigentlich passieren? Wenn ich es mir recht überlege gar nichts. Wenn er wirklich ausrastet, ok, das wäre natürlich Scheiße, aber ich sehe ihn eh so gut wie nie und was die Leute aus der Clique und vom GySue inzwischen denken, ist mir eigentlich auch fast egal. Je länger ich über diese Idee nachdenke, desto aufgeregter bin ich.

Mittwoch, 25. Dezember 1996

25. Dezember

"Schön, daß wir endlich einmal wieder alle zusammen sind."
Man sieht es Mom richtig an, wie zufrieden sie ist. Am Vormittag gab es den üblichen Alsterspaziergang. Phil und ich grinsten uns an, aber wir machten letztlich doch mit. Phil meint, daß mir im letzten halben Jahr mein hanseatischer Gang abhanden gekommen wäre. Ich versuche verzweifelt aus ihm herauszubekommen, was zum Teufel er denn damit meint, aber er schweigt und grinst. Dann Lunch oder was auch immer bei Scherrer. Nicken links, Nicken rechts. Man kennt sich, oder besser, Mom und Dad kennen die Leute. Ich kenne sowieso keinen.

Am Abend bin ich runter zur Elbe gegangen. Doch es ist zu kalt und zu ungemütlich, um lange zu bleiben. Selbst die letzten Schwäne schütteln sich. Ich ziehe den frischen Wind in meine Nase. Wie schön wäre es, wenn Nils hier wäre. Hier könnten wir zusammen Hand in Hand spazieren gehen. Hier bräuchten wir keine Angst haben, daß uns jemand erkennt. Und wenn, es wäre egal, weil keiner von uns (mehr) hier lebt. Und ich könnte Nils alles zeigen, alles von Hamburg, überall wo ein Stück von mir ist.

Dienstag, 24. Dezember 1996

24. Dezember

"Möchte noch jemand etwas essen?"
Alle lehnen dankend ab. Daß bei solchen Familienfesten immer so massiv gefuttert wird. Ich weiß auch nicht. Aber mir selbst geht es ja auch nicht anders, ich schlage mir ja auch den Bauch voll. Weihnachten pur. Verdammt, eigentlich mag ich diese ganze Gefühlskiste nicht; aber es erwischt mich dann doch immer irgendwie und dann fühle ich mich richtig festlich. Oma und Mom hatten den ganzen Nachmittag damit zugebracht, jede Menge Kerzen zu verteilen. Alles schimmerte in einem goldenen Licht. Ich meine, da muß man ja in Feststimmung kommen. Nach der allgemeinen Bescherung ("Ach, du sollst doch nicht immer so aufwenige Sachen...", "Nächstes Mal schenken wir uns aber nur was ganz Kleines...") sind wir tatsächlich alle noch zum Mitternachtsgottesdienst in die St. Petri Kirche getapert. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal überhaupt in einer Kirche war. Wahrscheinlich am Tag meiner Konfirmation. Aber auch hier war wieder diese totale Feststimmung. Der Pfarrer sagte irgendwas von "Beten wir für die, die heute nicht bei uns sein können", naja und da fiel mir natürlich wieder sofort Nils ein. Meine Güte, wird man tatsächlich so sentimental, wenn man verliebt ist? Ich weiß es nicht.

Montag, 23. Dezember 1996

23. Dezember

Auf Wiedersehen Haus!" Lisa winkt und wir lassen Bergbach hinter uns und sind auf dem Weg nach Hamburg. Mit im Gepäck der kleine Eisbär von Nils. Das Gefühl, daß ich meinen Schatz die nächsten zwei Wochen nicht sehen werde, tut weh. Kaum sind wir auf der Autobahn möchte ich am liebsten laut "Stop" schreien und zurück. Doch ich weiß, daß das Unsinn wäre. Sicherlich steht er jetzt schon auf irgend einem Schneehang und rast in die Tiefe. Ich finde Skifahren wirklich das Letzte, aber was soll's.

"Tim. Tiiim!" Ich schrecke auf. Mom will wissen, warum ich so abwesend bin. Ach, was weiß denn ich. Was soll ich ihr auch sagen? Daß ich an meinen Schatz denke? Es wäre schön, wenn ich es ihr sagen könnte, aber es geht nicht. Also lese ich Lisa etwas vor, einfach nur, um mich abzulenken.


23:45
Es scheint Dinge zu geben, die sich nie ändern. Wenn wir zu Oma kommen, ist es so wie vor fünf, wahrscheinlich wie vor 10 Jahren. Das Haus, die Möbel, der Geruch, die ganze Atmosphäre. Es ist wie ein warmer Mantel, in den man reinschlüpft und in dem man sich auf Anhieb wohl und geborgen fühlt. Phil ist auch da und wir hatten uns so viel zu erzählen. Er wollte alles wissen, von meinen Kämpfen und Turnieren und was für Fortschritte ich mache. Und er hat jede Menge von seinen Stories vom Bund erzählt. Von der Tortur beim sogenannten Biwak. Er meint, daß das auf Dauer nichts für ihn ist. Na wenigstens etwas. Das hätte mir ja auch gerade noch gefehlt, wenn er das auch noch toll finden würde beim Bund. Ansonsten scheint es wirklich so zu sein, wie man es immer hört: prolliges Rumsaufen wenn man nicht gerade von irgendwelchen Vorgesetzten schikaniert wird. Jedenfalls steht für mich fest, daß ich DA nicht hingehen werde.

Sonntag, 22. Dezember 1996

22. Dezember

"In zehn Minuten im Park?"
Ich legte auf und schlüpfte in meine Sachen. Es war kurz nach sieben Uhr. Beim Runterstürmen traf ich auf Dad, er mich verwundert anguckte. "Ich jogge noch eine Runde vor dem Frühstück", rief ich ihm zu und ließ ihn verdutzt hinter mir.

