Donnerstag, 31. Oktober 1996

31. Oktober

"Ich bin heute Abend auf einer Party von Doris."
"Du kommst ja sowieso nur noch zum Essen und Wäschewechseln nach Hause."
"Das stimmt nicht."
"Seit du von der Klassenfahrt zurück bist, sieht man dich jedenfalls so gut wie gar nicht mehr."
"Laß ihn doch. Was soll er denn machen? Denn ganzen Tag zu Hause rumhängen? Er trifft sich halt mit seinen Freunden, das haben wir doch früher auch gemacht." Ach, danke Dad, wenigstens habe ich einen Verbündeten zu Hause. Mom ließ dann noch ihr klassisches: "Hier macht ja sowieso jeder was er will" vom Stapel, aber wenigstens war danach Ruhe. Am Vormittag war ich mit Doris in Ulm zum Klamotten einkaufen. Ich weiß gar nicht, wieso wir unbedingt nacht Ulm mußten, aber nun gut. Wir haben uns jedenfalls ganz lustig unterhalten. Sie war richtig gut drauf, obwohl sie irgendwann meinte, ich sollte nun endlich mal aufhören, von Nils zu schwärmen.

Training war so lala. Dimitri gab die Aufstellungen und Einteilungen für das Kochertal-Turnier bekannt. Na toll, ich bin aufgestellt worden. Während sich Nils wie ein kleines Kind darüber freute bin ich alles andere als begeistert. Naja, was soll's, da muß ich durch. Vielleicht mache ich es ja auch wie Max und höre irgendwann auf. Aber das geht nicht, Nils würde bestimmt total ausrasten.

Dann der Abend, die Nacht bei/mit Nils. Ich lebe nur für diese Stunden. Er ist so unendlich zärtlich. Ich bin wirklich der glücklichste Mensch auf der Welt. Wenn wir Arm in Arm daliegen, ist es, als würden wir schweben und alles andere unter uns zurück lassen.
"Seit wann weißt du es?"
"Was?
"Daß du schwul bist?"
"Tim, ich mag dieses Wort nicht."
"Kennst du ein besseres?"
"Nein, ich, ach ich weiß nicht. Vielleicht seit einem Jahr. Und du?"
"Ich glaube schon zwei, drei Jahre. Naja, nicht so, daß ich gesagt habe: 'Ich bin schwul'. Aber ich habe halt immer mehr gemerkt, daß ich auf Jungs stehe." Nils seufzte. "Weißt du, daß du der Allererste für mich bist?"
"Nee, du hast doch mit Manuel unter der Dusche rumgemacht", sagte ich lachend. Aber Nils nahm es toternst: "Sei nicht so primitiv. Das war nichts, überhaupt nichts. Außerdem haben wir sofort aufgehört, nachdem du reingekommen bist." Ich küßte ihn, um ihn zu beruhigen. "Und bei dir?" Nils kniff die Augen zusammen.
"Ich habe schon ein paarmal mit Jungs vorher rumgemacht."
"Wie? Rumgemacht?"
"Naja, zusammen gewichst. So wie du und Manuel zum Beispiel. Gewichst unter der Dusche oder in der Kabine, im Schwimmbad."
Er sah mich mit großen Augen an: "Wie verdammt noch mal konntest du wissen, daß die, daß die SO sind?"
"Ich wußte es nicht. Aber wenn du unter der Dusche stehst und einen Ständer bekommst und der Typ gegenüber auch, dann ist es doch wohl eindeutig, oder?"
Nils stand auf und ging im Zimmer umher. "Ich weiß nicht, wenn ich mir vorstelle, daß du schon mit zig Jungs rumgemacht hast...", seine Stimme klang schon fast verzweifelt. Mein Gott, was hatte ich nur getan? Ich stand auf und umarmte ihn: "Hey, das war nichts, das war einfach nur Abspritzen und das war es. Das hier", ich küßte ihn, "das ist mein allererstes Mal." Wir ließen uns auf's Bett fallen und drückten uns mit aller Kraft aneinander. Laß mich nicht los, laß mich nie allein!

Mittwoch, 30. Oktober 1996

30. Oktober

"Hey, du bist ja gar nicht mehr zu erreichen." Das war Doris am Telefon. Wir haben lange miteinander gequatscht. Sie hat mir erzählt, daß sie gestern bei ihrem Arzt war und daß wohl mit ihrer Schwangerschaft alles ok ist. Die Vorstellung Doris mit einem Baby, Doris als Mutter finde ich absolut seltsam.

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es schon wieder. Max wollte vorbeikommen, um seine Mails abzuholen. Das tat er dann auch und saß eine halbe Ewigkeit an meinem Rechner bis endlich mal seine ganze Post geladen war. Richtig spannend wurde es dann als Nils klingelte. Naja, was heißt spannend, es war halt eine komische Situation. Es klingelte und ich ging runter, um die Tür aufzumachen. Da stand Nils und meinte, er hätte den ganzen Vormittag versucht mich anzurufen aber es wäre immer besetzt gewesen. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen umarmte er mich. Ich flüsterte ihm rasch zu: "Max ist da."

"Was?" Ich sah, wie er total panisch wurde. "Was macht der denn hier?"
"Meine Güte, er ist oben in meinem Zimmer und macht was am Computer."
Nils' Gesicht war irgendwas zwischen sauer und panisch. Ich weiß nicht, ob es immer noch der Schreck war, die Angst, daß Max irgendwas mitbekommen hat oder ob er einfach nur eifersüchtig war. Ich meinte jedenfalls, daß er sich nicht so affig haben sollte und mit hochkommen soll. Aber er wollte absolut nicht hochkommen und sagte, ich soll ihn anrufen, wenn Max wieder weg ist. Ganz verdattert guckte ich ihm nach.

Naja, sobald Max wieder weg war bin ich zu ihm gefahren. Verdammt inzwischen wird es richtig kalt und Radfahren ist ziemlich nervig. Nils war immer noch komisch. Ich habe fast eine Stunde lang auf ihn eingeredet und ihm erklärt, was Max bei mir wollte.
"Bist du wirklich sicher, daß er nicht mitgekriegt hat?"
"Na klar, Mensch, die Tür war doch zu."
Ich meine, ich will ja auch nicht, daß irgend jemand was mitkriegt, aber so einen Verfolgungswahn wie Nils habe ich nun wirklich nicht. Zum Glück war er dann nach einer Weile wieder ganz der Alte. Wir sind zusammen zum Training getapert und haben sogar gemeinsam trainiert. Jedenfalls so gut es ging, weil, mir tun die Rippen immer noch weh. Aber es ist komisch, jetzt mit Nils zu trainieren. Ich kenne seinen Körper, ich habe ihn überall gestreichelt und geküßt. Und plötzlich soll ich diesen Körper angreifen, auf die Matte kriegen. Nils scheint damit keine Probleme zu haben.
Shit, ich dafür habe ich heute wieder gesagt, daß ich nicht bei ihm schlafe und ich habe gesehen, wie enttäuscht er war. Verdammt, dabei will ich das eigentlich. Eigentlich will ich nichts lieber als das. Aber das muß ich alles vorher irgendwie zu Hause klarmachen. Ich habe es ihm aber für morgen versprochen.
Gerade eben hat er noch mal angerufen. Einfach nur um 'Gute Nacht' zu sagen. Und trotzdem haben wir eine halbe Ewigkeit miteinander telefoniert. Wir wollten gar nicht mehr auflegen.

Dienstag, 29. Oktober 1996

29. Oktober

"Was erwartest du denn? Soll ich dich vielleicht vor allen Leuten abknutschen?" Nils' Ausbruch erwischte mich eiskalt. Ich hatte ihn eigentlich nur gefragt, warum er beim Training so komisch war und so getan hat, als wenn wir uns nicht kennen.
"Du sollst mich doch nicht abknutschen, darum geht es doch nicht, aber...naja, wenn du so tust, als wenn wir uns nicht kennen. Das ist schon komisch."
Er blickte betroffen zu Boden. Zum allerersten Mal, sah ich, daß Nils etwas einzusehen schien. "Wir müssen einfach nur aufpassen", flüsterte er. Ich nahm ihn in den Arm. Er drückte mich und ich schrie auf vor Schmerz. "Mein Gott, ist es so schlimm?"
"Ach nein, es geht schon." Ich spielte den Tapferen. Aber er drückte mich sanft aufs Bett und zog mein Sweatshirt hoch. "Also zu sehen ist nichts." Dann tastete er sanft meine Rippen ab, bis er schließlich die Stelle erreichte, an der es am meisten wehtat. Ich zuckte. "Naja, ich glaube, daß das nur eine Prellung ist." Er küßte mich sanft an der Stelle. Dann schmiegte er sich dicht an mich und flüsterte mir ins Ohr: "Es tut mir leid, daß ich gestern beim Training so komisch war. Aber ich habe einfach Angst daß jemand etwas merkt." Shit, ich kann ihn so gut verstehen. "Es ist schon ok. Du hast ja recht, wenn das hier irgend jemand mitbekommt, daß wir schwul sind, dann Gute Nacht." Er starrte mich an: "Wie du das sagst."
"Was?"
"Du meinst, du bist schwul?"
Ich war verwirrt: "Ja doch, du doch auch, oder was?"
"Ja, nein, ich weiß nicht."
In meinem Kopf begann es sich zu drehen: "Wie? Du weißt es nicht?"
"Mein Gott, ich habe noch nie darüber nachgedacht."
"Wie, was heißt das?"
"Ich meine, naja, heißt das denn gleich, daß man schwul ist, wenn man, wenn man...", er stotterte und ich merkte, wie ich langsam sauer wurde. "Heißt das etwa, daß du dir doch nie darüber Gedanken gemacht hast, WAS du bist? WIE du bist?"
"Doch schon, aber ich denke, das geht vielleicht auch einfach mal vorbei."
"WAS?! Na schönen Dank auch!" schrie ich ihn an. Er zuckte zusammen und ich sah zum allerersten Mal so etwas wie Angst in seinem Gesicht: "Es ist halt einfach nur, es ist so, so neu, es ist alles so neu." Ich blickte ihm in die Augen. Und er schaute zurück. Und ich versank, versank wieder in den Tiefen seiner Augen. Er küßte mich: "Es tut mir leid. Wirklich. Ich habe es nicht so gemeint. Ich hab dich doch wirklich lieb. Und ich will, daß wir zusammenbleiben." Auf einmal schien er mir wie ein kleines Kind, das man trösten muß. Ich nahme seinen Kopf in meine Hände und küßte ihn auf die Stirn: "Ich hab' dich auch lieb." Wenn ich das jetzt so schreibe, dann kommt es mir so kitschig vor. Aber verdammt noch mal, ich liebe ihn wirklich. Jedesmal wenn ich ihn sehe, wenn ich nur an ihn denke, wir mir total heiß.
Wir schliefen in dieser Nacht nicht miteinander. Wir lagen einfach nur da, Arm in Arm und waren glücklich.

Es wurde gerade hell, als ich aufwachte. Ich sah zu Nils wie er friedlich in seinem Bett lag. Das ist mein Junge, dachte ich. Mein Junge, den ich liebe. Und ich bin glücklich. Ich schaute mich in seinem Zimmer um und nahm jedes Detail in mich auf. Ich bemerkte Dinge, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Pokale und Medaillen, ein paar Modell-Lokomotiven, die kleine Sammlung exotischer Cola-Büchsen. Wie, wie nur um alles in der Welt wird es jetzt weitergehen? Werden wir uns weiter verstecken und nur heimlich zusammen sein können. Shit, ich weiß es nicht und wenn ich ehrlich bin, will ich mir im Moment auch keine Gedanken darüber machen. Doch spätestens als ich nach Hause kam, mußte ich mir Gedanken darüber machen. Irgendwann war Nils aufgewacht und wir haben den halben Kühlschrank leer gefrühstückt. Dann mußte ich mich schweren Herzens nach Hause aufmachen. Shit, naja ich wußte, daß Mom heute frei hat. Und dementsprechend nerviges Gerede gab es auch: "Warum hast du nicht Bescheid gesagt, daß du die Nacht über bei deiner Freundin wegbleibst." Rumms, na toll. Am liebsten hätte ich ihr entgegengeschrien, nix von wegen Freundin. Aber ich hielt meinen Mund. Wieso kommt sie überhaupt auf die Idee, daß ich eine Freundin habe? Ich meinte nur, daß es ja wohl nicht so toll ist, wenn ich nachts um Eins zu Hause anrufe und daß ich schließlich Ferien habe. Naja, Mom war jedenfalls den ganzen Tag über sauer. Aber wenn ich ehrlich bin ist es mir ziemlich egal.

