Montag, 30. Juni 1997

30. Juni

"Was ist denn nun los mit Nils und dir? Warüber habt ihr euch denn zerstritten?" Flo blickte mich fragend an.
"Das ist zu kompliziert, um das jetzt hier zu erklären."
"So, so, kompliziert! aha, du hältst mich also für etwas blöde, oder wie?"
"Nein, das habe ich doch gar nicht gesagt. Aber es ist wirklich ziemlich kompliziert."
"Schon gut, schon gut. Aber vielleicht solltet ihr euch ja wieder vertragen."
"Wieso?"
"Na früher ward ihr doch unzertennlich, ihr zwei, und plötzlich redet ihr nicht mal mehr miteinander. Das ist doch irgendwie abartig."
"Unzertrennlich? Was meinst du damit?" meine innere Alarmglocke schrillte.
"Na unzertrennlich eben, zwei beste Freunde, wenn nicht sogar mehr."

Ich kam nicht mehr dazu, Florians Blick zu erwischen denn in diesem Augenblick rief mich Dimitri auf die Matte. Ich mußte als Dummy für einen Neuling herhalten. Ich versuchte, es ihm so einfach wie möglich zu machen, was aber nun auch nicht richtig zu sein schien, denn Dimitri meinte, ich solle doch ein bißchen mehr Widerstand leisten. Was ich dann auch tat, aber das war dann wieder zu viel. Dieser Typ nervt echt!

Ansonsten rauscht alles an mir vorüber. Und ich fühle immer noch nichts. Dafür ist mein Zimmer in perfekter Ordnung. Mom fragt, was mit mir los ist, daß ich plötzlich von alleine aufräume. Eine Gute-Nacht-Geschichte für Lisa. Nächstes Jahr kommt sie in die Schule. Wie einfach doch alles war, damals in der ersten Klasse. Die Welt lief, ohne daß man etwas machen mußte. Man mußte sich keine Gedanken machen, keine Sorgen. Ist das der Grund, warum Mom und Dad so wenig lachen? Ist das so, wenn man älter wird? Wird dann alles schwieriger, komplizierter?

Sonntag, 29. Juni 1997

29. Juni

"Ich frage mich wirklich, wofür ich noch koche", jammert Mom.
Sie hat ja recht, aber ich habe wirklich keinen Hunger. Ich will nichts essen. Ich kippe literweise Eistee in mich rein. Dann sitze ich brav mit der Family im Garten und spiele den perfekten Sohn und großen Bruder. 

Schließlich schwinge ich mich auf mein Fahrrad und fahre los. Irgendwohin. Nur nicht zum Kochertalweg. Irgendwo in die Gegend. Ich stelle fest, daß ich die andere Seite von Bergbach noch überhaupt nicht kenne. Alles ist neu und fremd. So wie ich. Ich gehöre nicht hierher. Aber wohin gehöre ich? Ich gehöre nicht zu Nils, nicht mehr. Ich habe alles kaputt gemacht. Erst die Sache mit Heiko und dann die Sache vom Training. Kein Wunder, daß Nils Schluß gemacht hat. Ich bin ein miserabler Freund gewesen. Aber wo, verdammt noch mal wo und wie sollte ich denn das lernen? Was hatte er gesagt? 'Die Sache mit dem Schwulsein ist schon schwierig genug.' Ja, er hat recht. Aber so geht es mir doch auch. Woher soll ich denn wissen, wie man richtig reagiert? In den Arm nehmen ja, nein, vielleicht, aber nicht wenn jemand dabei ist. Immer alles gemeinsam machen, ja, nein, manchmal, wie denn?

Ich versuche, die Gedanken an Nils zu verscheuchen und schau mich um. Komischerweise nehme ich alles, was sich so in der Natur um mich herum abspielt glasklar wahr. Das alles ist da, ist auch noch da, auch wenn ich nicht mehr hier stehe. Ist da, ob ich nun mit Nils zusammen bin oder nicht. Langsam kommt es mir vor, als wenn ich anfange, die Welt zu verstehen, so wie sie funktioniert. Plötzlich bekommt alles seinen Sinn, seinen Platz.

Samstag, 28. Juni 1997

28. Juni

"Vielleicht solltest du doch etwas von der Power vom letzten Training im Wettkampf haben", frotzelte Flo.
Er meinte es nicht böse, aber ich konnte nicht darüber lachen. Ich hatte meinen Kampf verloren. Mir war es egal. Ich hatte gar nicht mal schlecht gekämpft, aber mein Gegner war besser, um Klassen besser und so hatte ich keine Chance. Nils und ich haben es sogar geschafft, uns zu begrüssen. Ich weiß nicht, was los ist mit mir. Warum bin ich nicht wütend? Warum bin ich nicht traurig? Ich bin..., ja was bin ich eigentlich? Wie geht es mir im Moment? Es ist so, als würde ich alles wie von außen mitbekommen, vielleicht wie in einem Film. Alles läuft irgendwie ab und ich habe sowieso keinen Einfluß darauf. Ich fühle nichts, ja tatsächlich, ich fühle nichts. Ich versuche daran zu denken, wie es mit Nils war, die Tage, die Nächte, die wir zusammen verbracht haben. Ich versuche, mich zu erinnern, ich versuche an die schöne Zeit zu denken, damit ich merke, wie es wehtut. Aber es passiert nichts. Die Vergangenheit, unsere Vergangenheit liegt da wie ein Stück Geschichte. Ich lese mein Tagebuch der letzten Monate und verstehe mich selbst nicht mehr. Ich fühle nichts, überhaupt nichts mehr.

Freitag, 27. Juni 1997

27. Juni

"Ist das wahr?"
Ich blickte Doris fragend an.
"Ist das wahr, was Florian erzählt hat, daß du das warst, mit Nils' demoliertem Gesicht?"
"Ja", murmelte ich.
Doris seufzte tief und setzte sich auf die Stufen vor unserer Schule. Es war ein Seufzen, das eigentlich schon alles aussagte: 'Tim, was soll man nur mit dir machen?' Aber sie sagte nichts. Stattdessen stand sie wieder auf und lief auf und ab. Nach einer halben Ewigkeit fragte sie: "Und?"
"Was und?"
"Stell' dich nicht blöd. Was ist nun los?"
"Nichts ist los. Nils hat Schluß gemacht. Ich war völlig grundlos eifersüchtig, habe meinen Freund zusammengeschlagen und der hat Schluß gemacht. So einfach ist das."
"Na toll. Aber weißt du was? Ich nehme dir diese Vernunftsmasche nicht ab!"
"Du brauchst mir überhaupt nichts abzunehmen, aber es ist so. Es ist aus zwischen Nils und mir. Und ich bin Schuld. Ich bin an allem Schuld. Ich mache alles immer kaputt."
"Der Tim und sein Selbstmitleid, fast könnte man heulen."
"Vielen Dank, daß du mich auch noch fertigmachst."
"Ich bin langsam müde, dich immer und immer wieder aus irgendwelchen Tiefs rauszuholen, dich zu trösten, dich aufzubauen. Und du hast nichts Besseres zu tun, als alles bei der nächstmöglichen Gelegenheit wieder einzureissen. Manachmal glaube ich, du willst gar nicht glücklich sein."
"Ich WILL glücklich sein! Das ist doch alles was ich will!"
Wollte mich Doris jetzt auch noch fertigmachen? Soll sie nur. Mich kann jetzt nichts mehr schocken. Ich weiß, daß ich von jetzt an alleine klarkommen muß.

Zu Hause fange ich an aufzuräumen. All das, was seit unserem Einzug liegengeblieben ist, auf Stapeln liegt habe ich sortiert oder in den Müll geworfen. Es ist, als wenn ich dadurch, daß ich Ordnung in meinem Zimmer mache, Ordnung in meinem Kopf schaffe.

Donnerstag, 26. Juni 1997

26. Juni

"Bist du wahnsinnig geworden?"
Flo und Mehmet rissen mich hoch und zerrten mich in eine Ecke. Wir hatten Trainingskämpfe und diesmal hatte Dimitri Nils und mich auf die Matte gestellt. Er selber war zum anderen Ende der Halle getapert, um etwas mit Werner zu bequatschen. Ich weiß nicht, was genau passierte. Ich spürte nur noch Haß in mir, jede Menge Haß und Energie. Nils landete auf dem Rücken und ich schlug auf ihn ein, ja ich prügelte tatsächlich auf ihn ein. Nicht lange. Einige Sekunden später hatten mich Flo und Mehmet überwältigt und hielten mich fest: "Was ist denn in dich gefahren? Tickst du jetzt völlig aus?"
Ich ließ mich zu Boden sinken und zitterte. Dimitri kam angelaufen: "Was ist denn hier passiert?"
Da sah ich Nils, wie er sich aufrappelte. Seine Nase blutete. "Nichts, ich bin unglücklich gefallen", sagte er und verschwand in der Umkleide. Dimitri warf mir einen prüfenden Blick zu. Ich saß da, in mich zusammengesunken. Alles was ich an Wut, an Energie hatte, war weg. "Bist du jetzt wieder vernünftig?" fragte Flo.
Ich nickte.
"Was ist denn los mit euch?"
"Nichts ist los, das ist eine Sache zwischen Nils und mir."
"Sag bloß, ihr habt euch beide in das gleiche Mädchen verguckt."
Ich verzog das Gesicht und guckte in eine andere Richtung. Oh, ihr Ahnungslosen, ihr seid zum Glück alle so blind!
"Kann man dich jetzt alleine lassen, ohne daß du wieder auf jemanden einprügelst?"
Ich nickte. Ich blieb sitzen. Ich blieb sitzen, als die anderen sich umziehen gingen, ich ging sitzen als die zweite Männer-Mannschaft ihr Training begann. Irgendwann trottete ich in die Umkleide. Was ist mit mir los? Plötzlich entwickele ich mich zum Schläger? Ich prügele auf Nils ein, Nils, den ich noch vor ein paar Tagen mit Küssen zudeckt hatte, Nils, den ich doch eigentlich über alles liebe und den ich dann doch wieder über alles hasse. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.