Nils wartete schon auf mich: "Wir fahren gleich los. Ich habe gesagt, daß ich noch rasch was erledigen muß." Da steht er. Mein Nils. Mein liebster Nils. So wie immer, mit glühenden Augen, die wie ein See sind, in dem ich versinken will. Mein Nils, der nach allem Schönen dieser Welt riecht, dessen Küsse so heiß und tief sind, daß ich schwebe. Mein Nils, du wirst mir fehlen, denke ich. "Paß auf dich auf", sage ich statt dessen, "man weiß ja nie, was einem beim Skifahren so passiert. Nachher muß ich dich noch mit Gipsbein durch die Gegend tragen."
Er gibt mir einen langen Kuß, um mich zum Schweigen zu bringen. Dann gibt er mir ein kleines Päckchen: "Wir schenken uns nichts zu Weihnachten, deswegen, kriegst du es schon jetzt. Es soll dich einfach nur daran erinnern, daß ich zurückkommen werde. Aber mache es erst zu Hause auf." Ich habe Tränen in den Augen, küsse sein Gesicht, umarme ihn, will ihn nie wieder loslassen. Nach einer Zeit, die mir viel zu kurz vorkommt, meint er: "Ich muß los, meine Eltern warten bestimmt schon." Ein Stich in mein Herz. Ein letzter Kuß zum Abschied. Dann läuft er davon. Ein letzter Umschauen, bevor er um die Ecke biegt. Mach's gut, mein Nils, ich liebe dich.
Zu Hause angekommen, packe ich vorsichtig sein Geschenk aus. Ein kleiner Stoffeisbär. Ich habe wieder Tränen in den Augen. Verdammt noch mal, was ist nur los mit mir? Noch vor einem halben Jahr häte ich so etwas total albern gefunden. Und jetzt, jetzt sitze ich hier, halte einen Stoffbären in der Hand und denke heulend an Nils. Was ist das, was geht mit mir vor? Der Bär grinst mich an, ganz so, als würde er tatsächlich sagen wollen: "Mach dir keine Sorgen, ich komme zurück."

Samstag, 21. Dezember 1996

21. Dezember

"Du bist ja vollkommen bekloppt, auf den letzten Drücker Weihnachtsgeschenke kaufen zu wollen", meinte Doris. Wir waren zusammen nach Ulm gefahren. Aber ich hatte wirklich Glück, innerhalb von zwei Stunden hatte ich alle Geschenke für die Family zusammen, sogar für Oma habe ich etwas gefunden. Ich hätte sogar was Passendes für Nils gehabt, aber wir haben uns gestern hoch und heilig versproche, daß wir uns nichts zu Weihnachten schenken werden. Denn eigentlich waren wir uns einig, daß diese ganze Schenkerei zum Fest total daneben ist. Jedenfalls haben Doris und ich uns auf dem Ulmer Weihnachtmarkt noch mit plörrigen Glühwein zugedröhnt, so daß wir ziemlich angeheitert die Rückfahrt antraten.

Den Nachmittag und Abend habe ich mit Nils verbracht. Wir wußten eigentlich gar nicht, wohin wir gehen sollten. Überall bei uns zu Hause war das totale Vorweihnachtsgewusel. Vor allem, weil er morgen schon losfährt. Es tut mir wirklich weh, daß ich ihn jetzt zwei Wochen lang nicht sehen werde. Ich weiß nicht, wie ich das aushalten werde. Aber ich sage nichts, weil ich nicht weiß, wie er reagieren wird. Es ist seltsam. Seit der Sache von letzter Woche scheint er nicht mehr der starke Nils zu sein, der so cool über allen Dingen schwebt. Auf einmal scheint er mir so zerbrechlich zu sein. Als müßte ich ihn an die Hand nehmen und vor der ganzen Welt beschützen. Meinen Nils.

Freitag, 20. Dezember 1996

20. Dezember

"Meine Gott, ist die häßlich!" flüsterte mir Nils zu. Wir waren im Movieplex und haben uns den neuen Star Trek Film angeguckt und lästerten über Deana Troi, wie sie halb besoffen durch die Szene wankt. Zwischen Nils und mir scheint es wieder wie zuvor zu sein. Heimliches Händchenhalten im Kino. Und mein Herz schlägt wieder normal. Hinterher haben wir einen langen Spaziergang am Kochertalweg gemacht. Es war bitterkalt, doch wir wärmten uns gegenseitig. Küsse überall, einfach nur Festhalten und uns spüren. Wenn ich ihn so nahe bei mir habe, ist die Welt wieder in Ordnung, nein anders, ist die Welt eigentlich völlig unwichtig. Alles um mich herum verschwimmt und wir undeutlich. Für mich gibt es nur noch ihn, er ist meine ganze Welt.

Der Abschied, der Moment, wenn jeder zu sich nach Hause geht, ist immer der schwerste Augenblick. Wir wollen nicht voneinander loslassen. Verdammt, ich dachte immer, so was gibt es nur in irgendwelchen Kitschromanen, aber daß es in Wirklichkeit auch so ist, hätte ich nie geglaubt.

Donnerstag, 19. Dezember 1996

19. Dezember

"Ist dein Knie wieder in Ordnung? Kannst du am Samstag antreten?"
Ich nickte und wunderte mich gleichzeitig, daß Dimitri offenbar so großen Wert darauf legte, daß ich wieder antrat. Ansonsten war das Training heute ebenso wie gestern. Für Nils war ich weniger als Luft und alles schien mir wie von einer fremden Welt zu sein. Doch Doris' Worte geisterten noch durch meinen Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Ich glaube ich werde noch wahnsinnig, wenn das so weitergeht. Also habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und habe auf ihn gewartet. An "unserer" Kreuzung. Ich wußte, er muß hier vorbeikommen, auch wenn er viel später vom Training losgeht als ich. Irgendwann würde er kommen. Und tatsächlich sah ich ihn schon von weitem. Eine Sekunde lang sah ich die Verwirrung in seinen Augen, als er merkte, daß ich hier auf ihn gewartet hatte. "Nils, bitte, ich möchte mit dir reden. Ich kann so nicht weiterleben, bitte!"
Er blickte mich an und gleichzeitig wieder nicht. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. "Soll das jetzt so weitergehen mit uns?" fragte ich.
Er schwieg eine halbe Ewigkeit, dann sagte er: "Sag du mir, wie es weitergehen soll."
Ich kam mir so hilflos vor. Ich wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen, doch ich traute mich nicht, zu weit schien er von mir entfernt. "Verdammt, ich will dich einfach nicht verlieren. Mensch, ich liebe dich!"
Plötzlich sah ich Tränen in seinen Augen. Er drehte sich um und begann zu schluchzen. Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an mich. In diesem Moment war es mir total egal, daß wir einfach so auf der Straße standen. Sein Körper bebte: "Es ist alles so neu. Es ist alles so anders. Hilf mir, bitte", flehte er. Ich hielt ihn einfach nur fest, wiegte ihn hin und her wie ein kleines Kind: "Ich bin doch da, ich bin immer bei dir", flüsterte ich. Ich weiß nicht, wie lange wir so da standen. Irgendwann drehte er sich um. Ich sah die Tränen in seinem Gesicht und küßte ihn sanft auf den Mund. Es war mir egal, ob uns jemand sieht. Aber da war niemand weit und breit. Nur Nils und ich. Allmählich beruhigte er sich. "Es ist so schwer zu verstehen."
"Ich weiß." Verdammt noch mal, irgendwie kann ich ihn so gut verstehen. Wir taperten wortlos in Richtung Einkaufszentrum. Niemand kam uns entgegen und sah, daß wir Hand in Hand die Straße hinunterliefen. Irgendwann waren wir an der Bundesstraße und hielten an.
"Ich will dich nicht verlieren", sagte ich
Nils drückte mich: "Ich dich doch auch nicht."
"Ich bin für dich da, wann immer du willst, ok?"
Er nickte und hatte wieder Tränen in den Augen: "Warum ist das alles nur so kompliziert?"