Obwohl mir meine rechte Seite immer noch tierisch wehtut, bin ich doch zum Krafttraining gegangen. Aber ich konnte nicht viel machen, nur ein bißchen Beinarbeit. Nils war traurig, daß ich nicht wieder mit zu ihm gekommen bin, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich heute Nacht zu Hause schlafe. Ein langer Kuß voller Angst in einer Toreinfahrt. Schlaf schön, mein Nils. Bis morgen.

Montag, 28. Oktober 1996

28. Oktober

"Mein kleiner Tim!"
Kaum war die Tür hinter uns ins Schloß gefallen, wirbelte mich Nils herum und drückte mich so fest, daß mir fast die Luft wegblieb. "Meine Eltern sind in München. Die ganze Woche." Zum ersten Mal waren wir allein, so allein, daß uns niemand stören konnte. Wir küßten uns eine halbe Ewigkeit, bis er mich schließlich in sein Zimmer zog. Und dann lagen wir in seinem Bett; in diesem Bett, in dem ich schon so viele Male in meiner Fantasie gelegen hatte. Diesmal war es Wirklichkeit. Wir lagen einfach nur da, küßten uns, streichelten uns. Und während wir in unserer ersten Nacht vor allem geil aufeinander waren, so nahmen wir uns jetzt alle Zeit der Welt. Ich spürte so viel Liebe für ihn in mir, ich wollte ihn nie mehr loslassen. Als wir dann erschöpft und keuchend nebeneinander lagen, strahlte er mich an: "Also zu leise bist du nicht." Ich wußte genau, worauf er anspielte und prustete los: "Dann hätten wir vorher vielleicht doch das Fenster zumachen sollen."
"Was?!" Er schreckte hoch und guckte zum Fenster, das natürlich zu war. "Borrh, du hast mir einen totalen Schreck eingejagt. Ich dachte schon, die Nachbarn..." Er sah wie ich grinste und warf sich auf mich: "Du kleines Miststück", schrie er lachend, setzte sich auf meine Brust und hielt mich an meinen Handgelenke fest. "Ich laß dich jetzt nie wieder los." Ich glaube, das wäre mir genauso recht gewesen, doch dann fing er wieder ganz sanft an, mich zu küssen und schließlich kamen wir ein zweites Mal.
"Tim!" Ich schreckte hoch. Draußen wurde es schon dunkel. Wir mußten eingeschlafen sein. "Wir müssen los, zum Training."
"Ach nein, doch nicht heute."
"Na klar, warum denn nicht. Wir waren schließlich eine Ewigkeit nicht mehr da."
Ich wäre so gerne noch neben ihm liegen geblieben. Einfach nur so, hätte ihn neben mir gefühlt, wie er atmet, hätte mein Ohr auf sein Brust gelgt und hätte sein Herz schlagen gehört. Aber nun war Zeit für dieses blöde Training. Wir sprangen unter die Dusche und setzten das halbe Bad unter Wasser. Es fiel mir wirklich schwer, jetzt ans Training zu denken, aber es mußte wohl sein. Wir rasten zu mir nach Hause, ich packte meine Klamotten zusammen und stürmte an meiner verdatterten Mom vorbei wieder raus: "We are the champions!"

"Oh beehren uns die Herren auch mal wieder mit ihrer Anwesenheit. Und dann noch so pünktlich." Dimitri hatte eine Scheißlaune. Zu allem Unglück waren wir eine Viertelstunde zu spät, und so was kann er nun überhaupt nicht ab. Naja was soll's. Ich merkte, wie ich in den letzten Wochen richtig eingerostet war. Und etwas war total komisch. Jedesmal wenn ich zu Nils guckte, sah er in eine andere Richtung. Jedesmal, wenn ich versuchte, in seine Nähe zu kommen, ging er weg. Ich meine, ich wollte ihn ja nun nicht gleidh umarmen, aber daß er absolut so tut, als wenn er mich fast nicht kennt, finde ich schon daneben. Naja, das machte mich total unkonzentriert, was Dimitri wieder aufregte. Zu allem Unglück landete ich nach einem Wurf auch noch so unglücklich, daß ich mir selbst die Faust in die Rippen bohrte. Ich dachte einen Moment lang, ich würde keine Luft mehr bekommen. Als ich mich berappelt hatte, mußte ich erst mal eine Weile lang liegen. Dimitri meinte nur, daß kommt davon, wenn man unkonzentriert ist und nicht richtig fällt. Na toll. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Nils zu mir rüberguckte. So was Blödes, was guckt er und kommt nicht rüber?
Beim Umziehen fragte er mich dann leise: "Ist es schlimm?"
"Es geht so", log ich. Hätte ich ihm sagen sollen, daß es höllisch wehtat?
"Kommst du noch mit zu mir?"
Oh ja, ich wollte nichts lieber als das machen. Auf der anderen Seite mußte ich mich ja irgendwie noch zu Hause abmelden. Also verabredeten wir uns für Zehn.

"Wie du willst heute noch zu einer Party gehen?" Mom guckte mich skeptisch an.
"Na klar, schließlich haben wir Ferien."
"Denkst du nicht, daß du vielleicht mal einen Abend zu Hause verbringen könntest? Schließlich warst du zwei Wochen lang weg." Ich fand das nun wirklich übertrieben, vor allem weil ich ja immerhin gestern abend zu Hause war. Zum Glück hat sie nichts davon mitbekommen, wie sehr mir die Rippen weh tun.

Sonntag, 27. Oktober 1996

27. Oktober

"Ich glaube, du hättest es mir gar nicht sagen brauchen. Wenn man dich so anguckt, dann sieht man es sofort."
Doris und ich blickten aus dem hinteren Ende des Zuges und sahen wie die Schienen sich in der Ferne trafen.
"Was sieht man? Daß ich schwul bin?"
"Daß du verliebt bist, mein Lieber."
"Das sieht man? Woran?"
"Du strahlst so. Du strahlst, als wenn du eine Woche in 'nem Atomkraftwerk zugebracht hast. Nee, aber im Ernst, ich kann es gar nicht genau sagen. Aber ich sehe jedenfalls, daß du glücklich bist."
Ich nickte.
"Bist du dir sicher, daß er wirklich auch schwul ist?"
"Was soll denn diese Frage?"
"Naja, hat er es dir gesagt?"
"Meine Güte, sowas muß man doch nicht sagen. Das merkt man."
"Das merkt man? Nun ja, da hättest du mir vor einer Woche aber noch ganz was anderes zu Nils erzählt."
"Nein, ich meine, wir haben, nun ja, wir haben es miteinander gemacht." Shit, kam ich mir blöd vor. Doris schaute mich verdattert an. "Du bist aber ein ganz Schneller."
"Hey, was willst du, es ist eben passiert. Es ist passiert, weil wir beide es wollten. Und ich glaube, dabei merkt man doch ganz genau, ob jemand schwul ist oder nicht."
"Nun ja, wenn du meinst. Ich kenne mich da nicht so aus."
Ich mußte lachen: "Ich auch nicht." Dann wurde ich wieder ernst: "Es ist halt nur Scheiße, daß wir so höllisch aufpassen müssen, daß uns niemand so sieht. Das ist auch ein komisches Gefühl. Weil ich habe immer den Einruck daß uns alle Leute beobachten. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr richtig, wie wir miteinander umgehen sollen, wenn andere dabei sind."
"Ihr habt Probleme. Genieße es doch einfach."
"Ich genieße es doch auch, ach mir geht es einfach nur gut."
Sie lächelte. Es geht mir wirklich gut. Ich habe einen Freund, ich habe Nils. Ich habe endlich einen Jungen, den ich liebe und der mich auch liebt. Scheiß drauf, daß wir es nicht zeigen können, wenn andere dabei sind. Wir haben uns. Und das ist alles was ich brauche!

Wieder zu Hause in Bergbach. Mein Zimmer erscheint mir so groß und hoch. Post von Phil und Mattteo. An meiner Tür ein Bild von Lisa mit Häusern, Bäumen und einer lachenden Sonne. Mom meint, die Fahrt hätte mir gut getan, ich würde so erholt aussehen und wäre nicht mehr so mürrisch. Mürrisch? War ich mal mürrisch. Na gut, wenn sie meint. Kurz bevor ich ins Bett gehe noch ein Anruf von Nils. Wir konnten uns auf dem Bahnhof nur einen kurzen Blick zum Abschied zu werfen. Wir sehen uns morgen Vormittag bei ihm. Ich bin sicher, daß ich träumen werde. Träumen von Nils.

Samstag, 26. Oktober 1996

26. Oktober

"Tim, aufwachen."
Ein Flüstern, ein sanfter Kuß auf meine Stirn. Nein, es war kein Traum. Ich schlage die Augen auf und blicke in Nils' Gesicht. Er lächelt. Wir liegen in diesem elendig zu kleinen Bett, unsere Sachen auf dem Boden verstreut. Mir ist kalt. Draußen wird es langsam hell. Ich merke, wie diese typische Jugendherbergs-Pferdedecke kratzt und kuschele mich an Nils. "Wir müssen aufstehen, bevor die anderen aus unserem Zimmer wach werden." Ich nicke. Wir ziehen uns an, versuchen den Schrank wieder halbwegs zu reparieren ("Der ist kaputt GEGANGEN"). Draußen auf dem Gang gucken wir uns etwas ratlos an. "Was machen wir denn nun? Wir können doch nicht einfach so ins Zimmer tapern, oder?"
"Dann laß uns wenigstens rasch duschen."
Wir huschen in den Waschraum. Zum ersten Mal seit gestern habe ich Angst, daß uns jemand zusammen sieht. Ständig bin ich mit einem Ohr draußen auf dem Flur. Zum Glück hat irgend jemand sein Duschzeug vergessen, das wir benutzen können. Langsam taut die Wärme der Dusche mich wieder auf. Ich schaue zu Nils rüber. Unsere Blicke treffen sich. Eine lange Umarmung, ein langer Kuß. "Wir müssen aufpassen", flüstert er. Ich nicke. Dann stehen wir da und uns wird plötzlich klar, daß wir keine Handtücher dabei haben. "Ich hole sie", meint Nils, zieht sich seine Shorts an und verschwindet in Richtung Zimmer. Ab heute wird alles anders. Wird ab heute alles anders? Langsam gibt der Wasserdampf den Spiegel frei. Ich kann keine Veränderung an mir feststellen. Das war meine erste Nacht mit einem Jungen. Irgendwie muß ich lächeln. So habe ich sie mir bestimmt nicht vorgestellt. Nur, wie habe ich sie mir überhaupt vorgestellt? Ich blicke wieder in den Spiegel. Bin ich gewachsen? War da schon immer dieses Leuchten in meinem Gesicht? Ich atme tief durch und zum ersten Mal seit, ich weiß nicht wie langer Zeit, kann ich so tief durchatmen wie ich möchte. Nichts zwängt mich mehr ein. Ich fühle mich frei, frei und leicht. Ich glaube ich könnte fliegen.

Nils kommt mit Handtüchern zurück. Inzwischen bin ich schon fast trocken. Bevor wir aus dem Waschraum tapern noch ein Kuß. Wir wissen, daß wir ab jetzt aufpassen müssen.