Im Zeitlupentempo ziehe ich mich um. Wie in einem Film kommen mir Szenen aus dem letzten Jahr in Erinnerung. Nils, der mir nach dem ersten Training Mut machte weiterzumachen, seine Hand auf meiner Schulter, sein Blick, in dem ich versank. Die Umarmung, der Kuß nach dem ersten Sieg, die freudige Funkeln in seinen Augen. Alles schien so weit weg. So wie in einer anderen Welt, unwirklich.
Ich schwang mich auf's Rad und fuhr los. Nicht nach Hause, ich weiß auch nicht wieso. Fast automatisch fuhr ich zum Kochertalweg. Und erst zu spät sah ich, daß ER dort stand, daß ER auf mich wartete. Ich hätte noch umdrehen können, doch ich wollte nicht mehr, ich konnte nicht mehr. All meine Kraft war verschwunden. Ich stieg vom Rad. Nils' Nase und Oberlippe waren dick. Ich versuchte, etwas in seinem Gesicht zu lesen, doch es gelang mir nicht.
"Du kommst spät, aber ich wußte, daß du kommst."
"Ach ja? Und was soll das jetzt hier werden? Willst du mir jetzt ganz offiziell sagen, daß es aus ist? Tolle Gelegenheit, tolle Stelle. Wirklich, fast filmreif." Ich merkte, wie in mir wieder die Wut hochkochte.
"Du hörst mir jetzt zu. Und du hältst jetzt verdammt noch mal deinen Mund."
"Vielleicht habe ich aber gar keine Lust, dir zuzuhören. Vielleicht weiß ich ja schon ganz genau, was du sagen willst."
Nils griff nach meinem Handgelenk, dreht meinen Arm auf den Rücken und drückte mich ganz langsam zu Boden: "Ich habe gesagt, daß du jetzt zuhörst." Er drehte meinen Arm weiter auf den Rücken. Ein stechender Schmerz in meiner Schulter, Gras in meinem Gesicht.
"Du bist so ein verdammter ein Narr", seine Stimme war ganz dicht an meinem Ohr, "Tim Berger, du bist so ein verdammt arrogantes Arschloch..."
Ich sagte nichts. Ich konnte nichts sagen.
"Du lebst wohl nur in deiner eigenen Welt."
Ich verstand nicht, was er meinte. Irgendwann ließ er los und ich konnte mich aufrappeln.
"Können wir jetzt endlich miteinander reden?"
Ich nickte. Kam mir auf einmal vor wie ein kleines Kind.
"Tim, warum gehst du mir seit Freitag aus dem Weg? Warum rastest du so aus? Denkst du etwa, da ist etwas zwischen Sarah und mir?"
Aha, Sarah heißt sie also.
"Warum gehst du heimlich weg, ohne mir was zu sagen? Warum gehst du heimlich mit einem Mädchen weg? Ist das jetzt deine Art von Rache für die Sache mit Heiko?"
"Ich gehe nicht heimlich weg. Ich hab einfach Lust gehabt, an dem Abend wegzugehen. Und Sarah habe ich erst in der Tofa kennengelernt."
"Und? Was läuft zwischen euch?"
"Es läuft gar nichts. Du kapierst echt nichts. Da läuft überhaupt nichts. Wir haben einfach zusammen gequatscht, das ist alles."
Ich wollte ihm glauben, verdammt noch mal, ich wollte ihm so gerne glauben.
"Warum hast du mich so behandelt am Freitag vor der Tofa?"
"Schließlich hast DU mir eine Szene gemacht. Was hätte ich denn machen sollen? Dich in den Arm nehmen? Mensch, werd' doch mal wach! Wir sind hier in Bergbach. Hier kennt jeder jeden. Und du kommst wie Rambo in den Laden reingerannt und machst mir eine Szene, die alle mitkriegen."
"Da hat niemand was mitgekriegt."
"Hast du mich vielleicht gefragt, als du dich mit Robert in Stuttgart getroffen hast? Hast du mich vielleicht vorher gefragt, als du mit Heiko rumgemacht hast? Hast du mich vielleicht gefragt, als du extra wegen Heiko nach Köln gefahren bist?"
"Das ist etwas total anderes."
"Das ist überhaupt nichts anderes! Was denkst du denn wer du bist? Du darfst hier alles machen, dich treffen mit wem und wann du willst, rummachen mit wem du willst. Und wenn ich einmal, EINMAL alleine weggehe, dann kommt Tim reingerauscht und macht einen riesigen Aufstand und schlägt mich dann auch noch fast zusammen."
"Sag mir, daß da nichts ist mit Sarah. Sag' es mir."
Nils blickte mir in die Augen: "Da ist nichts, da war nichts und da ist nichts."
Und ich glaubte ihm. Ja, ich wußte, daß er die Wahrheit sagte. Ich wollte ihn in den Arm nehemen: "Nils, ich..."
Er ging einen Schritt zurück: "Nein Tim, so nicht. Du glaubst doch wohl nicht, daß jetzt alles wieder so ist, als wäre nichts passiert."
Ich schaute ihn verwirrt an: "Was meinst du?"
"Ich habe dich geliebt Tim, wirklich, ich habe dich geliebt. Ich habe dir die Sache mit Heiko verziehen, obwohl mir das so wehgetan hat. Tim mault rum, Tim rastet aus. Das alles habe ich dir verziehen, denn ich habe dich geliebt. Aber jetzt, jetzt bist du einfach zu weit gegangen."
Mir wurde schwindelig: "Was willst du damit sagen?" fragte ich heiser.
"Ich will damit sagen, daß wir uns für eine Weile nicht mehr treffen sollten. Die ganze Sache, das mit dem Schwulsein ist schon schwierig genug für mich. Und wenn dann da noch jemand ist, der auf mich einprügelt, nur weil ich mal einen Abend alleine weggehe..."
"Nils, bitte...", ich griff nach seiner Hand. Er zog sie weg.
"Nein Tim, laß es! Vielleicht überlegst du dir wirklich mal, was du da so machst."

Und er stand auf und fuhr los. Einfach so. Er verschwand in der Dunkelheit und ich saß da. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich halbwegs begriffen hatte, was passiert war. Was hatte er getan? Was hatte ICH getan? Wie betäubt nahm ich mein Rad und schob es vor mir her. In meinem Kopf wirbelten alle möglichen Sachen durcheinander. Nichts ergab einen Sinn. Nils, so erwachsen, so überheblich. Und ich stehe da wie der absolute Depp. Nein, ich BIN der absolute Depp. Jemand der alles immer nur kaputt macht. Es ist aus. Es ist tatsächlich aus und ich bin merkwürdig ruhig. Doch, es tut mir weh. Aber ich heule nicht. Es gibt nichts mehr, worüber ich heulen könnte. Alles habe ich schon in der letzten Woche durchgemacht. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr schreiben für heute.

Mittwoch, 25. Juni 1997

25. Juni

"Willst du reden?"
Ich wollte gerade zur Schule gehen, da steht Doris vor der Tür. Ich fiel ihr um den Hals und fing wieder an zu heulen. Sie schob mich ins Haus: "Was ist denn um Himmels Willen los? Hast du dich mit Nils gestritten?"
"Es ist aus."
"Wie? Aus?"
"Aus, vorbei! Nils hat sich irgendein Mädchen angelacht, mit dem er heimlich weggeht."
"Woher weißt du das?"
"Ich habe es gesehen. Ich habe IHN gesehen! Zusammen mit IHR! In der Tofa!" schrie ich.
"Was hast du gesehen?"
"Ich habe genug gesehen. Ich bin nicht blöd, auch wenn das einige Leute vielleicht annehmen."
"Hast du mit ihm geredet?"
"Was soll ich denn noch mit ihm reden? Ich WILL nichts mehr mit ihm zu tun haben und ich will auch ganz bestimmt nicht mehr mit ihm reden."
"Tim, vielleicht ist das überhaupt nichts."
Meine Güte, wie blöd Doris doch manchmal ist. Dann saßen wir uns eine halbe Stunde gegenüber ohne ein Wort zu sagen. Schließlich durchbrach sie die Stille: "Soll ich mal mit ihm reden?"
"Unterstehe dich!" schrie ich. "Das läßt du gefälligst bleiben!"
"Schon gut, schon gut. Nun raste doch nicht gleich wieder aus."
"Ich soll nicht ausrasten? Mein Freund, Nils, den ich geliebt habe, dem ich vertraut habe, betrügt mich, belügt mich."
Wir sind spazieren gegangen. Haben die Schule ausfallen lassen, einfach so. Sind über die Wiesen und Felder gelaufen, Hand in Hand, schweigend. 'Don't give up, cause you have friends.' Es tut gut, daß sie da ist, obwohl sie Nils nicht ersetzten kann. Sie kann ihn mir nicht zurückbringen. Aber es tut wenigstens ein bißchen gut zu wissen, daß da jemand ist, dem ich nicht völlig egal bin. Irgendwann waren wir in Degendorf und setzten uns in das einzige Eiscafé.