Ich wünschte ich könnte ihm eine Erklärung geben. Doch eigentlich bin ich genauso hilflos wie er. Wir gingen zurück zu unserer Kreuzung. Wir mußten nicht sprechen. Wir wußen genau, was der andere dachte. Ein langer Kuß zum Abschied. Es ist so herrlich, ihn wieder im Arm zu halten, seine Lippen, seinen Atem zu spüren.
Auf dem Weg nach Hause war es mir als wenn ich ein großes Stück älter geworden wäre. Ich fühle mich wieder gut, aber gleichzeitig auch ein bißchen ernsthafter, ach ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Gerade eben hat er noch mal angerufen und mit eine gute Nacht gewünscht. Und jetzt, jetzt habe auch ich Tränen in den Augen.

Mittwoch, 18. Dezember 1996

18. Dezember

"Bist du vielleicht mal auf die Idee gekommen, mit ihm zu reden?"
Ich guckte sie groß an. Mir brummte der Schädel vom Wein. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig heute früh geschafft, die leere Weinflasche verschwinden zu lassen. Ich mußte zur Schule. Was hätte ich Mom auch sagen sollen? Daß ich eine ganze Flasche Rotwein ausgetrunken habe und daß ich deshalb nicht zur Schule kann? Na toll.
"Über WAS um alles in der Welt soll ich denn mit ihm reden?"
"Na über eure Beziehung zum Beispiel."
"Er will nicht mit mir reden! Er will nicht über unsere Beziehung reden. Er will über gar nichts reden!" schrie ich sie an. Doris blieb völlig unberührt: "Das denkst du. Soll ich vielleicht mal mit ihm reden?"
Das fehlte noch zu meinem Glück. Das habe ich ihr auch gesagt. Woraufhin sie ein total beleidigtes Gesicht machte.
"Vielleicht ist er ja gar nicht schwul", meinte sie nach einer Weile Schweigen.
"Wie meinst du das?"
"So wie ich es gesagt habe. Es könnte ja immerhin sein, daß er gar nicht schwul ist."
"Er ist so schwul wie ich. Das weiß ich, das habe ich schließlich selber erlebt. Was ist den das für eine komische Idee von dir?"
"Dann solltet ihr erst recht miteinander reden. Wenn er wirklich schwul ist wie du sagst, dann hat er damit wahrscheinlich ein Problem."
"Na toll, und was kann ich dabei tun?"
"DU - mein kleiner arroganter Tim - DU bist sein Freund. Und wenn du ihn tatsächlich liebst, dann holst du ihn dir zurück."
"Ich habe doch aber gar nichts gemacht. Er ist ausgetickt."
"Um eine Liebe zu retten, muß man manchmal lügen so tun, als hätte man Schuld." Das klang wie aus einem schlechten Kitschroman, doch sie sagte es mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß ich nachdenklich wurde.

Doch ich weiß echt nicht, wie ich mit ihm reden soll. Ich bin immer noch Luft für ihn. Beim Training haben wir heute gegeneinander gerungen. Es war nicht mein Nils, der mir da gegenüberstand. Es war, als würde ich gegen einen Eisblock ringen. Ein Blick von ihm, nichts Vertrautes. Jeder andere Gegner war mir bis dahin näher als dieses Etwas. Nach dem Training beeilte ich mich zu verschwinden. Er blieb bei den anderen.

Dienstag, 17. Dezember 1996

17. Dezember

"Nils?"
Ich schreckte hoch und war knallwach. Ich mußte irgendwas geträumt haben, doch ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es war. Ich saß senkrecht im Bett und bekam tatsächlich die totale Panik. Um ein Haar hätte ich bei ihm angerufen mitten in der Nacht. Plötzlich kam ich mir so allein vor, als wäre ich ganz allein auf der Welt. Ich ging nach unten und nahm mir ein großes Glas voll mit Metaxa. Danach verschwand die Panik etwas und ich konnte wenigstens wieder einschlafen.

Morgens beim Frühstück war ich zwar anwesend. Aber nur körperlich. Mein Geist schwebte irgendwo in der Weltgeschichte rum. Genauso wie in der Schule. Alles ging nur noch automatisch. Ich ging automatisch, ich antwortete automatisch. Alles lief, ohne daß ich eigentlich mitbekam, was passierte. Als würde ich nur mit einem Ohr einem Film folgen. Auf dem Weg nach Hause, nahm ich mir eine Flasche Wein aus dem Spermart mit. Und nun sitze ich oder liege ich in meinem Bett, schreibe dieses Tagebuch und habe schon die halbe Flasche drin. Aber es wird nicht besser, ich werde nur noch trauriger und heule in einer Tour. Ich habe meine Tür abgeschlossen damit niemand reinkommt. Es ist der erste Dienstag seit ewig langer Zeit, daß ich nicht mit Nils zusammen beim Krafttraining bin. Und schon muß ich wieder heulen, weil ich an jede Situation, an jeden Moment an jeden Blick denken muß.