Im Speisesaal ist noch niemand. Nur in der Küche wird schon rumort. Es ist ein komisches Gefühl. Wir sitzen uns gegenüber und wollen eigentlich so viel miteinander reden doch wir bekommen kein Wort heraus. Ich weiß gar nicht, ob es die Angst ist, etwas Dummes zu sagen, sich zu blamieren oder ob es einfach die Angst vor den Anderen ist, die jeden Moment reinkommen können. Ich stehe auf und gehe zur Tür: "Ich brauche mal ein bißchen frische Luft." Nils guckt mich fragend an, fast ängstlich. Ich beruhige ihn mit einem Lächeln und einem Blick in seine Augen. Dann stehe ich draußen. Die Luft ist salzig. Mir kommt es so vor, als wäre der Wind frischer als sonst. Ich gehe ein paar Schritte. Es ist, als wenn jemand über Nacht einen Schleier zerrissen hätte. Plötzlich erscheint mir alles ganz klar und echt.
Ein paar Mädels kommen mir entgegen. Ich sehe Doris. Ich laufe auf sie zu, nehme sie an der Hand und ziehe sie mit mir. "Was um alles in der Welt ist denn los mit?" Ich laufe hinauf zum Olymp, sie im Schlepptau. Als wir endlich oben sind umarme ich sie einfach. Sie schaut mich verwirrt an: "Geht es dir noch gut?"
"Mir geht es gut, gut, gut, gut, guuuuuut!" rufe ich und wirbele sie herum. "Ich war ein Arsch in den letzten Tagen. Sorry. Aber jetzt geht es mir einfach nur super!" Ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht: "Was ist passiert?"
"ES ist passiert!"
"Und wer ist der Glückliche?"
Ich blicke sie nur lachend an.
"Nein, sag jetzt bloß nicht Nils?"
Ich schweige und strahle nur.
"Das kann doch nicht wahr sein." Sie schüttelt den Kopf. Dann umarmt sie mich und drückt mich kräftig: "Ich freue mich so für dich. Wirklich. Auf daß es ganz, ganz lange so bleibt."

Der Speisesaal ist schon voll. Als ich mit Doris reinkomme zieht er für eine Sekunde lang die Stirn kraus. Dann setzt er wieder sein cooles "Ich-bin-Nils-und-wer-bist-du-Face" auf. Unsre Blicke treffen uns ein paar Mal. Nur kurz, für den Bruchteil von Sekunden. Wir haben beide Angst, daß jemand etwas merkt.


11:30
Gerade eben sind die Bottroper abgefahren. Ich sah Manuel am Fenster des Busses. Und mir war so, als würde er traurig aussehen. Ich merke, wie böse schadenfroh ich bin: 'Ja, verschwinde, verpiß dich, hau ab', denke ich. Ich erschrecke vor mir selbst. Der Bus fährt ab. Nils winkt nicht. Mir geht es gut.


23:50
"Hier treibst du dich also rum."
Nils' Worte kamen kaum gegen den Sturm an. Ich saß am Strand und blickte auf das mondbeschienene silbrige Meer. Nils umarmte mich von hinten und küßte meinen Nacken: "Du wirst dir noch den Tod holen."
"Ach was. Mir passiert nichts. Das Meer beschützt mich."
Er drückte mich fest an sich: "Von jetzt ab", flüsterte er in mein Ohr, "beschütze ich dich."
Ein warmes Gefühl durchströmte mich. Wir küßten uns, rollten uns im Sand. Ich nahm seine kalten Hände um sie zu wärmen. "Wieso", fragte ich, "wieso hast du mir nie etwas gesagt?"
Er zuckte. Nach einer Weile antwortete er: "Wieso hast DU nichts gesagt?"
Ich war verwirrt, daß er mit einer Gegenfrage antwortete. "Ich habe jedenfalls nicht permanent von irgendwelchen Mädchen erzählt." Shit, das klang total zickig und vorwurfsvoll und so hatte er es auch aufgenommen. Er zog seine Hände weg und guckte in eine andere Richtung. "Immerhin warst du es, der mich dazu gebracht hat."
"Ich? Wieso denn ich?"
"Erinnerst du dich an diese eine Unterhaltung nach dem Krafttraining?"
Ich nickte.
"Du hast dich darüber lustig gemacht, daß ich noch Jungfrau bin."
"Ich habe mich nicht lustig gemacht. Ich war nur erstaunt."
Schweigen
"Du willst doch nicht etwa sagen, daß du deshalb angefangen hast, mit Mädels rumzuficken?"
"Tim, du bist ordinär", sagte er angewidert.
Shit, ich konnte wirder meinen vorlauten Mund nicht halten. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Also nahme ich ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an mich: "Es ist doch nur", ich merkte, wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. Ich schluckte. "Ich hab dich lieb. Ich glaube schon seit ich dich das erste mal gesehen habe. Und ich hatte doch keine Ahnung." Ich merkte, wie ich ihn wieder zurück bekam. Ich wollte ihn eigentlich noch so viel fragen. Doch ich hatte Angst, wieder etwas Falsches zu sagen. Und so saß ich einfach da, hielt meinen Nils in den Armen und war glücklich. Irgendwann merkte ich, wie er zitterte. "Du frierst?"
Er nickte. Wir gingen zurück. Kurz vor den Häusern gaben wir uns noch einen langen Kuß. "Ich will dich nie mehr loslassen", flüsterte er.
"Na, in welchem Mädchenzimmer ward ihr denn heute Abend?" fragte Max grinsend. Es schien, als wenn er die letzten Bierreserven aufgebraucht hatte.
"Das, wird nicht verraten", meinte ich, "geniessen und schweigen."


Jetzt ist tatsächlich das Licht aus. Ich schreibe mit Taschenlampe. Nils hat einmal ganz kurz seinen Arm von oben runterhängen lassen. Ich habe seine Hand gedrückt. Ein stummes Zeichen. Schlaf' gut, mein Nils. Ich habe dich lieb!

Freitag, 25. Oktober 1996

25. Oktober

"Tim, ich will jetzt endlich mit dir reden!" rief er. Ich drehte mich um und rannte die Treppe hoch. "Verdammt noch mal bleib' stehen, du Idiot!"
Irgendwo mußte doch noch eine zweite Treppe wieder nach unten führen. Doch da war nichts mehr - ich saß in der Falle. Ich drehte mich um, er hatte mich fast eingeholt. "Soll das jetzt ewig so weitergehen? Ich will mit dir reden." Seine Stimmerte zitterte.
"Es gibt nichts, absolut nichts, worüber wir reden können. Laß mich einfach in Ruhe und verschwinde aus meinem Leben!" Ich versuchte, an ihm vorbeizukommen, doch er hielt mich fest: "Du rennst jetzt nicht mehr weg", zischte er. "Du hörst dir jetzt an, was ich zu sagen habe. Danach kannst du meinetwegen wieder weglaufen, so wie du es ja immer machst."
"Laß mich los, du Arsch", schrie ich und versuchte, mich freizukämpfen. Es war mir egal, ob uns irgend jemand im Haus hörte. Doch er ließ nicht los. Sein Griff wurde nur noch fester und er drückte mich an die Wand. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit ließ mir die Tränen in die Augen schießen. Nein, nur nicht das! Nils sollte mich nicht auch noch heulen sehen. "Laß mich los, laß mich verdammt noch mal los, du Penner!" Ich schaffte es nicht, aus seinem Griff herauszukommen. Er schob mich durch eine Tür in ein leeres Zimmer. Ich landete auf dem Boden, rappelte mich auf und stürzte zur Tür. Doch da stand er und versperrte den Ausgang. Ich war so wütend wie noch nie zuvor in meinem Leben.
"Du verlogener Penner", schrie ich ihn an und trommelte auf seine Brust ein.
"Du kommst nicht eher hier raus, bis ich es dir erklärt habe."
"Was gibt es da zu erklären", ich verschluckte mich an meinen Tränen. Ich versuchte noch mal, gegen ihn anzurennen, doch Nils wirbelte mich herum. Ich fiel gegen den Schrank, der mit lautem Krachen eine Tür verlor. Ein stechender Schmerz zuckte durch meine Schulter.
"Tim, du bist so ein arrogantes Arschloch!" Seine Stimme war eiskalt, ebenso wie seine Augen. Ich kannte diesen Blick. Diese Augen, in denen ich früher immer versinken konnte, waren nun ein Meer von Eis: schwarz und kalt. Ich hatte keine Kraft mehr zu kämpfen und ließ ich mich auf den Boden sinken. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Nils warf hinter sich die Tür zu und kam auf mich zu: "Verdammt noch mal, was ist denn los mit dir?"
"Du bist widerlich", stieß ich heiser hervor, "ihr seid widerlich!"
"Bitte Tim, hör auf damit. Ich dachte du bist tolerant."
"Tolerant? Ich soll tolerant sein? Wenn ich mitbekomme, daß mein bester Freund eine verdammte Schwuchtel ist? Ich könnte einfach nur kotzen, daß du mich die ganze Zeit so hinters Licht geführt hast!"
"Sieh dich doch an. Hätte ich dir das irgendwann etwa erzählen sollen? So wie du dich jetzt aufspulst?"
"Hast du eigentlich noch immer nicht begriffen, was los ist?"
Für eine Sekunde sah ich ein Flackern in seinen Augen. Verdammt, es mußte raus. "Es ist, es ist einfach nur...", ich schluchzte laut, "es ist, weil ich genauso bin wie du...und...und weil ich dich liebe."

Ich sah noch das Erstaunen in seinem Gesicht und dann waren nur noch Tränen. Von irgendwoher drang seine Stimme zu mir: "Du kleiner dummer Junge. Mein kleiner dummer Tim." Ich spürte, wie er meinen Kopf in seine Hände nahm und mich auf die Stirn küßte. Ich hörte den sanften Klang seiner Stimme, ich fühlte seine Lippen auf meinem Gesicht und um mich herum begann sich alles zu drehen. Mein Herz klopfte wie wild und ich zitterte. Doch er hielt mich fest. Seine Lippen auf meinen. Ich weiß nicht, wie lange dieser Kuß dauerte, er schien nie mehr aufzuhören. Ich schaute ihn an: Nils' Augen leuchteten, strahlten. Der glücklichste Moment in meinem Leben. So viel Wärme in mir. Ich versinke in seinen Augen. Es ist, als wenn ich ihm darüber meine ganze Liebe sende. Nils hob mich vorsichtig vom Boden auf, wir legten uns auf ein Bett. Dann spürte ich wieder nur noch ihn. Ich küsste sein Gesicht, seine Stirn, seine Augen. Ich höre seinen Atem und wir bleiben einfach nur so liegen. Ich bin glücklich. Nils legt sein Ohr auf meine Brust: "Dein Herz schlägt wie verrückt", flüstert er. "Wundert dich das?" Ein langer Kuß als Antwort. Meine Finger gleiten unter sein T-Shirt. Dieser Körper, den ich schon unzählige Male gefühlt habe, nun scheint er mir begehrenswerter als je zuvor zu sein. Als ich seine Brustwarzen streife, geht ein Zittern durch seinen Körper, ein leises Stöhnen. Nils streichelt meinen Rücken, ganz leicht schwebt seine Hand. Ich bekomme eine Gänsehaut und schüttele mich. Er lacht: "Du bist ja kitzlig." Ich spiele mit seinen Brustwarzen und er deckt mich mit einer Flut von Küssen zu. "Ich habe Lust auf dich", flüstert er in mein Ohr während er mein T-Shirt auszieht. Nackte Haut auf nackter Haut. So oft schon gefühlt, doch diesmal ist es einmalig. Wir drücken uns aneinander und halten uns fest. Lange. Keiner will loslassen. Und plötzlich haben wir beide Tränen in den Augen. Wir küssen uns wieder und wieder. Meine Hand gleitet langsam nach unten. Als ich seinen Schwanz in meine Hand nehme und drücke, zuckt er wie wild. Wir sind beide so geil, daß wir schon nach kurzer Zeit kommen, gleichzeitig. Das, wovon ich bisher immer geträumt hatte, passiert, mit ihm. Und diesmal ist es kein Traum. Nils ist noch immer da - ich kann ihn anfassen und fühlen. Er hängt krampfhaft in meinen Haaren und stöhnt, ein großes überwältigendes Stöhnen. Sein Gesicht leuchtet auf, als er mich ansieht. Ich fühle so viel Wärme, so viel Glück in mir. Wir drücken uns wieder aneinander und halten uns fest. Ich höre wie sein Atem ruhiger wird und schließlich schlafen wir ein, zusammen.

Donnerstag, 24. Oktober 1996

24. Oktober

14:45
"Heute ist den ganzen Tag Freizeit."
Gottseidank! Ich kann mich absetzen und muß nicht mit den anderen rumturnen. Ich will von niemandem was hören oder sehen. Ich bin zum Strand gegangen. Die Sonne scheint, es ist sogar ein bißchen warm. Eigentlich wäre es ein schöner Tag. Wenn ich nur meinen Kopf endlich leer kriegen könnte. Aber es geht nicht. Jede Sekunde muß ich an alles denken, was ich mit Nils bisher erlebt habe. Ich überlege die ganze Zeit, was ich falsch gemacht habe in der Zeit seit wir uns kennen. Ich spiele jede Situation, jedes Treffen, jede Sekunde noch mal in Gedanken durch. Hinterher bin ich noch ratloser als vorher. Meine Gedanken drehen sich im Kreis und ich komme zu keinem Ergebnis. Es tut einfach so weh! Er tut mir weh! Und dafür hasse ich ihn!