Es ist schon seltsam, in dem letzten Jahr ist so viel passiert in meinem Leben. So viele neue Dinge, so viele absolut verwirrende Sachen. Mehr als in den Jahren davor in Hamburg. Wie soll das alles weitergehen? Ich habe Angst, daß ich irgendwann noch wahnsinnig werde, wenn sich das nicht ändert. Wenn ich mich nicht endlich fallen lassen kann, ohne nachzudenken, ohne mißtrauisch zu sein, ohne mich ständig umgucken zu müssen, ohne Angst zu haben, daß mich jemand belügt, betrügt, hintergeht.

Wir sind dann mit dem Bus zurückgefahren. Doris ist den ganzen Tag bis zum Abend bei mir geblieben. Um neun hat sie dann ihr Vater abgeholt. Ich weiß nicht, ob es mir wirklich besser geht. Ich weiß nur, daß es mir nicht mehr viel schlechter geht.

Dienstag, 24. Juni 1997

24. Juni


Ich bin nicht zum Krafttraining gegangen. Statt dessen bin ich mit dem Fahrrad durch die Gegend gefahren. Ich stand am Bahnübergang und habe allen Ernstes mit dem Gedanken gespielt, mich umzubringen. Für eine Sekunde, vielleicht für zwei. Dann wäre alles vorbei, schoß es mir durch den Kopf. Alles, keine Probleme mehr, kein Versteckspielen, keine einsamen Nächte mehr, keine Tränen, keine Enttäuschungen. Ich habe es nicht gemacht. Ich weiß nicht, ob ich einfach keinen Mut hatte. Nein ich glaube, daß ich einfach Nils diesen Triumph nicht gönne. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun. Ich war am Kochertalweg und habe wieder geheult. Die ganzen Erinnerungen kamen wieder hoch, die schönen Stunden, die wir hier verbracht haben. Aber es tut gut zu weinen.
Doris hat mir eine Cassette gegeben. Darauf ist ein total schönes Lied von Peter Gabriel und Kate Bush. Wahrscheinlich soll es mir Mut machen: "Don't give up". Aber ich heule nur noch.
Ich war ein halbe Ewigkeit im Internet. Habe jede Menge schwuler Pornoseiten gefunden. Habe versucht, mir einen runterzuholen, aber selbst das funktioniert nicht. Ich glaube ich werde wahnsinnig.
"Tim, ich bin's, Nils." Das Telefon. Dieses verdammte Telefon und dieser Penner. Ruft mitten in der Nacht an und ich gehe auch noch ran. Ich konnte gar nicht nachdenken, ich bin einfach rangegangen. Aber ich habe gleich aufgelegt und das Telefon wieder rausgezogen. Aber jetzt kann ich nicht mehr schlafen. Ich heule. Zum ersten Mal seit Freitag heule ich und ich kann gar nicht mehr aufhören. Ich höre mich selbst schluchzen. Mein Kopfkissen ist naß von meinen Tränen. Ich fühle mich so entsetzlich einsam. Allein! Ganz allein auf der Welt. Und niemand ist da, niemand, der mich einfach in den Arm nimmt und tröstet, so wie Nils früher. Alle Gedanken kreisen um Nils, jede Sekunde, ich werde noch verrückt. Alles in meinem Zimmer erinnert mich an ihn.

Montag, 23. Juni 1997

23. Juni

"Du hast Streß mit Nils."
Das war keine Frage, das war eine Feststellung. Ich war mit Doris auf dem Vorplatz zusammengestoßen und nach ein paar Sekunden, ohne daß wir etwas gesagt hätten, hatte sie das gesagt.
"Laß mich in Ruhe, bitte!"
Und sie ließ mich in Ruhe. Fragte mich den ganzen Tag nicht ein einziges Mal. Wir redeten nur nach Notwendigste miteinander und ansonsten war Funkstille. Nils, Nils war auch da. Ich vermied es, ihn anzusehen. Nein, ich vermied es nicht nur, ich sah ihn nicht, ich sah ihn wirklich nicht. Ich schaute automatisch in eine andere Richtung. Ich wollte nicht seinem Blick begegnen. In den Pausen stellte ich mich zu Max und den anderen Leuten, so daß er gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, mit mir reden zu wollen. Reden! Was wollte er denn mit mir reden? Was könnte er mir schon sagen? 'Tim, es tut mir leid, aber ich habe rausgefunden, daß ich doch nicht schwul bin und doch auf Mädchen stehe' Auf solchen Scheiß kann ich sehr gut verzichten. Ich könnte mich ohrfeigen, wie konnte ich nur auf diesen Typen so reinfallen? Wie konnte ich auf dieses Theater reinfallen? Die Schulstunden rauschten an mir vorbei. Ich bin sogar zum Training gegangen. Auch das rauschte an mir vorbei. Gottseidank teilte Dimitri Nils und mich nicht als Kampfpaarung ein.

Nach dem Training bin ich noch vor allen anderen losgerauscht. Ich bin sogar einen Umweg gefahren, um nicht an unseren Kreuzung vorbeizukommen. Warum gehe ich überhaupt noch zum Training? Warum mache ich diesen ganzen Unsinn überhaupt noch mit? Es hat doch sowieso alles keinen Sinn mehr. Nils. Ringen. Warum habe ich das alles überhaupt gemacht? Wollte ich Nils etwas beweisen? Wollte ich ihn beeindrucken? Wollte ich im einen Gefallen tun? Ich weiß es nicht mehr. Warum habe ich alle die Schmerzen ertragen? Die blauen Flecken, diese endlosen Trainingssessions? Weil verdammt noch mal ich sowieso nichts besseres zu tun hatte hier! Es ist doch nur noch alles zum Kotzen! Die einzigen Leute, die ich kenne, die einzigen Freunde, die ich habe sind alle vom Verein. Und da läuft mir Nils über den Weg. Immer. Ich will nicht mehr. Ich will gar nichts mehr. Ich will nur noch zu Hause bleiben. Nie wieder raus gehen. Nie wieder irgend jemanden sehen.

Sonntag, 22. Juni 1997

22. Juni

"Hey Tim, warum warst du denn gestern nicht auf meiner Party? Wir haben echt alle gedacht du kommst."
Kaum hatte ich den Telefonstecker wieder drin, klingelte es schon wieder. Max diesmal. Ich hatte keine Lust, ranzugehen. Was hätte ich ihm auch sagen sollen? Daß mich mein Freund betrügt? Betrügt mit irgend so einem dahergelaufenen Mädel? Ich glaube, das würde selbst Max, der ja sonst alles total cool sieht, nicht verstehen. Also ließ ich ihn auf den Anrufbeantworter reden.

Dann ein paar Anrufe, ohne daß jemand was raufgesprochen hat. Ich weiß, daß es Nils ist. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, so wie ich ihn geliebt habe, so hasse ich ihn jetzt. Ich kann immer noch nicht klar denken, nicht klar schreiben. Es ist immer noch alles, wie durch einen dicken Vorhang durch.