Das Telefon hat geklinget. Mein Herz schlug wie wild. Doch es war nur Doris. Ich konnte kaum reden und schluchzte nur. Sie fragte ob sie vorbeikommen soll aber ich habe ihr gesagt, ich will niemanden sehen. Ich weiß jetzt schon nicht mehr, wie das Gespräch überhaupt aufgehört hat. Ich weiß gar nichts mehr.

Montag, 16. Dezember 1996

16. Dezember

"Na, habt ihr mal wieder Ehekrach?"
Doris' Mischung aus sechstem Sinn und dummen Bemerkungen könnte mich zur Weißglut bringen. Aber wahrscheinlich war es auch nicht zu übersehen. Nils ging mir nicht mal aus dem Weg. Ich existierte einfach nicht für ihn. Er guckt nicht in eine andere Richtung, er guckt ganz einfach durch mich hindurch als wäre ich Luft. Ich habe versucht, mit Doris darüber zu reden, aber das Einzige was sie dazu sagte war ein geseufztes "Männer". Als wenn das alles erklären würde oder könnte.

Ich habe heute wieder mittrainiert. Obwohl ich natürlich Nils getroffen habe, aber er ignorierte mich genauso wie heute in der Schule. Mit dem Erfolg, daß ich ziemlich aggressiv trainiert habe und Dimitri mich einige Male zurückpfeifen mußte. Aber das war mir egal. Der Heimweg: alleine. Keine heimlichen Küsse an "unserer" Kreuzung. Meine Stimmung paßt zum Wetter.

Sonntag, 15. Dezember 1996

15. Dezember

"Was ist denn los mit dir?"
Ich wachte auf, als Mom mir den Kopfhörer abnahm. Ich war tatsächlich mit Kopfhörern auf eingeschlafen und hatte die ganze Nacht "Forever Love" mit voller Lautstärke gehört. Es ist schon seltsam. Plötzlich fange ich an, irgendwelche Kitsch-Songs zu hören. Nils rief auch heute den ganzen Tag nicht an. Ich bin durch die Gegend getapert. Es schneegrieselte zwar, aber das war mir egal. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Eigentlich würde ich ja am liebsten zu ihm hinrennen und ihm sagen, daß es mir leid tut. Aber ich weiß ja eigentlich nicht einmal, WAS mir leid tun sollte.

Am Nachmittag kam Max vorbei und sammelte seine Email ein. Er fragte, warum ich gestern nicht beim Wettkampf war. Ich sagte ihm, daß es mir nicht so gut gehen würde, was ja nicht mal gelogen war. Jedenfalls haben wir wieder haushoch gewonnen.
Als er wieder weg war, habe ich angefangen, Nils einen Brief zu schreiben. Ich bin aber nicht weit gekommen. Erstens wußte ich eigentlich überhaupt nicht, was ich schreiben sollte und zweitens kamen mir meine Worte so albern vor. Also habe ich den Brief zerrisen und im Klo runtergespült. Verdammt noch mal, wenn ich nur klar denken könnte. Da habe ich endlich jemanden getroffen, den ich wirklich liebe und dann ist das alles so kompliziert.

Samstag, 14. Dezember 1996

14. Dezember

"Willst du nicht langsam mal aufstehen?"
Nein will ich nicht. Ich habe die halbe Nacht lang geheult und bin einfach nur fertig. Die Family ist nach Ulm zum Einkaufen gefahren und ich laufe völlig ziellos durch's Haus, gehe wieder ins Bett, kann natürlich nicht schlafen. Ich versuche, das Telefon zu hypnotisieren: "Klingele, los klingele." Doch es denkt nicht dran. Ich gehe in den Keller und schreie. Schreie meine ganze Wut und Verzweiflung heraus. Doch auch das hilft mir nicht. Verdammt noch mal, wieso müssen wir uns immer wieder über die gleichen Sachen streiten? Und warum ist er nur so verdammt empfindlich. Ich will doch auch nicht, daß jemand von uns erfährt. Aber ich will doch wenigstens mit ihm darüber sprechen können. Er ruft nicht an und ich beschließe heute nicht zum Wettkampf zu gehen. Da ich sowieso nicht antreten muß ist es auch egal. Ich will ihm nicht über den Weg laufen, habe Angst, daß er mich ignoriert. statt dessen bleibe ich in meinem Zimmer, gucke mir einen albernen Asterix-Film auf Sat1 an und versuche, mich abzulenken. Aber eigentlich komme ich mir vor als wenn ich alles nur von außen erlebe. Verdammt noch mal, was mache ich nur falsch?

Freitag, 13. Dezember 1996

13. Dezember

"Warum muß es eigentlich immer nach deinem Kopf gehen?"
"Muß es doch gar nicht. Ich finde es einfach nur schade, daß du mit deinen Eltern zum Skifahren in der Weltgeschichte rumgondelst, während ich hier über Weihnachten und Sylvester ohne dich versauere."
Ich weiß gar nicht, wie sich die Sache hochgeschaukelt hatte. Wir waren in der Stadt unterwegs, hatten ein paar Cheeseburger gegessen und zogen ohne Ziel durch die Altstadt, als ich einfach sagte, daß ich es schade finde, daß er über Weihnachten und Neujahr nicht da ist. Daraufhin rastete Nils fast aus. Ich weiß nicht wieso, aber er schien gar nicht zu verstehen, daß ich ihn vermissen würde.
"Vielleicht kannst DU ja deinen Eltern erklären, daß du schwul bist und daß du Weihnachten und Neujahr mit deinem Freund verbringen willst. ICH kann es jedenfalls nicht."
"Darum geht es doch nicht."
"Doch genau darum geht es. Wenn es nach dir gehen würde, müßte die ganze Welt wissen, daß du schwul bist."
"Daß WIR schwul sind."
"Wenn ich dieses Wort nur höre, könnte ich kotzen!"
Das war zuviel, jetzt rastete ich aus: "Verdammt noch mal, was glaubst du denn, wer oder was oder wie du bist?"
Er warf mir einen Blick zu, der mir Angst machte: so viel Haß hatte ich noch nie in seinen Augen gesehen. Verdammt nochmal was war passiert? "Ich jedenfalls renne nicht mit einem Schild um den Hals rum, wo drauf steht 'Ich bin schwul'. Ich verstand überhaupt nicht, warum er sich plötzlich so aufregte. Ich versuchte ihn zu umarmen: "Nils, bitte!" Doch er stieß mich zurück: "Laß mich einfach mal in Ruhe." Daraufhin drehte er sich um und lief weg. Ich stand wie betäubt da und blickte ihm nach. Unfähig ihm nachzulaufen. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