Auf dem Rückweg zum Haus liefen mir alle möglichen Leute über den Weg. Zuerst Reger: "Na, spielst du wieder mal Einzelschicksal?" Ich verzog nur das Gesicht und ging weiter. Dann kam mir Doris entgegen. Ich wolle mich eigentlich bei ihr wegen gestern entschuldigen, aber sie war eingeschnappt und guckte in eine andere Richtung. Na gut, wenn es denn sein soll. Und dann kam auch noch Nils aus der Tischtennishalle. "Tim, ich will mit dir reden."
"Ich wüßte nicht, was wir noch zu bereden hätten." Ich war selbst ganz überrascht, daß ich ihm überhaupt antworten konnte.
"Tim!" er hielt mich am Arm fest.
"Laß mich in Ruhe!" Ich riß mich los und rannte davon. Er kam mir nicht hinterher. Ich rannte ins Zimmer, Max pennte und schnarchte leise vor sich hin. Ich legte mich in mein Bett und begann die Gitterkästchen der Matratze über mir zu zählen.


21:30
Die anderen aus meinem Zimmer sind heute auf der Abschlußparty von den Bottropern. Ich gehe nicht hin. Party ist das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann. Ich bleibe für mich, vielleicht für immer.

Mittwoch, 23. Oktober 1996

23. Oktober

1:30
"Tim warte, ich kann dir das erklären!"
Als wenn ich dafür eine Erklärung bräuchte. Nein, ich will nichts mehr von ihm hören, nie wieder, ich streiche ihn aus meinem Leben, er existiert nicht mehr für mich!

ICH HASSE IHN!!!


7:00
Ich konnte nicht mehr weiterschreiben. Eigentlich kann ich es jetzt auch nicht, aber es muß raus. Ich habe geheult, ich habe geheult wie noch nie in meinem Leben. Ich bin noch nie so verraten worden. Noch nie hat mich jemand so hinter Licht geführt. So belogen und betrogen!

Es war eigentlich ein ganz netter Grillabend. Max schafte es sogar, das Bier unbemerkt zum Grillplatz zu schmuggeln. Wie bei jeder Grillsession, mutierten einige Leute zu echten Holzkohle-Spezialisten und gaben die schrillsten Tips, wie man den Grill nun am besten anzünden und zum Glühen bringen konnte. Naja, dann gab es Gitarrengeklimper, Lagerfeuerromantik, aber ich war irgendwie gut drauf und desshalb war das alles ganz erträglich. Bis Sophie glaubte, eine Ketchup-Flasche noch mal ordentlich schütteln zu müssen. Blöderweise war der Deckel lose, naja, der ganze Mist landete auf meinem Sweatshirt und, was noch viel schlimmer war, in meinen Haaren. Naja, weil alle losgrölten lachte ich mit, eigentlich war es ja auch nicht so wild. Jedenfalls taperte ich vom Grillplatz zum Haus zurück, um mir ein neues Sweatshirt anzuziehen und mir die Soße aus den Haaren zu waschen. Ich ging ins Zimmer, holte mein Handtuch und wanderte zum Waschraum. Vielleicht lag es am Bier, aber es dauerte einen Augenblick, bis ich wirklich verstand was ich da sah: Ich sah ihn. Ich sah SIE BEIDE!!! Ich wünschte, ich könnte dieses Bild für immer aus meinem Gehirn brennen. Da standen sie unter der Dusche, umarmten und küßten sich: Nils und Manuel.

Ich merkte wie mir das Blut in den Kopf schoß. Es rauschte nur noch in meinen Ohren
und ich merkte wie meine Beine anfingen zu zittern. So muß es wohl sein, wenn man ohnmächtig wird. Nur weg, nur raus, dachte ich. Ich drehte mich um und rannte davon. Ich hörte gerade noch, wie Nils rief: "Tim warte, ich kann dir das erklären!" Aber ich wollte nichts mehr hören. Ich lief, ich lief durch die Dünen, zum Strand. Ich rannte, bis ich keine Luft mehr bekam. Ich wollte alles vergessen, jeden Gedanken an Nils, an das, war war aus meinem Kopf löschen. Doch mit jedem Schritt hämmerte es wieder neu in meinem Kopf: "Dieses verlogene Arschloch." Ich muß schon kurz vor Hörnum gewesen sein, als ich endlich kraftlos in den Sand fiel. Meine Lunge brannte, zum ersten Mal seit Jahren hatte ich Seitenstiche. Ich fühlte den kalten Sand, ich schmeckte die salzige Brandung. Kälte und Schmerz, das alles sind mir bessere Gefühle, als das, was sich in meinem Kopf abspielte. Einen Augenblick dachte ich tatsächlich daran, ins Wasser zu gehen, rauszuschwimmen, soweit, bis ich nicht mehr kann, und dann einfach treiben lassen, vergessen, im Meer. Aber ich bin zu feige, oder was weiß ich. Aber ich bin auch zu wütend. Ich glaube, wenn er jetzt vor mir stehen würde, würde ich auf ihn einprügeln bis zum Gehtnichtmehr.

ICH HASSE IHN!!!

Dieses verlogene Stück Dreck! Warum tut er mir das an. Warum hat er mir nicht gesagt, was los ist? Das kann doch nicht wahr sein. Warum ist diese Welt nur so ungerecht zu mir. Was habe ich denn verbrochen? Ich will doch einfach nichts weiter, als jemanden lieben, jemand, der mich auch liebt. Aber nein, ich falle von einem Frust in den nächsten und werde nur noch belogen und betrogen. Ich taperte zurück. Es muß fast Vollmond sein. Der Strand liegt in einem silbrigen Licht. Unter anderen Umständen würde ich nur dasitzen und träumen. Aber nun kreist nur noch diese eine Szene in meinem Kopf. Als ich zurück zum Heim kam, löste sich die Grillparty langsam auf. Ich huschte ins Zimmer, griff mein Tagebuch und verschwand in einem leerstehenden Zimmer. Niemanden sehen, niemanden hören, mit niemandem reden. Die blöden Scherze über das belangloseste Zeugs in der Welt. Ich versuchte zu schreiben, aber es kam nix (siehe oben). Also bin ich noch mal rausgegangen. Habe mich auf den Olymp gesetzt und weitergeheult. Bis ich einfach nur leer war. Ich habe über mein Leben nachgedacht. Über das, was bisher war. Und über das, was vielleicht kommen wird. Soll das jetzt immer so weitergehen? Wird man nur noch frustriert, wenn man schwul ist. Warum kann man denn nicht einfach genauso glücklich sein, wie alle anderen auch?


11:35
"Mein Gott, du siehst ja fürchterlich aus", meinte Doris.
"Wahrscheinlich genauso wie ich mich fühle."
"Was ist denn los?"
"Ich will nicht drüber reden."
"Hey, hast du wieder mal einen von deinen schwulen Zicklaunen?"
"Ach leck mich doch am Arsch!" Ich wollte das nicht sagen, es rutschte einfach so raus. Ich stand vom Frühstückstisch auf und ging nach draußen. Sollen mich doch alle in Ruhe lassen. Ich will nur noch allein sein. Ich brauche niemanden auf der Welt. Wenn ich allein bin, kann mich auch niemand verletzen.
Shit Reger ruft alle zusammen, Ausflug nach Westerland. Ich werde ihn fragen, ob ich hier bleiben kann.


17:50
Nein natürlich mußte ich mit. Nils hat ein paarmal versucht, in meine Nähe zu kommen und mit mir zu reden. Ich habe mich dann einfach umgedreht und bin zu den Anderen gegangen. Am liebsten hätte ich so was rausgebrüllt wie 'Laß mich in Ruhe du schwule Sau!' aber das traute ich mich dann doch nicht. Aber gedacht habe ich es!

Doris spielt die Beleidigte, aber das ist mir inzwischen auch egal. Ich bin sowieso die ganze Zeit nur für mich hinterher getapert. Ein paarmal kam Markus an, aber da ich nix sagte, ist er auch wieder abgezottelt.


23:50
Den Rest des Abends habe ich damit verbracht, Nils aus dem Weg zu gehen. Scheiße, ich weiß auch nicht, wie das jetzt weitergehen soll. Ich weiß nur, daß ich ihn am liebsten nie wieder sehen will. Und sprechen erst recht nicht. Als er eben ins Zimmer kam, guckte er mich fragend an. Aber er konnte natürlich nichts sagen, weil die anderen dabei sein.

Dienstag, 22. Oktober 1996

22. Oktober

"Heute Abend gibt es eine Grillsession", verkündete Reger ganz stolz. Naja, als wenn von uns bisher keiner gegrillt hätte. Max meinte, er würde vorher nach Rantum trampen und Bier besorgen. Ich meinte, daß das doch wieder totalen Streß geben wird, wenn das jemand merkt, aber es war ihm wohl egal. Und er setzte sich tatsächlich nach unserer Abschlußsession ab und tauchte zwei Stunden später mit zwei vollen Tüten wieder. Zum Glück hat ihn wohl keiner gesehen. Überhaupt, unsere Abschlußsession. Doris und ich haben uns echt müde gegeben. Aber Markus war wirklich so bekloppt, er hätte beinahe alles vermasselt. Naja, so haben wir jedenfalls alle noch eine Zwei bekommen. Kann man eigentlich nicht meckern.

Der Basketballkorb ist wieder repariert, also gab es eine Runde nach dem Mittag. Abgesehen davon, daß ich mir fast den Schädel aufgeschlagen habe, weil ich mit so einem bekloppten Bottroper zusammengerannt war, war es eigentlich ganz ok. Manuel hat mich ein paar Mal angezwinkert. Naja, was soll's. Ich glaube ich höre besser einfach auf, hinter bei jedem Jungen zu vermuten, daß er schwul sein könnte.
Jetzt habe ich mal wieder einen der wenigen Momente, in denen ich alleine im Zimmer bin und schreiben kann, träumen kann, einfach die Augen zumachen kann. Ich geniesse diese Zeit. Ich glaube, ich werde noch ne Runde pennen vor dem Grillen heute Abend.

Montag, 21. Oktober 1996

21. Oktober

"Noch so ne Ekeltour."
Naja, diesmal mußte ich Nils Recht geben. Wattwanderungen fand ich noch nie sooo spannend. Aber was soll's. Wenigstens war das Wetter einigermaßen vernünftig. Hinterher im Wattlabor, den Schlick unterm Mikroskop untersuchen. Der Zivi da hat ja wirklich den absoluten Traumjob. Leider ist das so ein Typ, genau wie man sich einen Zivi vorstellt, also nichts niedliches.

Am Nachmittag habe ich lange mit Doris auf dem Olymp gesessen, der höchsten Düne hier. Wir sahen wie der orangenrote Ball der Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand. Meine Güte war das kitschig. Aber es war auch wirklich schön. Wir haben einfach nur dagesessen und fast gar nicht geredet. Aber das war ok so.

Beim Abendessen tierische Aufregung: "Wo ist Max?" Keine wußte was. Alle konnten sich eigentlich nur daran erinnern, daß er im Wattlabor noch mit dabei war. Als die Bottroper feststellten, daß bei ihnen ein Mädel auch nicht zum Abendessen gekommen ist, konnten wir uns unseren Teil schon denken. Naja, wir wurden dann doch noch losgeschickt sie zu suchen. Nur gefunden haben wir sie nicht, sie trudelten aber irgendwann dann von ganz alleine engumschlungen wieder wieder ein. Reger machte tierischen Streß so von wegen vorher abmelden und so weiter. Max zeigte nur auf das über der Tür eingemeißelte: 'Ordnung, Sitte, Tugend, bewahre deutsche Jugend' und stand stramm: "Jawoll, mein Führer!" Naja, das war zuviel für Reger. Es gab ein riesiges Geschrei. Ich habe mich schnellstens abgesetzt. Als Max schließlich ins Zimmer kam, meinte er, er würde einen Eintrag ins Klassenbuch kriegen. Naja, ob sich Reger daran noch erinnert, wenn wir wieder retour sind? "Und, wie ist sie?" wollte Nils wissen. Doch Max lächelte nur vor sich hin: "Ein Gentleman genießt und schweigt", war alles, was er sagte.