Samstag, 21. Juni 1997

21. Juni

"Tim? Bist du zu Hause? Tim, geh doch bitte ran, wenn du zu Hause bist."
Im Zehnminutenrhythmus ruft Nils an und redet auf den Anrufbeantworter. Ich gehe nicht ran. Ich weiß, daß ich nicht mit ihm reden kann. Ich wüßte nicht mal, WAS ich mit ihm reden soll, worüber. Ich habe kurz darüber nachgedacht, Doris anzurufen. Aber was soll das? Ich will sie nicht schon wieder volljammern und vor allem, kann sie mir auch nicht helfen. Ich fühle mich so allein, so schrecklich allein auf der Welt. Für alle um mich herum läuft alles total easy ab. Nur bei mir, bei mir geht immer alles schief, geht immer alles den Bach runter. Ich ziehe den Telefonstecker aus der Dose. Will niemanden sehen, niemanden hören. Schreie Lisa an, als sie in mein Zimmer kommt, um mit mir zu spielen. Laßt mich in Ruhe. LASST MICH ALLE VERDAMMT NOCH MAL IN RUHE!!!
"Tim! Tim, aufwachen!"
Mom steht vor meinem Bett und rüttelt mich wach.
"Bist du krank?"
"Ja", antworte ich heiser.
"Kein Wunder, wenn du hier alle Fenster aufreißt."
Draußen regnet es immer noch. Beim Schädel brummt und alles ist wie in Watte gepackt und weit, weit weg. Die Flasche Korn. Wo ist sie? Irgendwie hatte ich es wohl geschafft, sie in den Papierkorb zu schmeißen. Hatte Mom sie gesehen? Ich glaube nicht, weil, sonst hätte sie tierischen Terz gemacht.
"In einer halben Stunde gibt's Mittagessen. Scholle, ich dachte, du magst es."
Scholle, wie zum Teufel kommt Fisch in dieses gottverdammte schwäbische Kaff? Nils, wo ist Nils? Mein Nils? In mir steigt wieder die Wut hoch. Dieser Penner, dieser Heuchler. Ich will ihm wehtun. Richtig wehtun, damit er merkt, was er mit mir macht.
"Was machst DU denn hier?" Nils starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.
"Das gleiche könnte ich dich fragen!"
"Fängst du jetzt an, mir nachzuspionieren?"
"Fängst DU jetzt an, mich anzulügen?"
Es war eine total abartige Situation. Wir beide standen am Rande der Tanzfläche und brüllten uns an. Ich weiß nicht, ob es die Wut in mir war oder einfach die Lautstärke der Musik.
"Ich lüge dich nicht an. Verdammt noch mal, reg' dich ab."
Ich zog ihn raus und seltsamerweise ließ er es ohne Widerstand geschehen. Es hatte begonnen zu nieseln.
"Kannst du mir mal bitte sagen, was das soll?" fragte ich. Ich versuchte, ruhig zu bleiben, doch meine Stimme zitterte.
"Was soll was?"
"Du weißt ganz genau, was ich meine." Der Türsteher schaute uns schief an, aber das war mir egal. "Du sagst mir, daß du heute in Familie machen mußt und dann gehst du heimlich weg."
"Ich gehe nicht heimlich weg. Aber ich gehe weg, wenn es mir paßt. Und ich gehe auch alleine weg, wenn es mir paßt. Ganz genau wie du."
Ich stand da, sprachlos. Was sollte ich sagen? Alles kam mir in diesem Augenblick so seltsam und unwirklich vor. Was ist denn los? Noch gestern haben wir einen wunderschönen Abend miteinander verbracht und plötzlich stehe ich im Regen vor der Tofa, mache Nils eine Szene und der ist auf einmal meilenweit weg.
"Nils bitte...", ich legte meine Hand auf seine Schulter.
"Faß mich nicht hier nicht so an!" fauchte er. "Sollen hier etwa alle mitkriegen, daß du schwul bist?"
"Daß ICH schwul bin?" ich mußte mich so zusammenreissen, nicht laut zu schreien, "daß WIR schwul sind! Hast du da was vergessen?"

In dem Augenblick tauchte ein Mädel auf, das ich nicht kannte und das sich wie selbstverständlich an Nils' Hals hängte. Mir wurde schwindelig, schwarz vor Augen. "Ach hier draußen bist du", flötete sie. Nur noch für einen Augenblick sah ich Nils' Augen, dann dreht ich mich um und rannte los. Ich glaube, wenn ich nur eine Sekunde länger gewartet hätte, dann hätte ich ihm in die Fresse geschlagen. Dieses verdammte Schwein! Dieses Arschloch! Er betrügt mich mit irgendeinem dahergelaufenen Mädchen! Das kann doch nicht wahr sein! Ich bin gelaufen, gerannt. Die ganze Strecke von der Tofa zurück bis nach Bergbach rein. Jeder Schritt hämmerte in meinem Kopf: 'Nils, Nils, ich liebe dich, warum tust du mir das an?' Meine Lungen brannten, ich lief weiter, ich knickte mit dem Fuß um, ich rannte weiter. Der Regen peitschte in mein Gesicht. Ich fühlte nichts mehr. Was hatte ich gemacht? Was hatte ich gesagt? Wieso war er von einem auf den anderen Tag wie ausgewechselt? Warum ist das kein böser Traum, aus dem ich einfach nur aufzuwachen brauche? Ich komme am Jet vorbei, erstehe eine Flasche Korn und laufe weiter, laufe vorbei an unserer Kreuzung und schreie, schreie meine Wut heraus, meine Schmerzen, meinen Haß. Doch niemand hört mich. Den Hügel hoch. Zu Hause angekommen schließe ich mich in mein Zimmer ein. Was ist passiert? Was ist los? Alles ist aus! Ich versuche, alles aufzuschreiben. Ich kann nicht mehr. Ich mache den Korn auf und fange an, ihn auszutrinken. Ich will nicht mehr! Ich will nicht mehr weiterleben!

Freitag, 20. Juni 1997

20. Juni

"Ich kann heute nicht. Wir kriegen Besuch und da muß ich auf Familie machen."
Ich war enttäuscht. Ich hatte eigentlich gedacht, Nils und ich könnten heute zusammen ins Kino gehen. Und jetzt wird nichts draus. Naja, was soll's, wir sehen uns ja morgen auf Max' Party. Aber das sind wir ja nun nicht alleine sondern mit allen möglichen Leuten zusammen.
So und jetzt sitze ich alleine hier und weiß plötzlich nicht, was ich machen soll. Es ist komisch, ich weiß echt nicht, was ich anfangen soll, dabei könnte ich doch so viele Sachen machen. Ich könnte endlich mal halbwegs Ordnung in meine CDs und Cassetten bringen. Ich könnte am Computer spielen, ich könnte Doris anrufen, ich könnte...Heiko anrufen. Das ist überhaupt eine gar nicht so schlechte Idee...ich glaube ich werde ihn einfach mal anrufen.

Yo, ich habe es getan! Ich habe Heiko angerufen. Es war ein richtig nettes Telefongespräch. Wir haben über alles mögliche geredet und es war echt schön, wieder seine Stimme zu hören. Er konnte es natürlich nicht lassen, wieder irgendwelche zweideutigen Bemerkungen zu machen, aber es war ok. Was wirklich erstaunlich ist, ist daß ich wahrscheinlich wirklich etwas Abstand zu ihm gewinne. Ich meine, es ist immer noch schön, mit ihm zu reden und mein Herz klopft immer noch ziemlich dabei. Aber dieses bohrende Gefühl im Kopf ist nicht mehr da, dieses jede Sekunde an ihn denken zu müssen. Ich glaube, ich bin wirklich über das Schlimmste mit ihm drüber hinweg.

Ok, und nun sitze ich wieder hier und langweile mich. Nein, das Telefonat mit Heiko war wirklich nett, aber jetzt sitze ich wieder am offenen Fenster, höre Nils' Cassette, träume und muß an Nils denken. Halb zwölf. Ich glaube ich rufe ihn an und wünsche ihm eine gute Nacht. Der Besuch wird ja wohl um die Zeit schon weg sein.

"Nein, Nils ist nicht da, er wollte heute Abend doch in diese Tofa."
Ich habe aufgelegt. In meinem Kopf dreht sich alles. Kein Nils am Telefon, stattdessen seine Mutter, die ich aus dem ersten Schlaf gerissen hatte: "...er wollte heute Abend doch in die Tofa."
Was geht da ab? Ich kann nicht klar denken. Was ist los? Ich muß los, ich halte es nicht aus, ich fahre zur Tofa!

Donnerstag, 19. Juni 1997

19. Juni

"Und Sinti und Roma kamen genauso ins KZ wie Kommunisten, Sozialdemokraten und Homosexuelle. Aber im Vergleich zu den anderen Gruppen, sind die Homosexuellen bis heute noch nicht entschädigt worden."
Doris warf mir einen Blick zu. Ich war verwundert, ausgerechnet von Seeberg so ein Statement zu hören. Nicht daß er noch irgendwelche anderen Sätze dazu abließ, aber immerhin kam nicht so ein Satz wie 'geschieht den Schwulen ganz recht' oder so. Manchmal können einen Lehrer doch schon verblüffen.

Den Abend nach dem Training verbrachten Nils und ich am Kochertalweg. Es ist einfach nur schön, so im Gras zu liegen, zu sehen, wie die Sonne untergeht und zu träumen. Wir brauchen nicht viel zu reden. Es reicht, wenn wir nur zusammen sind. Wobei das Schlimmste dann wirklich immer der Abschied ist. Es ist so schwer, einfach zu gehen, wo ich ihn doch einfach nur festhalten möchte, für immer.

Mittwoch, 18. Juni 1997

18. Juni

"Gehen wir am Samstag zu Max' Party?"
Shit, das hatte ich ja völlig vergessen. Max macht ja am Wochenende richtig Party in seiner WG. Ich schaute Nils fragend an.
"Warum eigentlich nicht", meinte er. "Wird doch bestimmt ganz witzig."
Stimmt eigentlich. Wahrscheinlich müssen wir jedenfalls nicht wieder damit rechnen, daß irgendwelche Eltern aufkreuzen und die Party für beendet erklären. Naja, höchstens irgendwelche Sozialarbeiter, aber ich denke mal, die sind da eigentlich ganz ok.
Eigentlich müßte ich ja auch mal eine Party machen, aber ich habe ehrlich gesagt nicht so sehr viel Lust, mir den ganzen Streß zu machen, so von wegen Einkauf und dann permanent aufpassen, daß die Leute nicht ausrasten oder was demolieren. Und eigentlich bin ich viel lieber mit Nils alleine als mit zig Leuten. Aber ab und zu ist so eine Party dann doch ganz nett.