Donnerstag, 12. Dezember 1996

12. Dezember

"So, Schluß für heute!"
Beim Training war heute irgendein Aushilfstrainer, der die ganze Sache ziemlich lustlos runterspulte und uns schon nach zwei Stunden in die Kabine schickte. Nils und ich bleiben noch ein bissel und sahen beim Training der BLler zu.
"Irgendwann will ich da mal mitmachen."
"Wie? Beim Training von denen?"
"Quark, in der Mannschaft."
"Ja, na klar, und nach Olympia und Gold holen."
"Warum nicht?"
Mir wurde klar, daß er es ernst meinte. Ich guckte ihn an, wie er total fasziniert das Training verfolgte. Das ist eine Seite von Nils, die mir völlig fremd ist. Ich kann nicht verstehen, wie ein Mensch so von einer Sache eingenommen sein kann. Nils, mein Nils lebte für's Ringen. Für eine Sekunde schoß mir ein schmerzlicher Gedanke durch den Kopf. Ich glaube, wenn er sich entscheiden müßte zwischen mir und dem Ringen, so würde er sich ohne zu zögern für's Ringen entscheiden. Und das macht mir Angst. Ach Shit, was mache ich mir eigentlich für wirre Gedanken?

Am Abend großes gemeinsames Essengehen. Ich bin überrascht, wie Dad es geschafft hat, das nobelste Restaurant von Bergbach aufzutreiben. Ich gebe zu, daß es auch mal Spaß macht, vornehm zu sein oder es wenigstens zu spielen. Mom und Dad nennen es das "Hanseatische Wesen", das man im Blut hat, wenn man aus Hamburg kommt. Ich glaube es stimmt. Aber irgendwie spannend.

Mittwoch, 11. Dezember 1996

11. Dezember

"Nur leichtes Training für Tim. Und Samstag tritt Max für dich an."
Dimitri hatte ja völlig recht. Aber trotzdem komme ich mir irgendwie zurückgesetzt vor. Ok, mein Knie ist nicht ganz ok, aber mich deshalb gleich für den nächsten Wettkampf zu streichen. Dabei fällt mir jetzt gerade auf, daß mir das früher gar nichts ausgemacht hätte. Im Gegenteil, ich hätte mich gefreut oder es wäre selbstverständlich gewesen, wenn ich nicht aufgestellt würde. Und nun bin ich gefrustet, wenn man mich in die zweite Reihe stellt. Ich habe mit Nils darüber nach dem Training geredet. Er grinste breit und blöde: "Es sieht ganz so aus, als wenn du langsam ein richtiger Ringer wirst." Mir war klar, was er damit meinte und mir gefällt nicht, daß er vielleicht sogar recht hat.

Dienstag, 10. Dezember 1996

10. Dezember

"Weißt du nun schon, was du beim Bogy machst?"
"Nö, keine Ahnung. Du?"
"Ich glaube, ich werde in eine Kita gehen."
Ich guckte Doris mit großen Augen an: "Und was macht man da?"
"Na, vielleicht werde ich ja mal Erzieherin, oder mache Sozialpädagogik oder so etwas."
"Hmmm." Ich muß gestehen, daß ich mir unter beiden Sachen eigentlich nichts Konkretes vorstellen kann. Ok, das waren also Erzieher, die bei Lisa im Kindergarten sind. Eigentlich ein toller Job, den ganzen Tag nur spielen und basteln. Aber ob das auf Dauer so der Renner ist?
"Vielleicht mache ich ja irgendwas in einem Architekturbüro", plapperte ich drauflos. Ich gebe zu, daß die Idee gar nicht so blöde ist. Ich meine, so Grundrisse zeichnen und konstruieren kann ich mir ganz interessant vorstellen. Wobei ich überhaupt keine Ahnung habe, wo man sich da für's Bogy bewerben kann. Mal schauen.

Krafttraining ging ganz gut. Ich habe heute nur Arme und Brust trainiert. Das mit dem Knie ist mir noch zu unsicher.

Montag, 9. Dezember 1996

9. Dezember

"Was macht dein Knie?"
"Es geht wieder ganz gut." Und das war noch nicht einmal gelogen. Wahrscheinlich hat mir die Ruhe gestern wirklich gut getan, denn die Schwellung war zurück gegangen und die Schmerzen waren durchaus erträglich. So erträglich, daß ich mich sogar zum Training aufraffen konnte. Dimitri meinte aber, ich soll heute nicht trainieren. Wahrscheinlich hatte Nils ihm das mit dem Knie erzählt. Also setzte ich mich an den Rand und guckte zu. Und so konnte ich ein bißchen nachdenken. Es war schon seltsam. Noch vor einem dreiviertel Jahr wäre ich niemals auf die Idee gekommen, daß ich irgendwann mal zu einer Ringermannschaft gehören würde. Und obwohl jeder eigentlich ein Einzelkämpfer ist, waren wir doch alle ein Team. Eine verschworene Gemeinschaft. Komisch. In Hamburg hatte ich jede Menge Freunde, Kumpels aus allen möglichen Ecken und Cliquen. Hier gibt es nur die Jungs aus dem Verein und Doris. Und Nils natürlich, aber der gehört ja auch zum Verein. Was es sonst noch so da draußen gibt? Egal. Und das ist schon seltsam. Es macht mir sogar ein bißchen Angst. Liegt das an dieser Kleinstadt hier? Bin ich tatsächlich schon so geworden, wie die anderen hier, die entweder im Sportverein, in der Freiwilligen Feuerwehr, beim Spielmannszug oder bei den Maltesern sind und damit Schluß? Ich werde bei Gelegenheit mal Nils fragen, wie er das sieht.
Der Weg nach Hause. Ein lange Kuß, ein Abschied. Die Nacht riecht nach Schnee.