Sonntag, 20. Oktober 1996

20. Oktober

"Es regnet!" Nils maulte rum.
"Na und? Du bist doch nicht aus Zucker."
"Das ist doch total uncool."
"Der Einzige, der hier uncool ist, bist du." Daraufhin mußte mich Nils erst mal die Kaimauer längs jagen, bis Reger uns anbrüllte, wir sollten diesen Unsinn lassen und endlich in den Kutter steigen. Wir waren in List, haben uns angeguckt, was dieser Hafen zu bieten hat (nämlich so gut wie nix) und wurden dann in ein Boot verfrachtet. Naja, es kam, wie es kommen mußte. Ein paar Leuten wurde natürlich schlecht, dabei war der Seegang nun wirklich nicht dolle. Doris' Gesichtsfarbe wechselte von Grün zu Gelb und ich wußte nicht, ob das nun daran lag, daß sie schwanger ist oder ob sie tatsächlich seekrank war. Jedenfalls konnte ich Nils ziemlich verarschen, weil ich meinte, so eine Fahrt wäre doch ideal, um den Gleichgewichtssinn für's Ringen zu trainieren. Aber er fand es nicht so witzig sondern starrte nur verbissen auf den Horizot. Um den Streß noch perfekt zu machen, gab es noch eine tolle Seetiersession, wo uns all das erklärt wurde, was mit den Netzen nach oben geholt wurde. Als wir wieder anlegten ging ein großes Aufatmen durch die Reihen; ich konnte mir allerdings pas Grinsen nicht verkneifen. Ich glaube, das war leider die letzte Bootsfahrt auf dieser Reise.

Dafür gab es dann noch eine Nachtwanderung. Ich weiß noch, wie spannend ich Nachtwanderungen immer in der Grundschule fand. Naja, jetzt ist irgendwie das Gruseln und die Spannung vorbei. Obwohl natürlich eine der ortsüblichen Horrorstories erzählt wurde, vom Piraten, der seine Bark auf's Kliff gesetzt hatte und einen Schatz in den Dünen vergraben hat. Dann hackte man ihm ein oder zwei Arme ab und steckte sie auf eine Düne als Abschreckung. Naja, tolle Geschichte, damit kann man wirklich nur noch Grundschüler erschrecken.

Samstag, 19. Oktober 1996

19. Oktober

"Partytime."
"Und wenn schon."
"Hey, was ist denn los?"
Wenn ich das wüßte. Obwohl, eigentlich weiß ich es ja. Ich fühlte mich wieder einmal total fehl am Platz. Große Party zusammen mit den Bottropern. An die 60 Leute feiern Party, haben Fun. Selbst Doris scheint sich prächtig zu amüsieren. Und ich, ich langweile mich und merke, wie ich zunehmend sauer werde. Also habe ich mich abgesetzt. Sitze am Strand und merke, wie die Kälte in mir hochsteigt. Doch diesmal geht es mir nicht mehr gut. Ich fühle mich allein. Ganz allein auf der Welt. Alle Leute können Spaß haben. Nur ich habe niemanden. Und ich merke, wie ich sauer werde. Sauer auf alle anderen, die sich amüsieren, für die das ganze Leben kein Problem ist. Oh, da sind niedliche Mädels im Nachbarhaus? Na klar, laß uns rübergehen und sie anbaggern. Und ein paar Tage später sitzt man knutschend in der Ecke. Es könnte alles so einfach sein. Doch warum ist es für mich nicht so einfach? Warum verdammt noch mal, bin ausgerechnet ich schwul? Was habe ich denn verbrochen? Irgendwann halte ich die Kälte nicht mehr aus. Mit Tränen in den Augen gehe ich zurück zum Haus. Zum Glück bemerkt mich niemand. Ich gehe auf's Zimmer und heule. Heule und merke überhaupt nicht, daß jemand reinkommt: "Hier steckst du. Was ist denn los mit dir?" Doris stand in der Tür. "Es geht mir einfach nur nicht besonders."
Sie schaltet das Licht an, sieht meine Tränen. "Du meine Güte, was ist denn passiert?"
"Es ist nichts passiert. Es ist einfach nur wie immer, das ist es."
"Ach komm, willst du hier im Zimmer bleiben und still vor dich hinheulen?"
"Soll ich vielleicht mit den anderen Party machen und mit irgendwelchen Mädels rumbaggern?"
"Du könntest ja mit Jungs rumbaggern."
"Sehr witzig. Du bist ja ne tolle Hilfe."
"Verdammt noch mal, du gehst mir langsam echt auf die Nerven mit deinem ewigen Selbstmitleid."
"Oh, entschuldige, daß ich überhaupt lebe."
"Denkst du denn, du bist die einzige Person auf der Welt, die Probleme hat?"
"Na ich glaube, DIE Probleme hat hier jedenfalls niemand anderes."
"Siehst du, genau das ist es. Es geht immer nur um dich. Deine Probleme, darum wie es dir geht, wie alleine du dich fühlst. Vielleicht fängst du mal an, etwas daran zu ändern."
"Oh ja, und wie?"
"Was weiß ich! Ich bin nicht dafür da, deine Probleme zu lösen!"
Eigentlich wollte ich was antworten, aber sie hatte schon die Tür zugeworfen. Da saß ich wie der absolute Depp. 'Denkst du denn, du bist die einzige Person auf der Welt, die Probleme hat?' Was hatte sie denn damit gemeint. Hat sie denn irgendwelche Probleme? Mir ist jedenfalls noch nie was in der Richtung aufgefallen.
So eine Scheiße. Ich gehe ihr hinterher aber sie ist nicht bei den anderen. Ich gucke draußen. Nichts zu sehen. Dann finde ich sie endlich am Watt. "Was ist denn los mit dir", will ich wissen
"Ach vergiß es. Du wirst es sowieso noch früh genug erfahren."
"Was denn? Hast du Streß mit Clemens?"
"Nein, wirklich nicht. Naja, eher im Gegenteil."
"Im Gegenteil?" Ich hasse es, wenn Leute in Rätseln und Andeutungen reden. Na toll, dann antwortet sie auch nicht mehr. Ich stelle mich direkt vor sie hin: "Also, du sagst mir jetzt sofort was los ist." Wow, das klingt wirklich dramatisch, fast wie im Film.
"Spätestens im April weiß du es."
"April, April, was ist im April?" Langsam vermutete ich was, doch das war eigentlich undenkbar. Doris grinste mich an: "Nicht nur schwul, sondern auch ein bißchen blind, was?"
"Borrh", was machte sie die Sache denn so spannend. Ich war wirklich nahe dran, sie hier stehenzulassen.
"Ich bin schwanger."
"Was bist du? Schwanger?" Ich mußte wieder mal gebrüllt haben, denn sie meinte: "Schrei' doch noch lauter, damit es gleich die ganze Insel weiß."
"Ich meine...", ich fing an zu stottern, "schwanger, wieso schwanger?" Eine unglaubliche Vorstellung. Weil schwanger wird man doch mit Mitte, Ende Zwanzig, wenn man mit der Schule oder dem Job fertig ist, aber doch nicht in der elften Klasse!
"Na wieso schwanger ist ja eine selten bekloppte Frage. So was solltest selbst du als Schwuler wissen, wie das funktioniert."
"Na klar weiß ich das, aber wieso, ich meine warum? Man kann doch die Pille nehmen."
"Du Chauvi. Man kann nicht die Pille nehmen...frau muß die Pille nehmen, oder auch nicht." Ach herrjeh, jetzt hatte ich ja was gesagt. Darauf wollte ich mich nicht einlassen und fragte sie: "Und wann ist es soweit?"
"Irgendwann Ende April." Irgendwie fand ich es toll, wie coll sie damit umgeht. "Weiß Clemens es schon? Und deine Eltern?"
"Ja, na klar."
Sie erzählte mir, daß ihre Eltern wohl total locker reagiert hätte. Sie würden sich wohl Sorgen wegen der Schule machen, aber nachdem Doris ihnen gesagt hat, daß sie auf jeden Fall ihr Abi zu Ende machen will, waren sie wohl beruhigt. Und Clemens freut sich wohl wie ein Schneekönig.
"Und wann willst du es in der Schule sagen?"
"Ich weiß noch nicht, ein, zwei Monate würde ich schon noch warten wollen." Ich wollte sie eigentlich noch so viel fragen, zum Beispiel, wie man sich so fühlt, aber irgendwie hätten alle Fragen total blöde geklungen. Doch, eine Frage konnte ich nir nicht verkneifen: "Weiß du schon, was es wird? Junge oder Mädchen?"
"In drei Wochen beim Ultraschall erfahre ich es, wenn ich es will."
"Und willst du?"
"Ich weiß noch nicht."
Irgendwie finde ich das Ganze total cool. Heee, Doris kriegt ein Baby. Es fällt mir schwer, mir sie mit Kinderwagen vorzustellen.
"Warum hast du denn vorhin von Problemen geredet? Es sieht so aus, als wenn du das alles ziemlich locker siehst."
"Ja eigentlich schon. Aber manchmal ist mir halt einfach nur kotzübel, ich hab Bauchschmerzen und so weiter. Und manchmal kriege ich richtig Depressionen und Panik."
Ich nahm sie in den Arm und drückte sie. Ganz vorsichtig, ich weiß ja nicht, ob man da das Baby eventuell mit eindrückt: "Tut mir leid, daß ich dich vorhin so angeschrien habe", flüsterte ich. "Schon ok", lächelte sie, "du darfst auch mal babysitten, wenn es da ist." Nun ja, ich gebe zu, die Aussicht, daß ICH mit einem Kinderwagen durch die Gegend schiebe finde ich nicht so aufregend.

Freitag, 18. Oktober 1996

18. Oktober

"Wir sollten wenigstens etwas trainieren."
"Ach ja? Und was? Und vor allem wo?"
"Dann holen wir einfach die Matratzen aus den leeren Zimmern und legen die aus."
Flos Idee. Aber sie war gar nicht so schlecht. Und während die anderen im Tagesraum irgendwelche albernen Gesellschaftsspielchen machten, veranstalteten wir Ringer unsere kleine private Trainingssession. Danach geht es mir jetzt wirklich wieder besser. Max meinte sogar, daß ich in der letzten Zeit viel besser geworden wäre. Jedenfalls bin ich dann hinterher noch mit ihm eine halbe Stunde lang am Strand gejoggt. Dann noch einmal quer durch die Dünen und als wir wieder am Heim ankamen waren wir wirklich fix und alle. Aber es tat gut, wieder mal alles durchzupusten.

Donnerstag, 17. Oktober 1996

17. Oktober

"Fußball oder Volleyball?"
"Nix von beiden."
"Nix gibt es nicht. Für eines mußt du dich entscheiden."
"Das ist doch beides total daneben."
Mannschaften bilden für Sportwettkämpfe mit den Bottropern. Wenn wenigstens noch Basketball zur Auswahl gestanden hätte, aber nein, ein Korb kaputt, also entweder Volleyball oder Fußball. Ich habe mich dann für Volleyball entschieden. Habe mir dabei beinahe sämtliche Finger gebrochen (naja, das heißt meinen linken Mittelfinger ziemlich doll verstaucht) und erwartungsgemäß hat natürlich meine Mannschaft auch verloren. Das interessierte mich eigentlich auch nicht sonderlich. Naja und Volleyball habe ich ja auch nur deshalb genommen, weil in der Bottroper Mannschaft so ein niedlicher Typ war. Wo ich mich natürlich wieder mal nicht getraut habe, ihn anzusprechen. Wenigstens weiß ich schon mal, daß er Manuel heißt.
Ansonsten gibt es heute Abend eine Nachtwanderung. Hoffentlich regnet es nicht.