Das Training war heute ganz ordentlich. Wenigstens haben wir am Samstag kampffrei, so daß ich nicht total fertig zur Party tapere.

Dienstag, 17. Juni 1997

17. Juni

"Irgendwie habe ich heute keine Lust auf Krafttraining."
"Ich eigentlich auch nicht. Aber ich habe doch noch Training mit Werner. Und das will ich dann doch nicht ausfallen lassen."
Nils blickte mich erstaunt an: "Wow, das sagst du?"
"Nun ja, ich finde, daß das Training mit ihm mehr bringt, als das Training bei Dimitri."
Also haben wir uns dann doch entschlossen zum Krafttraining zu gehen, obwohl das Wetter viel zu schön und zu warm war. Man ist ja auch schon reichlich bekloppt. Aber letztlich hat es sich dann doch wirklich wegen dem Training mit Werner gelohnt.

Nils hat mir eine Cassette aufgenommen mit lauter ganz tollen Liedern. So richtig toll zum Träumen. Und jetzt sitze ich am Fenster und träume.

Montag, 16. Juni 1997

16. Juni

"Du bist ziemlich spießig!"
"Wieso bin ich spießig? Nur weil ich frage, ob du und Clemens irgendwann mal heiraten wollt?"
"Genau deswegen."
"Meine Güte, immerhin habt ihr ein Kind zusammen."
"Ja und? Du redest echt schon wie meine Großmutter."
"Ich bin nicht spießig, ich bin schwul, ich kann gar nicht spießig sein."
Doris lachte. Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen: "Du bist nicht nur spießig, du bist auch noch total naiv."
Ich setzte mich grummelnd auf's Geländer und schaute zur Viereckschanze. Toll, meine beste Freundin hält mich für spießig und naiv. Nur weil ich glaube, daß wenn man Kinder hat ja auch irgendwie, irgendwann mal heiraten sollte.
"Würdest du Nils heiraten? Ich meine, wenn es gehen würde?"
"Ja", antwortete ich ganz spontan. Dann nach einigen Momenten: "Ich glaube schon, also wenn wir uns noch länger kennen und eine eigene Wohnung haben."
"Warum?"
"Was, warum."
"Warum würdest du heiraten wollen?"
"Weil das irgendwie dazu gehört, wenn man zusammen ist. So richtig zusammen."
"So, so. Und was wäre dann, wenn dir, also wenn du verheiratet bist, wenn dir dann so jemand wie Heiko über den Weg läuft?"
"Du bist unfair. Was weiß ich denn? In solchen Situationen ist es dann doch völlig egal, ob man verheiratet ist oder nicht."
"Spießig, naiv und dann noch Doppelmoral."
Ich fing an, richtig sauer zu werden. Aber Doris drückte mich plötzlich und meinte, ich soll das alles nicht so ernst sehen. Da konnte ich ihr gar nicht mehr richtig böse sein. Aber eine Sache interessierte mich dann doch: "Clemens und du, ich meine, seid ihr treu?"
"Natürlich, schließlich haben wir gemeinsam ein Kind."
"Haaaa, also bist du auch ganz schön spießig."
"Na klar", meinte sie mit dem unschuldigsten Blick der Welt, "warum auch nicht."
Es klingelte und wir taperten zum Kursraum. Insgeheim grinste ich.

Nach dem Training kam ich auf die Idee, mit Nils noch bei Tobias vorbeizuschauen. Er hat sich echt gefreut. Und wir haben es sogar geschafft, ihn zu überreden, mit zum Eisessen runterzukommen. Es ist ja nicht so, daß er gar nicht raus darf. Er soll wohl nur große Menschenmassen meiden. Also Schule oder Bahnfahren. Aber gegen Eisessen spricht eigentlich nichts. Naja, jedenfalls hat er jetzt gar keine Haare mehr und so läuft er jetzt nur noch mit Basecap herum. Ich glaube wirklich, daß er sich gefreut hat, daß wir da gewesen sind.

Sonntag, 15. Juni 1997

15. Juni

"Schön, daß du auch noch kommst." Nils stand leicht angesäuert am Eingang.
"Ich dachte wir sind in der Greuthalle."
"Schnarchsack, hörst du eigentlich nie zu, wenn Dimitri was sagt?" Wenigstens grinste er wieder.
Aber es war natürlich schon peinlich, daß ich fast zu spät gekommen war. Um ein Haar hätte ich nämlich das Wiegen verpaßt und dann hätten wir ziemlich dumm ausgesehen.

Und dann hieß es wieder warten, warten. Das sind immer die nervigsten Momente bei solchen Wettkämpfen. Man hockt mit den Anderen in irgendeiner Ecke und wartet darauf, daß es endlich losgeht. Zwischendurch springt man auf und rennt rum, weil man es einfach nicht mehr aushält, still rumzusitzen. Dann ging es endlich los und ich war zum Glück gleich als Zweiter dran. Eigentlich fand ich mich gar nicht schlecht und ich machte auch Punkte, aber ich kam nicht so richtig voran. Mein Gegner war total passiv und dieser Depp von Kampfrichter hat das nicht mitgekriegt oder nicht mitkriegen wollen oder was weiß ich. Jedenfalls hätte mein Gegner mindestens drei Verwarnungen bekommen müssen. Naja, auf jeden Fall habe ich gewonnen, wenn auch nur mit zwei Punkten Vorsprung.

Nils empfing mich mit den Worten: "Du warst aber auch schon mal besser." Na toll, das war ja wieder total aufbauend. Ich meine, was will er denn eigentlich? Ich habe gewonnen und immerhin mit zwei Punkten Vorsprung. Soll er es doch besser machen. Ok, machte er dann auch: er hatte 6 Punkte Vorsprung. Aber irgendwie ist es doch egal. Ich war mit den Gedanken sowieso schon ganz woanders.
Die anderen guckten etwas komisch, als wir uns nach der ganzen Veranstaltung absetzten und nicht mit den anderen zum Pizzaessen gingen. Aber auch das war mir egal.

Kaum war die Tür hinter uns ins Schloß gefallen, lagen wir uns in den Armen. Bedeckten uns über und über mit Küssen und wollten uns gar nicht mehr loslassen, bis wir beide schließlich irgendwann keine Luft mehr bekamen. Wir taperten in den Garten und ließen uns einfach ins Gras fallen. Ich weiß nicht, wie lange wir so da lagen, irgendwann sagten wir beide fast gleichzeitig: "Man könnte was essen." Also taperten wir in die Küche und zauberten einen riesigen Nudelauflauf. Während das Teil im Ofen war, suchte ich alles, was ich an Kerzen und Windlichtern finden konnte zusammen und verwandelte den Garten in ein kleines Kerzenmeer. Es war wirklich schön. Die Sonne ging langsam unter, überall Kerzen, was Schnuckeliges zu essen und dann noch Nils, mein Nils bei mir. Der Wettkampf, das Essen, der Wein, das alles machte uns nach einer Weile ziemlich müde und so zottelten wir hoch in mein Zimmer. Nils neben mir in meinem Bett. Wir küßten uns und wir kuschelten eine halbe Ewigkeit. Ich schwebte im siebenten Himmel. Und wenn es nur diese Momente sind, für die es sich lohnt zu leben. Es sind diese Augenblicke, wo ich einfach nur so voll Glück bin, so voller Liebe für Nils, daß alles andere um mich herum so unwichtig wird. Wir haben zwei Mal miteinander geschlafen und irgendwann hatte Nils seinen Kopf auf meine Brust gelegt und war eingeschlafen. Ich strich im sanft über sein Gesicht. Diese Momente möchte ich für die Ewigkeit aufheben, für immer in mir tragen und mir immer wieder in Erinnerung rufen, wenn es mir schlecht geht.
Schließlich bin auch ich irgendwann eingeschlafen und wachte erst auf, als Nils mich sanft wachrüttelte: "Kaffe oder Tee?"
Ich murmelte irgendwas von Kakao und es dauerte einen Moment ehe ich mich in der Situation zurechtfand. Nils Stand in meiner Küche und machte Frühstück. Ok, es ist nicht meine Küche, sondern ja eher die Küche unserer Familie. Aber Nils bewegte sich so selbstverständlich darin, als wäre er hier zu Hause. Ich stand im Türrahmen und schaute ihm zu. "Frühstück im Garten oder auf dem Zimmer?" fragte er.
"Och, ich denke mal, im Zimmer, da ist es gemütlicher."
Was nicht so ganz stimmte. Im Bett zu frühstücken ist ja vielleicht total romantisch, aber auch reichlich unpraktisch. Man muß permanent aufpassen, daß man nichts vollkleckert, daß einem die diversen Getränke nicht umkippen und so weiter. Aber es war auch witzig.
Nach dem Frühstück haben wir das halbe Bad unter Wasser gesetzt, weil wir natürlich zusammen in die Badewanne hüpfen mußten. Aber es war einfach nur geil, da drin mit Nils Sex zu haben.
Den Rest des Tages verbrachten wir im Garten. "Ist es nicht nervig, jeden Tag unsere Schule im Blickfeld zu haben?"
"Na im Blickfeld ist ja wohl ein bissele übertrieben." Ich lehnte mich so weit es ging über den Gartenzaun: "Da muß man sich schon ganz schön verrenken und um die Ecke gucken, um die zu sehen."
"Haaa...jetzt sagst du auch schon 'ein bissele'. Ich habe also doch recht, du fängst an, schwäbisch zu reden."
"Na super, das hat mir gerade noch gefehlt. Außerdem hatten wir das Thema schon mal."
Nils grinste richtig selbstzufrieden in sich hinein.
Irgendwann am Nachmittag räumten wir dann ein wenig auf, obwohl, so viel Unordnung hatten wir gar nicht gemacht. Und dann zottelte Nils nach Hause. Ich wollte ihn gar nicht gehen lassen. Wir standen wieder eine halbe Ewigkeit im Flur und hielten uns nur fest.