Sonntag, 8. Dezember 1996

8. Dezember

"Ich wußte es. Ich wußte es von Anfang an. Dieser Sport ist nichts für dich. Er ist brutal und primitiv."
"Mom, bitte. Das kann dir bei jeder Sportart passieren. Erinnere dich bitte daran, daß ich mir vor zwei Jahren fast das Kniegelenk gebrochen hätte beim Tennis."
"Erstens kann man sich das Kniegelenk gar nicht brechen und zweitens ist das etwas total anderes. Beim Tennis prügelt man sich wenigstens nicht."
Sie wollte es einfach nicht verstehen. Ich seufzte und sagte gar nichts. Ich weiß, daß das immer noch die beste Methode ist, solche Auseinandersetzungen zu beenden. Eigentlich hätte ich es ihnen gar nicht sagen wollen, aber es ging nicht anders. Mein Knie tat immer noch höllisch weh und ich mußte irgendwie zum Mittagessen humpeln. Den Nachmittag verbrachte ich im Bett, legte mein Bein hoch, telefonierte eine halbe Ewigkeit mit Nils. Dann mit Doris, mit Benji, dann wieder mit Nils. Irgendwie verging der Tag. Jetzt zappe ich mich durch's TV, aber es ist nichts wirklich Spannendes dabei. Ich muß an den gestrigen Abend mit Nils denken. Das werde ich nie vergessen.

Samstag, 7. Dezember 1996

7. Dezember

"Du machst dich langsam."
Ich saß ihn der Kabine und war fertig. Mein Knie tat höllisch weh, aber ich hatte gewonnen. Ich weiß gar nicht mehr, ob es daran lag, daß ich so gut war oder ob mein Gegner nur einfach so schlecht war. Jedenfalls bin ich mit einem klaren Punktvorteil von der Matte gegangen. Oder besser gehumpelt. Ich hatte mein Knie unter meinem Gegner eingeklemmt und versucht mich zu drehen, was natürlich höllisch weh tat. In den ersten Minuten nach dem Kampf fiel es mir gar nicht auf, aber dann wurde es immer dicker und ich humpelte in die Umkleide. Nils kam hinterher und klopfte mir auf die Schulter. Als sich die Tür hinter uns schloß, gab er mir einen hastigen Kuß: "Als Vorschuß, für den Sieger", strahlte er. Ich war glücklich. Nicht nur weil ich gewonnen hatte, sondern auch weil er glücklich war. Weil er sich freute. Ich legte mich auf die Bank und er packte ein nasses Handtuch auf mein Knie. "Meinst du, du schaffst es bis nach Hause?"
"Nein, ich bleibe hier liegen. Und du mußt mindestens dreimal am Tag vorbeikommen und mir etwas zu essen bringen."
"Spinner."
Ich schloß die Augen. Obwohl mein Knie brannte und pochte und ich mir wie zerschlagen vorkam, ging es mir gut. Es war einer jener Augenblicke, von denen ich mir immer wünsche, daß sie nie vorbeigehen. Zur Siegerehrung war ich wieder halbwegs fit, so daß ich in die Halle humpeln konnte. Das größte Problem war aber tatsächlich der Weg zu Nils nach Hause. Ich biß die Zähne zusammen. Was hätte ich auch anderes machen sollen? Ok, ich hätte Dad anrufen können, der hätte mich bestimmt abgeholt. Aber erstens hätte es dann jede Menge dummer Fragen zu Hause gegeben, so von wegen, wie denn das passieren konnte und daß Ringen ja sowieso kein Sport für mich wäre und so weiter. Und außerdem hätte ich dann erklären müssen, warum ich dann noch mit diesem dicken Knie zu Nils wollte. Nein, da war es dann doch besser, tapfer neben Nils her zu humpeln und auf jede besorgte Nachfrage mit einem heldenhaften "Es geht schon" zu antworten. Endlich waren wir bei ihm und ich ließ mich auf sein Bett fallen. Ich weiß nicht wieso, aber mir tat nicht nur mein Knie sondern jeder einzelne Knochen im Körper weh. Oder war es jeder Muskel? Ich weiß es nicht. Aber Nils war total niedlich. Er war total lieb und schleppte alles ran, was er glaubte, daß es mir gut tun würde. Irgendwann hielt ich ihn einfach fest und meinte, er soll doch einfach nur da bleiben. Wir lagen eine halbe Ewigkeit nebeneinander und guckten uns in die Augen. Es war einfach nur toll. Es glühte in mir und ich begann zu schweben. Ich kann es gar nicht beschreiben, ich war eine Schale, die so voller Liebe war, daß sie überlief. Nils küßte mich. Sanft, ganz zärtlich. Dann glitt seine Hand unter mein Sweatshirt. Als ich begann, ihn zu streicheln, nahm er sachte meine Hand weg: "Heute läßt du dich einfach nur mal verwöhnen und machst gar nichts", flüsterte er. Ich gehorchte. Und landete im siebenten Himmel. Ich hätte nie geglaubt, daß ich solche Gefühle überhaupt empfinden kann. Es war wie ein totaler Rausch aber ganz ohne irgendwelchen Alk oder so. Und ich glaube, daß das der längste Orgasmus war, den ich je hatte. Es schien gar nicht mehr aufzuhören.

Ich blickte in Nils' glückliches Gesicht. Ich war immer noch außer Atem. Ich wollte ihm so viel sagen. Doch eigentlich hätte ich das gar nicht in Worte fassen können. Also schwieg ich. statt dessen küßte er mich sanft. Wir lagen so eine halbe Ewigkeit nebeneinander, bis er plötzlich aufschreckte: "Wie spät ist es?"
"Kurz nach elf."
"Shit, dann kommen meine Eltern bestimmt bald."
Nils half mir ins Bad. Ich war so wackelig, daß ich es nicht mal in die Dusche schaffte. Mit Mühe gelang es mir, mich anzuziehen. Zum Glück hatte Nils die rettende Idee: "Ich frage meine Mutter nachher, ob sie dich nach Hause bringt." Ich nickte. Mir war alles recht, solange ich nicht den Weg nach Hause humpeln mußte. Als wir den Wagen auf der Auffahrt hörten, gab es unseren Gute-Nacht-Abschiedskuß. Ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen.
Zum Glück war es überhaupt kein Problem, daß seine Mutter mich nach Hause brachte. Sie meinte zwar auch so was wie "Ihr Jungs werdet euch noch mal alle das Genick beim Sport brechen" aber es klang eher wie ein Scherz. Nils und ich guckten uns an und beschlossen insgeheim, daß wir das sicherlich nicht machen werden. Dann guckten wir schnell wieder nach vorne, denn seine Mutter musterte uns sowieso schon permanent im Rückspiegel.
Ich schaffte es, mit einem Bein die Treppe hoch zu hüpfen und ließ mich auf's Bett fallen. Ein kurzes Telefonat mit Nils zum Gutenachtsagen. Kurz das Tagebuch für heute schreiben und dann nur noch träumen.