Mittwoch, 16. Oktober 1996

16. Oktober

"Ich hätte nicht gedacht, daß du so ein Langweiler bist."
Das war Nils. Ganz toll. Meine Stimmung ist mal wieder auf dem Nullpunkt. Die anderen sind zu den Mädels von der Bottroper Gruppe zum anderen Haus rübergeschlichen. Ich bin hiergeblieben. Als wenn es DAS Spannendste überhaupt wäre, irgendwelche Mädels zu besuchen. Ich finde das nun wirklich total albern. Naja, so habe ich wenigstens ein bißchen Zeit für mich und Zeit zum Schreiben. Das ist wirklich ziemlich nervig hier, daß ich eigentlich nie etwas Ruhe für mich habe. Einfach nur zum Träumen oder zum Nachdenken. Entweder ist Projektprogramm angesagt, wo natürlich alle dabeisein müssen oder es ist ein gemeinsamer Ausflug. Naja und da kann ich mich natürlich auch nicht absetzen. Und wenn wirklich mal ein bißchen Freizeit ist, stürmt garantiert alle fünf Minuten irgend jemand ins Zimmer.

Markus in meiner Projektgruppe zu haben war ja nun die falscheste Entscheidung überhaupt. Der Typ ist ja echt 'n Happen dusselig. Doris und ich gucken uns immer nur an und wissen nicht, ob wir laut loslachen oder ausrasten sollen. Echt daneben.

Dienstag, 15. Oktober 1996

15. Oktober

"Was soll denn an dieser Pampe biologisch sein?"
Wattwanderung zur Einstimmung auf unser Projektthema. Naja, nichts Neues. Der Rest war natürlich permanent am Nörgeln und am Rum-Iiihen. Ansonsten ist alles wie erwartet. Die Fahrt, das Heim, das Wetter. Ich bin mit Nils, Flo, Max und Chris in einem Zimmer. Max mußte natürlich gleich gestern schon abchecken, wo es Bier zu organisieren gibt. Jedenfalls ist alles heute noch ziemlich chaotisch. Ich habe es jetzt gerade mal geschafft, mich für eine halbe Stunde abzuseilen und an den Strand zu gehen. Es ist kalt, es ist wirklich bitterkalt wenn man so auf dem Sand sitzt. Aber eigentlich kann ich es ganz gut vergessen. Ich lasse den Sand durch meine Finger rieseln. Gehe runter zum Wasser, rieche das Meer. Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich im Moment schreiben soll. Mir geht es irgendwie gut. Es ist, als wenn ich zu Hause bin und obwohl es kalt, naß und windig ist, fühle ich mich wohl.

Montag, 14. Oktober 1996

14. Oktober

"Und paß auf dich auf."
Ja, ja. Ich kann mich gar nicht mehr richtig an meine letzte Klassenfahrt erinnern. Ich weiß nur, daß ich es damals schon total nervig fand, mit meinen Eltern und allen anderen in einem riesigen Pulk dazustehen und zu warten, bis endlich der Bus kommt. Ich finde Familie ist so etwas persönliches. Da soll eigentlich nicht unbedingt die ganze Klasse daran teilhaben.

Naja, wie auch immer. Hier warteten wir nicht auf den Bus sondern auf den Zug. Und der kam zum Glück pünktlich. Rasche Verabschiedung, Lisa fängt an zu weinen. Ich drücke sie noch mal kurz zum Abschied und verspreche ihr, daß ich ihr eine große Postkarte schreiben werde. Mom läßt ihren Standardsatz los. Dann werde ich schon von den nächsten Verabschiedern zur Seite geschoben. Dann Abfahrt. Ich lasse mich in den Sitz fallen und grinse Doris an: "Jetzt kann's losgehen."
"Ja, das befürchte ich auch", seufzt sie.

Sonntag, 13. Oktober 1996

13. Oktober

2:45
"Und?"
Nils grinste mich fragend an. Ich wußte überhaupt nicht, was er meinte.
"Wahrscheinlich habt ihr gewonnen, wie zu erwarten."
"Ach was, ich meine, ja na klar. Aber was ist mit DIR?"
"Wie mit mir?" Ich checkte immer noch nicht, was er eigentlich wollte.
"Na dein Date."
"Oh Mann, ist dir jetzt der letzte Rest an Hirn ausgelaufen? Das war ein ganz normales Date, wir haben im Quarks gesessen, gequatscht und das war alles."
"Und wann siehst du sie wieder?"
"Naja, wahrscheinlich erst nach Sylt."
"Meinst du denn, es wird was?"
"Was soll denn werden?"
"Ich glaube DU bist derjenige, dem das Hirn ausgelaufen ist. Mein Gott, bist du lahmarschig."
"Hey, paß mal auf, ich treffe mich, mit wem ich will und rede worüber ich will und mache was ich will." Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust mehr, mit ihm was an diesem Abend zu unternehmen. "Kannst du nicht mal", fuhr ich fort, "einfach verstehen, daß ich nicht sofort mit einem Mädel ins Bett springe, nur weil ich mich einmal mit ihr getroffen habe."
"Du bist seltsam."
"Ich bin seltsam?!" schrie ich. Max guckte zu uns rüber und blickte mich fragend an. "Wieso bin ich seltsam?"
"Weil du so rumbrüllst, zum Beispiel."
Ich wollte ihm eigentlich noch so viel an den Kopf werfen. Statt dessen seufzte ich: "Wenn du meinst." Es war mir inzwischen egal. Ich wußte, daß ich ihn nicht ändern würde. Aber es ärgert mich, daß wir uns beinahe jedesmal, wenn wir uns sehen streiten. Ich weiß gar nicht, seit wann das so ist.

Dafür war der Rest des Abends ganz ok. Wir haben erst was bei McDonald's gegessen. Nils meinte zwar, Dimitri würde tierischen Ärger machen, wenn er uns hier erwischen würde ("zu viel Salz, zu viel Fett"), aber das war uns eigentlich ziemlich egal. Der Film war auch ok. Das Komische war nur, daß wir das Kino fast für uns alleine hatten. Ich meine, es war zwar die Spätvorstellung, aber wenn ich daran denke, wie rappelvoll die immer in Hamburg waren. Naja, hier ist halt Dorf. "Warum wird ein Schutzschild auf einem Jäger vom Mutterschiff gesteuert?" Hilfe, nicht solche Diskussionen! "Damit man ihn per Computervirus ausschalten kann?"
"Und warum...?"
"Vergiß es", schrie ich ihn lachend an, "Mensch das ist ein Sciene Fiction, hör' auf, darüber nachzudenken."
"Na gut. Gehen wir noch in die Tofa?"
"Jetzt? Es ist halb zwei."
"Na und, ich bin total munter."
Also taperten wir noch zur Tofa. Aber da war total tote Hose, so daß wir dann doch nach Hause gegangen sind.


20:30
So, nun ist alles gepackt und verstaut. Ich werde dieses Tagebuch hier auch wegschließen und nicht mitnehmen. Wer weiß, wie wir da untergebracht sind. Da kann ich es bestimmt nicht sicher verstauen.

Samstag, 12. Oktober 1996

12. Oktober

16:20
"Es ist Oktober!"
"Ja und?"
"Wofür willst du denn so viel T-Shirts mitnehmen?"
Toll, richtig super. Ich soll meine Tasche für Montag packen und dann gibt's auch noch Streß, was ich einpacke. Also die meisten T-Shirts wieder raus, Sweat-Shirts rein. So wie ich die anderen kenne, werden wir sowieso kaum draußen sein. Die kriegen ja schon beim leisesten Windstoß nen Rappel. Naja, was soll's. Den Rest des Tages hab ich damit verbracht, meine persönlichen Sachen im Zimmer zu verstecken oder wegzuschließen. Zwischendurch rief noch Doris an und jammerte mich voll, daß sie mal wieder gar keine Lust hat, mitzufahren. Ich sagte ihr, es kommt überhaupt nicht in Frage, daß sie hier bleibt und habe aufgelegt. Ich glaube ich bin wirklich der Einzige, der sich auf die Fahrt freut.

Phil hat angerufen und mir eine gute Fahrt gewünscht. Irgendwie scheint er mir nicht nur vom Ort her immer weiter weg zu sein.

Ich werd' jetzt erst mal meinen Walkman nehmen und ein bißchen durch die Gegend tapern.


19:25
Bergbach im Herbst ist frustrierend. Noch frustirerender als sowieso schon. Grau und öde drückt es total auf die Stimmung. Ich glaube, wenn ich heute nicht noch mit Nils ins Kino gehen würde, dann würde ich jetzt in mein Bett kriechen und nur noch schlafen wollen. Und träumen. Träumen vom Sommer, von Italien, vom Strand, von Matteo, der schon ewig nicht mehr geschrieben hat. Das Blöde ist, ich weiß gar nicht genau, wann sie überhaupt von ihrem Kampf zurückkommen. Ich habe gerade bei Nils angerufen aber es geht niemand ran. Naja, ich glaube ich tapere aber doch schon mal zur Trainingshalle.

Freitag, 11. Oktober 1996

11. Oktober

"Hey, kommst du mit ins Kino?"
"Nee, ich hab schon ein Date heute."
"Mit wem denn?" Nils legte den Kopf zur Seite und kniff grinsend die Augen zusammen.
"Kennst du nicht." Das stimmte ja nun nicht ganz, aber bisher hat dieser Spruch immer noch gewirkt.
"Ach komm, los, erzähl."
Ich seufzte. Naja, von mir aus. Soll er es halt wissen. Macht ja auch nix aus. Als ich es ihm gesagt hatte, wurde sein Grinsen noch breiter: "Na dann viel Spaß."
Mir war schon klar, was sein unverschämtes Grinsen bedeutete. Verdammt noch mal, irgendwie können manche Leute nicht verstehen, daß man einfach nur so mit einem Mädel zusammen sein kann, ohne mit ihr ins Bett zu hüpfen.
"Laß uns morgen gehen."
"Morgen haben wir Auswärtskampf."
"Na denn danach. Was wolltest du überhaupt angucken?"
"Independence Day."
"Gehen wir halt in die Spätvorstellung."
"Wenn du noch fit bist."
"Ich schon, ich stehe ja nicht auf der Matte."
"Das findest du wahrscheinlich auch noch gut, oder?"
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich auch dazu noch sagen. Mir ist es nach der letzten Blamage sehr recht, daß ich mich mit öffentlichen Kämpfen zurückhalten kann.

Den größten Teil des Schultages verbrachten wir damit, Vorbereitungen für die Syltfahrt zu treffen. Eigentlich wäre so viel ja gar nicht vorzubereiten gewesen, aber unsere Lehrkörper wollten alles so perfekt wie möglich haben.
Mom war zu Hause auch so. Sie meinte, ich soll doch schon mal mit dem Packen anfangen, und überhaupt, was ich denn mitnehmen will usw. Ich habe ihr gesagt, daß das alles noch Zeit hat und sich schon irgendwie regeln wird. Na mal sehen.

Der Abend mit Anica war sehr nett. Eigentlich wollten wir ja ins Tofa-Café gehen, aber dann sind wir doch ins Quarks gegangen. Wir haben uns von Anfang an richtig gut unterhalten. Ich weiß gar nicht mehr worüber alles. Aber es lief ganz automatisch. Manchmal, wenn man mit Leuten zusammen ist, dann sucht man krampfhaft nach irgendeinem Gesprächsthema. Hier war es wirklich so, daß wir von Anfang bis Ende miteinander gesabbelt haben.

Donnerstag, 10. Oktober 1996

10. Oktober

"Hier, nimm das eine Stunde vor dem Training. Das hilft gegen die Schmerzen und die Schwellung."
Max hielt mir zwei Tabletten hin.
"Und was ist das?"
"Na was gegen die Schmerzen und gegen die Schwellung. Was genau, weiß ich auch nicht. Übrigens, kann ich heute nach dem Training zu dir kommen? Ich muß meine E-Mails checken."
"Von mir aus. Wenn mich Dimitri nicht wieder rauswirft."
"Ach Quark, wenn du die Dinger vorher nimmst, kannst du laufen wie vorher."
Naja, ein bißchen mulmig war mir schon, weil ich ja nun auch nicht wußte, WAS das eigentlich war, was er mir gegeben hatte. Aber es stimmte. Die Schmerzen gingen weg, ich konnte wieder auftreten, sogar wieder rennen. Dimitri guckte mich immer noch böse an, aber als er sah, daß ich wieder voll einsatzfähig war, brummte er nur "Mach das nicht noch einmal. Du bist ein Ringkämpfer. Ein Ringer macht nicht so einen Kinderkram." Hm, na toll. Nils grinste nur dämlich. Ich hätte ihm eine runterhauen können. Naja wie auch immer, Max ist noch nach dem Training mitgekommen. Hat an meinem Computer rumgewurschtelt, seine E-Mails abgeholt und auf Diskette gespeichert. "Mit wem schreibst du dich denn da?"
"Ein paar Kumpels, von denen ich Warez bekomme?"
"Was bekommst du?"
"Warez, Software, naja mußt du sowieso nicht alles wissen."
Ach ja? Na toll, aber meinen Computer darf ich zur Verfügug stellen, oder was? Aber ich kann gar nicht richtig sauer auf ihn sein, nachdem was ihm alles passiert ist. Jedenfalls weiß ich jetzt ein bissele mehr über das Internet.