Und nun sitze ich hier, warte eigentlich nur, daß Mom, Dad und Lisa wieder kommen und denke an den vergangenen Tag. Es war so schön. Und ich überlege, daß es bestimmt ganz toll wäre, wenn wir irgendwann mal zusammen eine eigene Wohnung haben. Wenn wir jeden Tag zusammen verbringen können. Jeden morgen von Nils geweckt zu werden, jeden abend einschlafen mit seinem Kopf auf meiner Brust. Ihn immer, wenn man Lust hat, in den Arm zu nehmen und zu küssen. In meinen Gedanken fange ich schon an, unsere gemeinsame Wohnung einzurichten. Verrückt, ich weiß. Aber es ist eben ein Traum.
Jetzt höre ich unseren Wagen die Einfahrt raufkommen.

Samstag, 14. Juni 1997

14. Juni

"Und, wie groß wird die Party sein?"
Verwirrt blickte ich Dad an: "Party?"
"Na, du machst doch bestimmt eine Party, wenn wir weg sind."
"Dad, bitte, nein", jetzt wurde mir erst mal klar, was er meinte, "ich mache keine Party. Ganz bestimmt nicht. Wir haben heute Wettkampf und vielleicht kommt Nils noch hinterher vorbei, aber das ist auch alles. Also keine Sorge, daß ich die Einrichtung demoliere."
Dad grinste und stieg ein. Lisa winkte und der Wagen rollte langsam die Straße hinunter. Bis morgen Abend habe ich sturmfreie Bude. Natürlich könnte ich Party machen, aber warum? Darauf habe ich keinen Bock. Ich will mit Nils alleine sein. Einfach nur wir zwei beisammen, eine Nacht, einen Morgen.
Ich gucke im Kühlschrank nach, ob auch alles da ist, was wir brauchen könnten. Zum Glück hat Mom wohl gedacht, ich würde verhungern, wenn sie nicht da ist und es war alles bis oben vollgestopft. Ich bin aber trotzdem gerade noch mal schnell zum HaMa runtergefahren und habe eine Flasche Sekt und Rotwein gekauft. Denn das würde bestimmt auffallen, wenn so was aus unserem Vorrat fehlen würde.

Und jetzt werde ich meine Tasche packen und zur Halle tapern. Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust aus den Wettkampf, es ist viel zu heiß.

Freitag, 13. Juni 1997

13. Juni

"Da ist was im Bios verstellt gewesen, deshalb hat er die Platte nicht erkannt."
Aha, naja, Max wird wohl schon recht haben, auch wenn ich nicht so recht verstanden habe, was er meint. Jedenfalls geht mein Computer wieder. Er hat mir gleich noch ein bißchen was gezeigt, wie man Sachen im Internet findet. Ist schon irgendwie witzig.

Am Abend war ich dann noch mit Nils bei Doris. Wir haben einfach nur alle auf der Wiese vor ihrem Hof gesessen, gequatscht, Früchtebowle getrunken. Es war ein richtig schöner Sommerabend. Aber das Schönste war eigentlich der Heimweg zusammen mit Nils über den Kochertalweg. Wir haben angehalten, uns ewig lange geküßt und haben es tatsächlich dann dort zusammen gemacht. Es war einfach großartig. Es ist so schön, daß es ihn gibt.

Donnerstag, 12. Juni 1997

12. Juni

"Ich nehme an, du möchtest nicht mitkommen?"
Ich schüttelte den Kopf. Nein, also darauf habe ich nun wirklich keine große Lust, zur Hochzeitsfeier von Moms Arbeitskollegin nach Ulm mitzufahren. Außerdem habe ich ja Wettkampf am Samstag. Also bleibe ich hier. Mom und Dad nehmen Lisa sogar mit und übernachten auch in Ulm. Das heißt, ich habe einen Samstagabend sturmfreie Bude. Nils und ich haben sturmfreie Bude! Cool, bei dem Gedanken bekomme ich richtig gute Laune und ich freue mich tierisch darauf, wieder mal einen Abend, eine Nacht mit ihm alleine verbringen zu können. Und diesmal bei mir.
Nils jedenfalls scheint sich auch zu freuen. Wir haben beschlossen, am Samstag nach dem Wettkampf gleich zu mir zu fahren und nicht noch mit den anderen zum Essen zu gehen.

Alles gute ist ja nie beisammen, geht wohl so ein Sprichwort. Gerade eben ist mein Computer kaputt gegangen. Ich weiß nicht, was los ist, ich schalte ihn ein, aber es passiert nichts. So ein Mist. Ich muß Max morgen mal fragen.

Mittwoch, 11. Juni 1997

11. Juni

"Können sie gleich vorbeikommen?"
Ich war gerade von der Schule nach Hause gekommen, als das Telefon klingelte. Lisa ist im Kindergarten von der Schaukel gefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen. Manchmal frage ich mich echt, was diese komischen Kindergärtnerinnen dort eigentlich anstellen. Man kann doch kleine Kinder nicht so einfach von der Schaukel fallen lassen. Na jedenfalls habe ich Mom angerufen und bin dann mit Lisa zum Kinderarzt getapert. Wenigstens hatte der Sprechstunde und wir mußten nicht lange warten. Aber er meint, daß das alles halb so schlimm ist und eine Spritze brauchte sie auch nicht zu kriegen. Er hat ihr einen Verband gemacht und sie ist die ganze Zeit total tapfer gewesen. Dafür sind wir dann hinterher auch ein großes Eis essen gegangen. Als wir schließlich zu Hause waren, war Mom schon da. Sie war dann auch beruhigt, daß nichts Schlimmes passiert war.
Durch die ganze Sache bin ich zwar viel zu spät zum Training gekommen, aber zum Glück war Dimitri heute nicht da, sondern nur wieder dieser lustlose Aushilfstrainer.

Eben habe ich versucht, Matteo zu schreiben, aber mir fällt nichts Gescheites ein. Das ist irgendwie alles schon so lange her.

Dienstag, 10. Juni 1997

10. Juni

"Herzlichen Glückwunsch. endlich steckst du dir selber mal ein Ziel. Also Leipzig im Oktober. Dann packen wir doch gleich noch mal 10 Kilo drauf."
Wieder mal so eine typische Nils-Reaktion, aber was soll man machen?
"Dir ist aber schon klar, daß wir dann auch wenn wir auf Korsika sind trainieren werde."
Mir kam eine Idee: "Unter einer Bedingung."
"Bedingung? Was für eine Bedingung? Schließlich willst DU doch gewinnen, oder?"
"Vielleicht. Vielleicht willst DU aber auch, daß ich gewinne."
Nils war für eine Sekunde sprachlos und wurde rot.
"Ich habe gesehen, daß die in dem Feriendorf auf zwei Tennisplätze haben. Ich nehme Schläger mit und dann spielen wir Tennis."
"Ich kann doch nicht Tennis spielen. Das habe ich noch nie in meinem Leben gemacht. Das finde ich affig."
"Ich zeige dir, wie es geht. Wir wollen ja kein Turnier machen. Einfach nur so ein bißchen den Ball über's Netz schlagen. Das schaffst du schon."
Nils sah alles andere als begeistert aus, aber ich finde die Aussicht, daß endlich mal auch ich ihm etwas zeigen konnte, sehr nett.

Nach dem Krafttraining hatte ich heute endlich mal wieder eine Stunde Extra-Training bei Werner. Nils saß wieder interessiert dabei und meinte hinterher, daß er ein paar Ideen für unser Privat-Training dabei bekommen hätte. Langsam komme ich mir vor, wie in irgendeinem Rocky-Film, wo alle Leute versuchen einen fit zu machen. Aber es ist auch gleichzeitig ein ganz witziges Gefühl.