Freitag, 6. Dezember 1996

6. Dezember

"Was hast du denn mit Miriam gemacht?"
Ich guckte Melanie fragend an: "Wieso?"
"Sie erzählt überall rum, was du für ein Arsch bist."
Na toll, ganz toll. Ich bin absolut begeistert. Es wäre ja auch zu schön gewesen, wenn das so einfach vorüber gegangen wäre. Aber nein, diese blöde Ziege erzählt irgendwelche Scheiße über mich in der Schule rum. Ich habe Melanie gesagt, daß da überhaupt nichts war und daß ich einfach nur nichts von ihr wollte und fertig. Aber so wie Mädchen nun mal sind hat sie mir nicht geglaubt. Eigentlich müßte es mir egal sein, ist es aber dummerweise nicht. Ich weiß auch nicht wieso. Vorsichtshalber habe ich es auch Doris erzählt. Es ist besser, sie erfährt es von mir und nicht erst durch irgendwelchen Tratsch. Ich hatte auch Glück, denn sie hatte noch nichts von den anderen mitbekommen.

Am Abend haben wir uns (Nils, Max und Florian) in der Tofa getroffen und ein bißchen Dart gespielt, Bier getrunken und rumgeblödelt. Es war ganz ok, obwohl ich eigentlich ja lieber mit Nils alleine gewesen wäre. Aber wir hätten eh nicht gewußt, wo wir hätten hingehen können, um alleine zu sein.

Ach ja, hätte ich ja fast vergessen: Lisa hat sich über meine Nikolausüberraschung ganz doll gefreut.

Donnerstag, 5. Dezember 1996

5. Dezember

"Samstag?"
"Samstag!"
Nils und ich haben ein perfektes System von Kurz-Kommunikation entwickelt. Samstag haben wir wieder einen Tag, oder besser einen Abend für uns. Ich freue mich schon drauf.

Ansonsten war der heutige Tag so ziemlich unaufegend. Nichts dramatisches passiert und auch nichts, was sich aufzuschreiben lohnt. Nicht mal das Training war sonderlich spektakulär.

Mittwoch, 4. Dezember 1996

4. Dezember

"Kannst du für mich eine Weile ein Päckchen aufheben?"
Max zog mich in der Pause zur Seite.
"Was denn für ein Päcken?"
"Ein Weihnachtsgeschenk für Paul. Aber ich will es nicht mit in die Gruppe nehmen. Die durchwühlen da permanent meine Sachen." Ich finde, daß er inzwischen ziemlich unter Verfolgungswahn leidet, aber was soll's. Vielleicht würde ich ja auch so sein, wenn mein Vater gestorben wäre und meine Mutter abgehauen wäre.
Max erinnerte mich an das entsetzliche Thema Weihnachten.

Miriam scheine ich endgültig los zu sein. Sie würdigt mich keines Blickes mehr. Ich glaube, ich kann ganz beruhigt sein.

Dienstag, 3. Dezember 1996

3. Dezember

"Was machst du heute Nachmittag?" Bei mir schrillten sämtliche Alarmglocken. Diese unschuldige Frage mit ihrem Kinderquaken brachte mich sofort in eine Abwehrstellung: "Wieso?"
"Na wir können vielleicht etwas zusammen unternehmen."
"Miriam", ich nahm all meinen Mut zusammen, "paß mal auf. Du bist wirklich ein nettes Mädchen." Ich wußte nicht, daß ich so unverschämt lügen kann. "Aber aus uns zwei wird nichts. Wirklich nicht." Ich hatte es geschafft, ich hatte es wirklich geschafft, ihr ganz klar meine Meinung zu sagen. Ich sah, wie ihr Gesicht von einer Sekunde auf die andere versteinerte. "Aber wieso nicht, es war doch immer so nett, wenn wir zusammen waren?"
Himmel, wann waren wir denn mal zusammen? Einmal. Und nett war das bestimmt nicht. Ich merkte, wie mir die Worte fehlten. Aber dann schluchzte sie, drehte sich abrupt um und rannte von dannen. Puh, geschafft. Ich hoffe, sie hat es jetzt kapiert. Nils kam angetapert: "Was war denn?"
"Ach nix. Ich habe ihr nur gesagt, daß aus uns nichts wird. Dann fing sie an zu heulen und ist weggerannt."
"Du bist herzlos."
"Oh, kein Problem, ich kann sie gerne zurückholen und mich mit ihr an jedem Tag der Woche verabreden. Veilleicht sollte ich das wirklich mal machen. Schließlich habe ich bisher noch nie mit einem Mädchen gefickt." Jetzt versteinerte Nils' Gesicht. Gleichzeitig wurde er blaß: "Untersteh' dich!" Daß er aber auch keinen Spaß versteht. Ich buftte ihn und hatte so die situation wieder gerettet. Er erzählte mir, daß er heute nicht zum Krafttraining kommt, weil seine Mutter Geburtstag hätte. Also taperte ich alleine hin. Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso. Eigentlich hätte ich mir auch einen totalen Gammelabend zu Hause machen können, aber vielleicht war es auch die Gewohnheit. Ich habe jedenfalls festgestellt, daß es sich mit dem Walkman im Ohr wesentlich besser trainiert. Es fehlte eigentlich nur noch die Musik, die immer in diesen Rocky-Filmen im Hintergrund läuft. Aber auch so, kam ich mir wirklich vor, wie im Soundtrack. Bis mich irgendwann jemand von hinten antippte. Ich drehte mich um und da stand Manuel vor mir. Ich hatte eigentlich noch nie besonders viel Kontakt mit ihm. Er ist eher einer von denen, die still in der Ecke sitzen und nicht viel reden. Er fragte mich, ob ich ihm nicht mal mit den Gewichten beim Bankdrücken helfen könnte. Ich nickte. Zu meiner Überraschung fing er an zu reden und erzählte mir, daß er eigentlich gar nicht weiß, ob Ringen der richtige Sport für ihn ist und so weiter. Ich war etwas überrascht, daß er mir das alles erzählt, deshalb brachte ich auch selten mehr als ein "Ja" oder ein Nicken hervor. Aber das schien ihm zu reichen. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß er ganz nett ist, aber daß er auch ziemlich alleine ist. So ein bißchen wie Tobias.