Mittwoch, 9. Oktober 1996

9. Oktober

14:30
"Na, hat der gnädige Herr wieder mal schlechte Laune?"
Moms Sarkasmus war gerade das, was mir an diesem Morgen noch gefehlt hatte. Ich wollte ja eigentlich explodieren. Aber ich sah, was Dad für ein Gesicht machte. Stimmt ja, heute ist wieder eine Betriebsversammlung wegen dem Sanierungsplan. Also lieber nicht auch noch Streß zu Hause machen. Ich hab also meinen Ärger runtergeschluckt.

Zwei Stunden Englisch-Vertretung. Markus und ich haben beschlossen, die Stunden zu schwänzen und sind statt dessen in richtig Markplatz gezogen. Markus bearbeitete jeden Bordstein, jede Stufe und jeden Poller mit seinem Board. Ich saß daneben und fragte mich, ob das Ding wohl unter seinen Füßen festgeklebt wäre. Irgendwann kickte er es in meine Richtung: "So jetzt du." Mir war klar, daß das eigentlich eine Ehre war. Das hat mir mal Chrille in Hamburg erzählt, daß kein Skater sein Board hergibt.
"Ich kann nicht boarden."
"Blödsinn, los probier's mal."
Naja, ich mach mich zum Löffel und stelle mich rauf und lege los. Das heißt, besonders weit bin ich nicht gekommen. Erfolg der Aktion: Eine eingesaute Hose, ein umgeknickter Knöchel und ein sich totlachender Markus. Super, DAS habe ich natürlich noch gebraucht. Aber irgendwie war sein Lachen so ansteckend, daß ich gar nicht anders konnte und mitkicherte. Das Blöde ist nur, daß mir mein Knöchel immer mehr wehtut und ich jetzt zum Training muß. Ich glaube ich mache vorsichtshalber eine Binde rum.


23:55
"Du hast WAAS?" Dimitri schrie mich fassunglos an. "Bist du denn von allen Guten Geistern verlassen? Jesus und Maria. Stellt sich dieser Junge auf ein Skateboard und bricht sich die Knochen." Ich wollte ihm eigentlich sagen, daß ich mir keinen einzigen Knochen gebrochen hatte sondern nur umgeknickt war, aber ich schwieg lieber. Wenn er so in Aufregung ist, duckt man sich am besten und sagt gar nichts. Nur leider half das nix. "Ab nach Hause, und komme erst wieder, wen du vernünftig laufen kannst." Er hatte mich rausgeworfen, er hatte mich allen Ernstes aus der Halle geworfen, aus dem Training geworfen, nur weil ich meinen Fuß verknackst hatte. Ich kam mir wieder einmal vor wie ein kleines Kind. Doch ich schluckte meinen Ärger runter. Ich guckte in die Runde, ob vielleicht einer mir half. Nein, niemand, nicht mal Nils guckte zu mir rüber. Na toll, super Freunde, tolle Kumpels. Ich bin dann natürlich abgedackelt, nach Hause gehumpelt. Mein Knöchel tut natürlich immer noch tierisch weh. Aber daß mich Dimitri rausgeschmissen hat, tut mir noch viel mehr weh. Und daß mir keiner geholfen hat. Eben hat Nils angerufen. Ja, jetzt, nach dem Training. Ich soll das nicht so schlimm sehen. ICH? Hab ich diesen Aufriß gemacht. Irgendwie habe ich den Eindruck, als wenn alle Leute um mich herum total verblödet und abgedreht sind.

Dienstag, 8. Oktober 1996

8. Oktober

14:45
"Ciao, mach's gut, Kleiner."
Oh Shit, ich war kurz davor zu heulen. Phil ist heute abgefahren, zurück nach Hamburg. Anfang November muß er zum Bund. Nach Lüneburg. Nicht mal zur Marine, nein, zu irgendwelchen Panzern. So eine Scheiße. Ich wünschte ich hätte vorher noch mal Zeit gehabt, mit ihm zu reden. Naja, was heißt Zeit. Zeit hätte ich wahrscheinlich gehabt, aber ich weiß nicht. Vielleicht sind mir einfach zu viele andere Sachen durch den Kopf gespukt.

Gerade eben hat Anica angerufen. Wir haben uns für Freitag verabredet, sie haben wohl ein großes Schulfest bei ihr. So, jetzt muß ich los zum Krafttraining.


23:20
Shit. Ich fühle mich total beschissen. So was ist mir ja noch nie passiert: Das Krafttraining war so wie immer, nichts besonderes passiert. Nils war wie immer, naja das Übliche halt. Ich weiß gar nicht, was über mich gekommen ist. Als ich auf dem Heimweg war, wurde ich plötzlich geil. Ja, ich hatte wirklich Lust auf einen Typen. Ich weiß, es war völlig daneben, aber ich bin zum Bahnhof getapert. Eigentlich hasse ich diese öffentlichen Klos. Nicht nur eigentlich, ich hasse sie wirklich, es stinkt total, alles ist mistig und man möchte sich am liebsten alle paar Sekunden die Hände waschen. Aber verdamt noch mal, was sollte ich denn MACHEN? Ich hatte echt Bock auf eien Typen und nicht nur auf's Alleinemachen. Ok, da war auch tatsächlich einer. Und er sah sogar ganz ok aus. Älter aber total muskulös, soweit ich das beurteilen konnte. Und er war schwul, das war klar. Aber er guckte die ganze Zeit nicht einmal richtig zu mir rüber. Ich ging ein paar Mal in die Kabine und hoffte er würde hinterherkommen. Schließlich war ja auch niemand anderes da. Aber dieser Penner machte nix, gar nix. Als ich nach dem dritten Mal (bin ich blöd!!) aus der Kabine kam, kam er endlich auf mich zu. Ich Idiot dachte schon 'Na endlich.' Pustekuchen. "Vergiß es einfach", sagte er, "werde erst mal ein Mann und erwachsen." Und damit verschwand er einfach. Und ich, ich Depp stand da, mit meinem Ständer in der Hose und guckte ihm nach wie ein Blödi. Dieser Arsch, fast fällt diesem Penner eigentlich ein. Ich bin jetzt noch total sauer auf ihn. Ich meine, wenn er gesagt hätte, daß er keine Lust hat, ok, aber warum geht er dann überhaupt dahin? Aber nein "werde erst mal ein Mann und erwachsen" was bildet sich der Typ überhaupt ein? Ich mußte mich bemühen, als ich nach Hause gekommen bin, nicht mit der Tür zu schmeißen, so sauer war ich, nein bin ich noch. Ich stelle mich nackt vor dem Spiegel. Verdammt noch mal, was gibt es eigentlich daran auszusetzen? Warum will mich kein anderer Typ? Ich verstehe es nicht!!!

Montag, 7. Oktober 1996

7. Oktober

"Hast du schon gehört?"
"Was?"
"Max will mit dem Ringen aufhören."
Ich nickte und war gleich verärgrt. Max hatte mir das angeblich im Vertrauen erzählt, so mit dem Unterton, es niemandem weiterzuerzählen. Und nun? Jetzt quatscht mich schon Nils darauf an. Tolles Geheimnis. Naja, was soll's.
"Wenn er das macht, ist er weg vom Fenster."
"Wie meinst du das?" wollte ich wissen.
"Na du glaubst doch nicht, daß er danach wieder irgendein Bein auf den Boden bekommt. Ringertechnisch gesehen."
"Vielleicht will er das ja gar nicht."
"Noch schlimmer, ein Loser, einer der aufgibt."
"Ach nun komm, es ist seine Entscheidung. Hör auf zu motzen."
Nils zuckte nur mit den Schultern. Ich konnte mir denken, daß Max nun für ihn für immer und ewig abgeschrieben war.

"Was schüttelst du den Kopf?" Das war Doris
"Ach nix, Nils ist wieder am rumspinnen."
"Das ist ja nix Neues", grinste sie. "Magst du heute mit ins Kino kommen?"
"Heute? Nein, heute ist doch Training."
"Ach herrjeh, wie konnte ich DAS vergessen. Wann hast du eigentlich mal kein Training?"
"Sonntags zum Beispiel."
"Na toll. Ich glaube, Nils ist nicht der Einzige der rumspinnt." Damit zog sie ab. SUPER ich bin entweder von lauter engstirnigen oder rumzickenden Leuten umgeben.

Unspektakuläres Training. Bis auf Nils' Frage, ob ich beim Ostalb-Turnier mitmachen werde. Ich muß ihn wohl ziemlich blöd angeguckt haben, denn es folgte ein halbstündiger Vortrag über die wichtigsten regionalen und überregionalen Turniere. Hinterher war ich zwar nicht wesentlich schlauer aber dafür um einiges verwirrter.

Sonntag, 6. Oktober 1996

6. Oktober

"Sag mal, du hast doch einen eigenen Telefonanschluß, gell? Ich hab dich gestern nämlich total vergessen, das zu fragen."
"Naja, was heißt einen eigenen. Ich hänge halt an dem von meiner Family mit dran, wir haben ja ISDN."
"Meine ich doch. Ich habe doch hier in der WG keinen eigenen Anschluß wo ich mein Modem anschließen könnte. Und darum wollte ich dich fragen, ob du das Ding nicht erstmal bei dir anschließen kannst."
"Und was soll ich damit?"
"Na du vielleicht gar nicht so viel. Aber ich vielleicht. Ich dachte ich kann vielleicht ab und zu mal bei dir in's Internet gehen."
"Und was kostet das? Ich meine ich hab jetzt schon Streß wegen der Telefonrechnung."
"Nichts, das ist ein Callback-Zugang von der Uni in Stuttgart."
Naja das Einzige was ich davon verstand, war daß man dafür wohl nichts zu bezahlen braucht. Ich meinte, daß es ok ging und eine Stunde später kam Max mit seinem Modem, ein paar Kabeln und CDs angedackelt und begann meinen Computer mit der Telefonanlage zu verkabeln und Programme zu installieren. Ich verstand eigentlich gar nicht richtig, wozu das alles gut sein soll. "Wieso ruft denn dann die Uni hier an?" wollte ich wissen.
"Na damit es nicht deine Telefongebühren kostet."
"Und was hast du mit denen zu tun?"
"Eigentlich nichts. Ein Kumpel von mir, der studiert da und hat mir den Zugang eingerichtet."
"Naja, aber was willst du an dem Uni-Rechner?"
"Das ist nicht nur der Uni-Rechner. Darüber kommst du ins ganze Internet. Der Computer an der Uni ist doch nur der Einwahlpunkt."
"Aha", sagte ich, obwohl ich irgendwie immer noch nicht so ganz den Sinn und Zweck von dem Ganzen begriff. Ok, das was er mir zeigte fand ich schon ganz witzig. Er zeigte mir mehrere Adressen, wie er es nannte, wo man zum Beispiel Spiele für den Rechner her bekommt. Dann meinte er noch, mir Adressen mit Tittenbildern geben zu müssen. Ich hätte am liebsten gesagt, daß ich so was nicht auf meinem Computer haben will, aber das hätte ja nun entweder total verklemmt ausgesehen oder er hätte doch irgendwas gemerkt. Er meinte dann noch, daß ich auch ruhig online gehen könnte, wenn er nicht da sei. Oh, Danke, zu gütig, daß ich meinen Rechner auch selber benutzen darf. Aber ich glaube er hat es gar nicht so gemeint. Naja immerhin habe ich jetzt einen Computer neben meinem Bett stehen, der mit der ganzen Welt verbunden ist. Oder verbunden sein soll, oder verbunden werden kann. Naja, irgendsowas. Was ich damit allerdings soll, weiß ich nicht. Tittenbilder angucken, na toll.