Montag, 9. Juni 1997

9. Juni

"Nächsten Samstag, Heimkampf. Tim, du trittst an. Ich hoffe, du reißt dich diesmal zusammen."
Na toll, also wieder rein in die Tretmühle. Zum Glück geht es gegen einen ziemlich schwachen Verein und vielleicht schaffe ich es ja auch. Jedenfalls glaube ich, daß ich heute beim Training gar nicht so schlecht war. Und wenn ich im Oktober wirklich in Leipzig mitmachen will, dann muß ich jetzt auch Leistung bringen, sonst läßt Dimitri mich nie fahren. Aber ich will auf jeden Fall. Das habe ich jedenfalls beschlossen.
Jetzt merke ich tatsächlich, daß der Sommer kommt. Die Abende und Nächte sind angenehm warm. Es ist schön, mit Nils einfach draußen zu sitzen, Eis zu essen, in den Himmel zu gucken und Sterne anzugucken. Wir reden nicht viel. Aber das müssen wir auch nicht. Es ist einfach nur schön, daß wir uns haben, daß wir zusammen sind. Ich geniesse jede Sekunde, die er in meiner Nähe ist.

Matteo hat geschrieben. Ich hatte ihn völlig vergessen. Er schreibt, daß er jetzt eine ganz tolle Freundin hat und fragt, ob ich in diesem Jahr wieder nach Rosolina Mare komme, dann könnte ich sie kennenlernen, weil er sie wohl mitbringt. Naja, ich werde ihn wohl 'enttäuschen'. Was soll ich mit einem Hetero-Italiener, wenn ich doch meine Ferien mit meinem Nils verbringe? Aber ich werde ihm auf jeden Fall trotzdem mal schreiben. Nur heute nicht, dafür bin ich viel zu müde.

Sonntag, 8. Juni 1997

8. Juni

"Eigentlich bin ich viel zu fertig, um jetzt noch Party zu machen."
Nils stopfte sein Sporttasche ins Schließfach und sah mich fragend an.
"Ach komm schon", meinte ich, "wir waren schon so lange nicht mehr im X1. Immer nur Tofa ist doch voll öde."
"Du hast ja recht, aber der Wettkampf war heute echt heftig."
"Oh, großer Ringer, das sagst DU?"
"Ha, um dich zu besiegen reicht's immer noch", sagte er und jagte mich durch den halben Bahnhof.
Das Dumme an solchen Abenden ist nur, wie man die Zeit bis nach zwölf rumkriegt, denn vorher ist sowieso nirgendwo was los. In das schwule Café konnten wir schlecht gehen, weil ja Flo und die Anderen dabei waren. Also hingen wir den Rest des Abends bei McDo rum und schaufelten Pommes in uns rein.
Irgendwie verging die Zeit dann doch und wir kamen sogar ohne Probleme ins X1 rein. Das ist ja echt immer so ein Gezittere. Aber irgendwie wollte nicht so richtig Stimmung aufkommen. Ich weiß auch nicht wieso. Die Musik war eigentlich ganz gut, aber wenn ich ehrlich bin, war ich auch ziemlich müde und fertig, obwohl ich gar nicht beim Wettkampf mitgemacht habe. Ich bin sogar für eine Weile in einer Ecke eingepennt. Früher abhauen konnten wir auch nicht, weil ja noch kein Zug zurück fuhr. Es wird Zeit, daß ich 18 werde und endlich meinen Führerschein machen kann. Dann ist diese nervige Bahnfahrerei endlich zu Ende. Ich meine, das Gefahre mit der HVV war ja schon heftig, aber hier ist das ja noch viel schlimmer.
Und so saßen wir dann allesamt schon um halb vier wieder am Bahnhof und warteten auf den ersten Zug in Richtung Bergbach. Nicht mal mehr zu McDo konnten wir noch gehen, weil das natürlich auch schon zu war.
"Wir hätten ja Silvio fragen können, vielleicht hätte uns ja sein Bruder gefahren", frotzelte ich.
"DAS hätte mir gerade noch gefehlt", brummte Nils.
"Oder Bauer Harms, der hätte uns mit dem Traktor abgeholt."
"Wer ist Bauer Harms?"
"Ach niemand, ist eigentlich nur so ein Insider-Witz aus meiner alten Schule."
Ich merkte schon, Nils war nicht so sehr nach Witzen zumute. Irgendwann konnten wir dann endlich einsteigen und für eine knappe Stunde während der Fahrt pennen.

Natürlich habe ich dann wieder auch den halben Vormittag zu Hause verpennt. Wenigstens war es dann am Nachmittag noch ganz nett, weil wir uns alle für's Freibad verabredet hatten. So ein bißchen Sonne tanken war ganz nett. Auch wenn ich viel lieber die Zeit mit Nils alleine verbracht hätte.

Samstag, 7. Juni 1997

7. Juni

"Lebst du noch?"
Das war Robert am Telefon. Shit, den hatte ich völlig vergessen.
"Ich dachte, ich höre mal, was aus dir geworden ist. Aus dir und Nils und diesem Heiko."
Wie peinlich. Ich hätte ihn ja schon längst anrufen sollen. Aber ich habe es total verschwitzt. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Alles was passiert war, seit wir uns das letzt Mal gesprochen hatten. Ich konnte fast sehen, wie er am anderen Ende des Telefons den Kopf schüttelte. Als ich fertig war, hörte ich ihn seufzen: "Ihr Jungschwuppen seid ja so kompliziert."
"Was ist denn daran kompliziert. Ich war eben total verknallt."
"Ja eben. Aber nicht einfach so verknallt. Sondern kompliziert verknallt, in zwei Typen."
"Das ist ja nun vorbei."
"Und da bist du dir ganz sicher?"
"Ja!"
"Na dann herzlichen Glückwunsch. Vor allem herzlichen Glückwunsch zu deinem tollen Freund, der das alles mitgemacht hat."
Ich wußte nicht, was ich von seinen Worten halten sollte. Waren sie nun ehrlich gemeint oder nur spöttisch?
"Wann bist du denn mal wieder in Stuttgart?" fragte er.
"Heute abend. Wir gehen ins X1."
"Wir?"
"Nils, ich und die anderen Jungs vom Verein. Komme doch einfach auch hin."
"Herrje, nein, da kriegen mich keine zehn Pferde rein. Ich steh nicht auf House und Techno."
Fast hätte ich ja gesagt, daß sie ihn sowie nicht reinlassen würden, aber das verkniff ich mir. Das wäre auch wirklich zu gemein gewesen. Immerhin hat er mir ziemlich geholfen als ich total down war. Ich glaube, wenn ich mal wieder ein bißchen mehr Luft habe, werde ich mich mit ihm mal wieder treffen.
Eben habe ich gerade noch versucht, Heiko anzurufen. Ja, ich habe es tatsächlich versucht. Mein Herz klopfte wie wild, aber ich habe umsonst gezittert: es ging niemand ans Telefon. Aber immerhin, ich habe es versucht!
So, und jetzt werde ich mich aber erst mal fertig machen fürs X1. Ich habe richtig Bock drauf abzudancen.

Freitag, 6. Juni 1997

6. Juni

"Am Samstag X1? Wir sind ja sowieso in Stuttgart", meinte Flo.
Ganz automatisch blickte ich zu Nils. Der nickte: "Warum eigentlich nicht?"
"Oder doch lieber Tofa?"
"Ach nee, nicht schon wieder Bauerntrampel-Tanz."
Nils prustete los. Ich glaube, irgendwann werden wir mal nach Hamburg fahren und ich werde ihn ins Maze mitnehmen.
Mein Versuch, endlich mal Doris dazu zu überreden, mit ins X1 zu kommen scheiterte kläglich. Sie lehnte es kategorisch ab und meinte, daß sie erstens Lena nicht permanent bei ihrer Mutter abgegeben könne und daß ihr solche Läden zweitens sowieso nicht gefallen. Na gut, dann eben nicht. Den Rest des Schultages verbrachten wir mit der reichlich nutzlosen Diskussion um die Aufgaben der Matheklausur. Ich fand sie ja ehrlich gesagt nicht so schlimm, aber alle anderen waren wohl nur noch am Abkotzen.