Ich mache ein seltsame Entdeckung. Seit ich mit Nils zusammen bin, scheint es mir so, als wenn alle Leute um mich herum freundlicher zu mir sind, mich anlächeln. Wo ich früher Schwierigkeiten hatte, mit Leuten in Kontakt zu kommen, geht es jetzt von ganz alleine. Ich weiß auch nicht woran das liegt. Vielleicht strahlt man ja etwas aus, wenn man verliebt ist? Ich weiß es nicht.

Etwas anderes ist aber echt ein Problem. Ich bin geil. Das ist komisch, wenn ich das jetzt so geschrieben sehe, aber es ist so. Früher war es überhaupt kein Problem, wenn ich mir einen runtergeholt habe, habe ich an irgendwelche Typen gedacht und es war ok. Jetzt bin ich nur noch geil auf Nils und würde am liebsten dreimal am Tag mit ihm rummachen. Doch das geht ja nun leider nicht, die Möglichkeiten, daß wir aleine sind, sind viel zu selten. Und ich weiß echt kaum, wohin mit meiner Geilheit. Ok, ich kann mir einen runterholen, aber das ist nicht das Gleiche. Shit, wenn ich das jetzt so lese, sind das ja tolle Probleme.

Montag, 2. Dezember 1996

2. Dezember

"Du hast reichlich wirres Zeug geredet, so von wegen, du würdest jeden Jungen rumkriegen."
"WAAAS?"
"Naja, aber ich glaube, es hat keiner von den anderen mitgekriegt. Wir sind gegangen, bevor du noch mehr ausgeplappert hast. Das heißt, ich habe dich mehr oder weniger getragen."
"Du spinnst."
"Nein wirklich, du konntest nicht mehr zwei Schritte alleine gehen."
"Shit, dieses Teufelszeugs von Max."
"Was hast du denn genommen?"
"Eine von den hellblauen, mit nem Smily drauf, glaube ich."
"Du bist ja auch echt beknackt. Was schluckst du auch dieses Zeugs."
Ich mußte ihm recht geben. Das ist auch wirklich daneben, wenn ich dabei so abdrehe und nicht mehr weiß, was ich sage. Zum Glück ist nichts Schlimmeres passiert.
"Außerdem fällt das garantiert unter die Doping-Liste."
"Ich glaube nicht, daß jemand in der B-Jugend einen Doping-Test macht."
"Wer weiß, ich habe gehört, in Amerika, da machen sie Drogentests in den Schulen. Einfach so, als Routine."

Es nervte mich etwas, daß er mich nun gleich als Drogi bezeichnete. Ich glaube, es ist das erste Mal, seit über einem halben Jahr, daß ich überhaupt irgendwas genommen habe. Und außerdem hat er genauso Zeugs geraucht wie ich. Mit einer Handbewegung deutete ich ihm an, daß ich über das Thema nicht mehr reden wollte und es funktionierte.

Doris' Schwangerschaft ist nicht mehr Thema Nummer 1. Ich glaube, sie ist ganz froh darüber. Im Moment überschlagen sich alle vor Freundlichkeit, schieben ihr einen Stuhl hin und behandeln sie wie ein rohes Ei. Doris hofft, daß die Leute sich bald wieder normal benehmen.

Beim Training war heute natürlich Nachbesprechung von Samstag. Und auch noch mit Video. Dimitri zeigte natürlich genüßlich vor allem die Szenen von meinem Kampf. Und dann ging es los. Auf die Matte, die Situation nachgestellt. "So, was machst du jetzt als Konter?" Ich kam mir total affig vor, so als wäre ich ein kleines Kind. Eigentlich wollte ich auch genauso trotzig reagieren. Aber dann wählte ich doch den Weg des geringeren Widerstandes und machte halbwegs vernünftige Sachen. In dieser Situation im Training kamen mir auch die richtigen Kontersachen in den Kopf, aber beim Wettkampf. Nils meinte jedenfalls hinterher, ich müßte noch viel lernen. Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt will.

Sonntag, 1. Dezember 1996

1. Dezember

"Hey, das ist eine Bring-your-own-stuff-Party", blökte Rasta. Nils und ich guckten uns an. Eigentlich war uns das völlig egal, aber es ist schon ziemlich blöde, als einzig Cleane mitten in einer Horde bekiffter Leute zu hocken. Außerdem fand ich die Musik total daneben. Es lief die ganze Zeit wirklich nur Reggae. Zum Glück hatte Max ein bißchen mehr Stuff mitgebracht, so daß wir ein bißchen was rauchen konnten. Blöderweise hab ich dann noch eine von seinen Tabs geschluckt und bin völlig abgedreht. Ich erinnere mich nur noch, daß ich irgendwann vor unserem Haus war und Nils mich fragte, ob ich es alleine nach oben schaffte. Ich versuchte, mich zusammenzureissen, während die Eingangstür ständig größer und kleiner wurde.

Irgendwie muß ich es dann noch geschafft haben, reinzukommen und in mein Zimmer zu tapern. Jedenfalls bin ich heute morgen in meinem Bett aufgewacht und hatte noch meine Klamotten an. Na zum Glück haben Mom und Dad nichts mitbekommen. Zu allem Unglück hat auch noch Miriam eben angerufen und gefragt, ob wir heute nicht was zusammen machen wollen. Mir war nicht so sehr danach, sonst hätte ich sie total verarscht. Aber so sagte ich nur, daß ich schon etwas anderes vorhabe und habe aufgelegt. Diese Mädel wird echt nervig.

Dafür geht bei Nils wieder mal niemand ans Telefon. Shit und ich hätte so gerne seine Stimme gehört, gewußt wie es ihm geht. Und vor allem WAS gestern Abend noch so alles passiert ist, weil ich mich ja an so gut wie nichts mehr erinnern kann.