Samstag, 5. Oktober 1996

5. Oktober

"Ich glaube ich höre mit dem Ringen auf."
Ich guckte Max entgeistert an: "Wieso das denn?"
"Ach was weiß ich. Irgendwie habe ich nicht mehr richtigen Bock dazu. Da sind auch so viele Sachen, die ich jetzt um die Ohren hab."
Wir waren auf Max' Party. Er durfte dort zum ersten Mal eine Party feiern. Ich glaube es geht ihm da gar nicht so schlecht. Die Betreuer scheinen ganz ok zu sein und die anderen Jungs auch. Ok, was heißt eigentlich es geht ihm nicht schlecht? Natürlich geht es ihm eigentlich scheiße. Das ist ja nun auch klar, wenn ihm die Mutter plötzlich wegläuft. Irgendwie hat er sich auch verändert. Früher konnte man richtig gut mit ihm rumblödeln. Das geht zwar immer noch, aber jetzt habe ich den Eindruck es ist so, als wenn ich mit Phil rumblödele; immer ein bißchen zu erwachsen.
"Aber erzähle den anderen nichts davon. Diese Saison mache ich ja auf jeden Fall noch mit." Ich nickte. Ich stelle mir die Reaktion von Nils und den anderen im Verein vor. Nils wird bestimmt toben. Nicht daß Max nun der absolute Crack wäre, aber er kann es einfach nicht verstehen, wenn jemand aufgibt.

Leider gab es den ganzen Abend nur Bier als Alk, was nervig war, weil man sich nicht so zudröhnen konnte und ständig zum Klo mußte. Aber das war vielleicht auch gar nicht so schlecht, so konnte ich wenigstens einen halbwegs klaren Kopf behalten. Und es gab ein paar echt tolle Gespräche. Zum Beispiel dieses Mädel, von dem ich nicht einmal weiß, wo sie überhaupt herkam oder wer sie mitgebracht hatte. Die erzählte von ihrem Bruder, der schwul ist. Sie fand das ganz toll, daß der jetzt mit seinem Freund in Stuttgart zusammenzieht. Am interessantesten waren ja die Reaktionen der anderen in der Runde. Die Mädels fanden das alle ganz toll. Die anderen Jungs, die dabei saßen, zuckten nur mit den Schultern und verschwanden gelangweilt. Schade, daß Nils das nicht mitbekommen hat. Ich hätte gerne seine Reaktion gesehen. Obwohl ich es mir eigentlich denken kann. Mir lag ja die Frage auf der Zunge, ob die Eltern dieses Jungen eigentlich Bescheid wissen und vor allem, wie sie reagiert hatten. Aber ich verkniff mir die Frage. Nur nicht zu viel Interesse zeigen. Ich bin ein erbärmlicher Feigling!

Dann war da noch ein Mädel, mit dem ich mich ganz nett unterhalten habe. Sie heißt Anica und kommt aus Mögglingen. Wir haben gleich von Anfang an auf der selben Wellenlänge geschwebt. Nein, ich meine nicht, daß ich sie niedlich finde oder so. Aber ich konnte mich mit ihr richtig gut unterhalten, fast so wie mit Doris. Leider mußte sie schon früh gehen.

Freitag, 4. Oktober 1996

4. Oktober

"Ich habe überhaupt keine Lust, auf diese Fahrt." Ich guckte Doris entgeistert an: "Wieso denn nicht?"
"Es ist bestimmt total kalt und windig und total versnobt."
"Warst du etwa schon mal da?"
"Nein."
"Na also, was meckerst du denn da? Du sagst doch selber immer, daß man sich sein eigenes Bild machen soll."
"Ich sage immer, daß frau sich ein eigenes Bild machen soll", grinste sie. "Ja, ja, jetzt geht das wieder los."
Wir taperten durch die Stadt und wollten eigentlich einkaufen. Doch wir fanden nichts Interessantes. Also setzten wir uns schließlich ins Tofa-Café und philosophierten wieder mal rum. "Und außerdem", nahm ich das Gespräch wieder auf, "außerdem habe ich immerhin da zum ersten Mal mit einem Typen rumgemacht?"
"Und wie ist es dazu gekommen?"
Ich erzählte ihr die Geschichte von dem Typen, den ich bei meinen Streifzügen durch die Dünen getroffen hatte. "Wie? Hattet ihr denn keine Angst, erwischt zu werden?"
"Ich glaube in dem Augenblick nicht. Erst viel später hinterher kam ich auf die Idee, daß ja jemand hätte vorbeikommen können."
"Aber du wußtest doch schon vorher, daß du schwul bist oder?"
"Naja, eigentlich schon. Ich meine, ich habe es irgendwie geahnt oder vermutet. Aber ich habe es eigentlich immer wieder weggeschoben. Wenn der Gedanke kam, dan habe ich mich immer damit getröstet, daß ich gesagt habe, das geht vorbei. Ich habe damals nie richtig darüber nachgedacht."
"Aber ist es dir denn nicht aufgefallen?"
"Was?"
"Na daß du eben anders bist."
"Ach, was verstehst du denn unter 'anders sein'"?
"Ich weiß auch nicht so recht. Ich meine, du mußt doch irgendwann gemerkt haben, daß du auf Typen stehst."
"Ja, aber das ist irgendwie schon ewig so?"
"Du meinst schon immer?"
"Na ob schon immer weiß ich nicht. Aber wenn ich so überlege. Pff, ich weiß nicht, aber eigentlich habe ich mich immer eher für andere Jungs interessiert. Wenigstens körperlich."
"Das stelle ich mir aber total schockierend vor, wenn man das merkt."
"Das merkst du doch nicht von einer Sekunde auf die andere. Das geht so Stück für Stück, ganz unbemerkt und allmählich. Naja und wenn man sich dann zum ersten Mal die Frage stellt, dann schiebt man das einfach wieder beiseite. Das Blöde ist nur, es kommt immer wieder."
"Und du meinst wirklich nicht, daß das nur so eine Phase ist?"
"Eine Phase?" ich wurde laut. Doris gab mir ein Zeichen, daß ich doch bitte leiser reden sollte. "Eine Phase ist das ganz sicher nicht. Was soll denn das für eine Phase sein? Eine Phase, die schon zig Jahre geht? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich meine, wenn du fast an nichts anderes mehr denken kannst als an Jungs. Wenn du fast bei jedem, der dir über den Weg läuft, durch den Kopf schießt: 'Ist der vielleicht auch schwul?' Wenn du nachts davon träumst, wie es ist, mit einem Jungen im Arm einzuschlafen. Denkst du das ist nur eine Phase?"
Ich hatte mich richtig aufgeregt. Doris seufzte: "Nein, ich glaube nicht. Es ist nur, es ist halt nur so schwer zu verstehen."
"Was ist denn um Gottes Willen daran so schwer zu verstehen? Ich meine gerade du als Mädel mußt es doch eigentlich wunderbar verstehen können, warum jemand auf Typen abfährt." Ich weiß gar nicht woher ich dieses Argument hatte, mir war es gerade so eingefallen und ich finde es immer noch richtig gut. Doris offenbar auch, denn sie prustete los: "Naja, wenn du es so siehst. Eigentlich hast du Recht." Wir grinsten uns an. Ich habe den Einruck, daß wir irgendwie eine verschworene Gemeinschaft sind und das tut mir gut. Als wir uns verabschiedeten, drückte ich sie ganz doll. Es ist schön, daß es sie gibt.

Donnerstag, 3. Oktober 1996

3. Oktober

"Was machst du denn heute?"
Eigentlich wollte ich den Tag ja ganz alleine genießen. Die ganze Familie war ausgeflogen. Naja, Benji hat angerufen und ist vorbeigekommen. Wir haben zusammen das Video von meinem Kampf geschaut und er hat sich halb totgelacht dabei. Dann ging es los. Jeder einzelne Griff wurde wiederholt. Jetzt wird mir erst mal die Situation klar. Wir rollten uns im Wohnzimmer auf dem Boden rum. Zum Glück war niemand von meiner Family da. Aber es hat mir tatsächlich etwas gebracht und ich habe gesehen, was ich falsch gemacht habe. Benji hat irgendwie eine völlig andere Art, Sachen zu erklären. Bei ihm wirkt alles so easy und so selbstverständlich. "Du mußt die Kämpfe angucken, live und auf Video. Immer mitdenken, was macht der eine, was kann der andere machen."
"Meine Güte, ich kenne doch bisher nur ein paar Griffe."
"Na und? Die Amis, die zum Austausch hier waren, haben erzählt, wie sie das machen an der Highschool. Die lernen in den ersten Jahren auch nur ein paar Griffe. Aber die bis zum Umfallen." Benji hat auch so abgehobene Träume wie Nils. Aber er redet nicht so viel darüber. Aber ich bin wieder in so einer Phase, daß ich mir permanent im Kopf Griffkombinationen überlege. Am liebsten würde ich Nils oder sonstwen anrufen und alles ausprobieren. Statt dessen werde ich wohl ein paar Brückenübungen machen. Wenigstens etwas.

Mittwoch, 2. Oktober 1996

2. Oktober

"Das ist Thomas Fischer"
"Ja und?"
"Thomas Fischer, der hat in Atlanta eine Medaille für uns geholt." Nils war total aus dem Häuschen. Ich fand das Ganze reichlich unspektakulär, naja, hat er halt eine Medaille geholt. Sehr schön. Das werde ich sowieso nie. Aber Nils. Nils träumt davon, bei einer Olympiade mitzumachen. Ok, er hat seinen Traum. Von was träume ich eigentlich? Ein großer Ringer werde ich bestimmt nicht. Habe ich irgendeinen Traumjob? Shit, was werde ich in fünf, in zehn Jahren machen? Und doch weiß ich, wovon ich träume. Doch das ist alles andere als spektakulär. Ich träume davon, mit einem Jungen Arm in Arm durch die Stadt zu laufen, davon in seinen Armen einzuschlafen und wieder aufzuwachen. Und doch scheint mir das unerreichbarer als Nils' Zukunftsträume. Der stand da und glaubte, durch bloßes Zugucken könnte er sich all' die Tricks und Kniffe abgucken.

Dienstag, 1. Oktober 1996

1. Oktober

"Was guckst du so böse?"
"Ich gucke böse?"
"Na klar, man kriegt ja einen Schreck, wenn man dich anschaut." Ha, das muß ausgerechnet Markus sagen. Er, der immer so cool dreinschaut. Naja, ich habe heute mal das Krafttraining sausen lassen und habe mich mit ihm zum Nachmittag verabredet. Wir sind etwas durch die Stadt gezogen und haben rumgeblödelt. Es war eigentlich ganz witzig. Mir war etwas komisch. Ich hatte echt Schiß, daß mich jemand aus dem Verein sieht und mich dann fragt, warum ich nicht beim Krafttraining bin. Aber ich brauche einfach mal ein bißchen Ruhe von der ganzen Ringerei.
Ich habe jedenfalls festgestellt, daß Skaten nun absolut nichts für mich ist. Markus sieht zwar total niedlich in seinen Skaterklamotten aus. Aber mich selber auf's Board zu stellen - nee bloß nicht. Hinterher waren wir noch bei ihm und haben schreckliche Musik gehört. Sein ganzes Zimmer war noch überhaupt nicht eingeräumt, überall standen noch die Umzugskartons herum. Naja und eigentlich habe ich ja immer gedacht, daß ich nicht besonders ordentlich (so wie Mom immer sagt: chaotisch). Aber Markus' Zimmer ist ja nun wirklich die absolute Krönung. Aber es lenkte mich wenigstens davon ab, ihn immer anzugucken. Ich finde es immer schwieriger einen klaren Kopf zu behalten, wenn ein niedlicher Junge in der Nähe ist.

Nachdem ich gegangen war, bin ich noch zum Kochertalweg getapert. Ich merke, der Sommer ist vorbei. Ich fühle, wie langsam die Kälte in mir hochsteigt. Doch hier ist es anders. In Hamburg ist die Kälte frisch, windig, man kann sie richtig fühlen. Hier ist sie einfach nur da, überall. Und trotzdem habe ich mich hingesetzt und in die aufkommende Dunkelheit geguckt. Wann, wann um alles in der Welt werde ich einen Jungen kennenlernen, den ich lieben kann? Einen Jungen, der mich in den Arm nimmt, den ich fühle, der für mich da ist, für den ich da bin? Warum haben es die Heten so einfach jemanden zu finden und ich so schwer?