Nils am Abend bei mir:
"Ich denke mal, Dimitri läßt dich nächste Woche wieder mitkämpfen."
"Wenn ich es mir recht überlege, bin ich nicht sonderlich scharf darauf. Das heißt, ich habe es nicht sonderlich eilig."
"Das glaube ich dir sogar. Aber daraus wird nichts. Wenn du weiter kommen willst, mußt du Wettkämpfe machen. Nur trainieren bringt gar nichts."
"Ja, ist ja schon gut. Ich sag' ja schon nix mehr."
Wir lagen auf dem Boden, Nils hatte seinen Kopf auf meine Brust gelegt und die Augen geschlossen. Ich hatte es mir angewöhnt, die Tür abzuschließen, wenn er da war, damit nicht Lisa plötzlich ins Zimmer gestürmt kommen kann. Wenn Mon oder Dad kommen, hört man das ja immer vorher, aber Lisa ist so flink und leise, schwupps steht sie in der Tür. Wir lagen einfach nur da und träumten. Ich frieselte durch Nils' Haare und küßte ihn auf die Stirn: "Weißt du, daß wir verdammt viel Glück haben?" flüsterte ich.
"Ich weiß. Ich weiß es und ich finde es toll."
Dann schwiegen wir wieder für eine halbe Ewigkeit. Es reichte, daß er da war. Es reichte, seine Nähe zu spüren, zu fühlen, wie er atmet. Es ist so ein total sicheres Gefühl, sicher und zufrieden.
Als er schließlich gehen mußte, habe ich ihn noch bis zu unserer Kreuzung gebracht. Zufrieden und glücklich bin ich und doch merke ich, daß mir etwas fehlt. Mich nervt diese Ungerechtigkeit. Wenn er ein Mädel wäre, wäre es überhaupt kein Problem, daß er über Nacht bei mir bleibt. Und nur weil wir schwul sind, müssen wir uns verstecken, müssen uns blöde Ausreden einfallen lassen, wenn wir mal bei dem Anderen pennen wollen, müssen Türen abschließen, leise sein, jede noch so kleine Zärtlichkeit vermeiden, wenn jemand dabei ist. Das ist es, was nicht mehr so zum Glücklichsein paßt. Auf der anderen Seite haben wir natürlich schon Glück, daß wir uns überhaupt gefunden haben.

Donnerstag, 5. Juni 1997

5. Juni

"Es ist seltsam", sagte Nils und zuppelte einen Faden aus dem Rand der Mattenplane, "in letzter Zeit denke ich immer wieder daran, wie es wohl ist, wenn wir mit dem Abi fertig sind."
Ich schaute ihn an und war ein bißchen verwundert. Er war nachdenklicher geworden in dem ganzen letzten Jahr. Nein, er ist immer noch der lustige Nils, der mich mit seinen strahlenden Augen mitreißt, der rumblödelt und total albern sein kann. Aber dann hat er auf einmal wieder Momente, wo er eben so seltsam nachdenklich ist.
"Ich muß zugeben, daß ich so richtig ernsthaft noch nie darüber nachgedacht habe."
"Aber man muß doch Pläne machen, für die Zukunft."
"Nils, das sind noch zwei Jahre hin."
"Ja und? Hast du keine Idee, was du dann machst, ich meine nach dem Abi?"
"Nicht so richtig. Auf jeden Fall will ich hier weg. In diesem Kaff will ich nicht länger als nötig bleiben."
"Wohin willst du denn?"
"Das weiß ich doch jetzt noch nicht. Vielleicht wieder zurück nach Hamburg. London vielleicht, was weiß ich."
"Und ich?"
"Wie und du?"
"Spiele ich gar keine Rolle dabei?" seine Stimme klang traurig.
"Hey, das ist noch ewig hin. Sag bloß, du willst hier in Bergbach bleiben? Was kann man denn hier schon machen, oder werden?"
"Ich weiß nicht, vielleicht will ich ja gar nichts Großartiges machen. Ich weiß ja nicht mal, ob ich überhaupt studieren will."

Ich sagte nichts mehr. Es gibt wenige Sachen, in denen Nils und ich total anderer Meinung sind. Aber hier waren wir wieder an einem Punkt angekommen, wo ich ihn nicht verstand, wo ich aber auch nicht auf ihn einreden wollte. Das Ganze war mir viel zu weit weg, noch viel zu irreal.
"Vielleicht wirst du ja ein großer Bergbacher Ringer, machst bei der nächsten Olympiade mit, gewinnst eine Goldmedaille und bekommst einen dicken Werbevertrag."
"Mit Ringen ist doch kein Geld zu verdienen. Fußballer müßte man sein, oder Tennisspieler."
"Tja, wir haben uns eben den falschen Sport ausgesucht."
"Wir haben ihn uns nicht ausgesucht, er hat sich UNS ausgesucht."
"Ah ja."

Wir schwiegen und schauten Flori beim Trainingskampf zu.
Aber die Unterhaltung hatte mich für den Rest des Tages wirklich nachdenklich gemacht. Ich versuche, mir mal wieder meine Zukunft vorzustellen. Und es fällt mir echt schwer. Das Einzige, was ich weiß, ist daß ich garantiert nicht hier in Bergbach bleiben werde. Ok, Stuttgart könnte ich mir gerade noch so vorstellen. Aber am liebsten würde ich wieder zurück nach Hamburg gehen. Ich glaube, da bin ich immer noch zu Hause, da bin ich nie ganz weg. Und dann irgendwas studieren, nur was? Ich weiß es echt nicht. Architektur wäre ganz nett, aber dafür kann ich wahrscheinlich nicht verrückt genug denken und eh nicht zeichnen. Was mir ein bißchen Angst macht, ist, daß Nils in diesen Ideen gar keine Rolle spielt. Wenn überhaupt sehe ich mich, wie ich eine eigene Wohnung habe, Leute treffe, alles mögliche mache. Aber kein Nils. Vielleicht muß ich mich ja wirklich erst mit der Idee vertraut machen, mit ihm richtig zusammen zu leben.

Mittwoch, 4. Juni 1997

4. Juni

"Perfekt!"
Wow, ein Lob von Dimitri höchstpersönlich. Ich habe einen neuen Lieblingsgriff. Nils nennt ihn "Chicken Wing" und Dimitri konnte mir keine andere Bezeichnung dafür nennen. Auf jeden Fall finde ich ihn äußerst wirkungsvoll und ich merke, wie ich ihn total leicht hinbekomme, obwohl er eigentlich voll kompliziert ist.
"Du mußt aber aufpassen", meinte er, "mehr Griffe zu können heißt nicht automatisch besser zu sein."
"Schon klar. Aber wenn ich ein paar Sachen drauf habe, die Heiko nicht kennt, dann..."
SHIT. Das hatte ich gesagt! Es war einfach so herausgerutscht. Nein, nicht einfach so, ich hatte es gedacht und nicht aufgepaßt.
Und Nils? Erst schaute er mich total unbewegt an und dann fing er plötzlich an zu grinsen: "Also doch. Ich wußte es. Du WILLST gegen ihn gewinnen. Warum auch immer."
Was sollte ich jetzt noch dagegen sagen? Ich glaube, ich wurde knallrot.
"Und ich mache dich fit dafür", sagte er. "Ich werde dafür sorgen, daß du gewinnst."
Ich bin mir sicher, das wird er.

Na toll, und wie abgesprochen klingelte am Abend das Telefon und Heiko war dran: "Hi, ich habe ja gedroht, dich anzurufen, falls du dich nicht meldest."
"Ja."
"Störe ich?"
"Nein, wirklich nicht." Fast hätte ich gesagt, 'Du könntest mich niemals stören' aber das fand ich dann doch zu albern.
"Und wie geht's dir?"
"Ganz gut. Nee, wirklich, ich denke mal, mir geht es eigentlich ganz prächtig. Und dir?"
"Auch ok. Matthes ist beim Training, meine Mutter auf Arbeit und ich habe endlich mal ein bißchen Zeit für mich."
"Klingt ja ein bissel komisch."
"Ja, was denn? Man kann doch nicht die ganze Zeit aufeinander hocken."
"Ja stimmt schon." Ich wunderte mich selber, wie merkwürdig einsilbig ich war. Nicht daß ich mich nicht gefreut hätte, mit ihm zu telefonieren. Aber vielleicht brauchte ich ja gerade dieses kleine bißchen Distanz als Sicherheitszone. Zum Glück redete Heiko und ich brauchte nur zuhören. Ich fand es einfach auch nur schön zuzuhören.
"Das nächste Mal bist du aber dran mit Anrufen", meinte er.
Ich mußte lächeln. Ja, ich glaube, das werde ich sogar machen. Und obwohl es immer noch ein bißchen weh tut, glaube ich, daß ich inzwischen wieder fast in der Realität angekommen bin.

Dienstag, 3. Juni 1997

3. Juni

"Kein Problem, dann lasse ich eben auch das Krafttraining ausfallen und komme statt dessen zu dir."
Cool, das fand ich natürlich eine tolle Aussicht, daß Nils extra meinetwegen das Krafttraining ausfallen läßt.
Und so fanden wir uns alle in unserem Garten wieder. Lisa spielte mit uns Kaufmannsladen und es war irgendwie total witzig. Irgendwann wurde sie müde und pennte auf einer der Liegen ein.
"Ich freue mich auf Korsika", flüsterte Nils mir zu.
"Ich auch. Vor allem freue ich mich darauf, endlich wieder am Meer zu sein."
"Ach, und auf mich freust du dich gar nicht?"
"Doch natürlich. Auf dich doch zu allererst. Wir werden am Strand sitzen und sehen, wie die Sonne über dem Meer untergeht. So richtig schön kitschig."
"Ich muß dich enttäuschen, mein Lieber."
"Wieso?" Ich blickte ihn verwirrt an.
"Ich denke DU bist der Meerfreak."
"Ja und?"
"Denk mal nach."

Mir fiel aber auch gar nichts ein. Nils düste ins Haus und kam mit meinem Atlas wieder. Er schlug die Seite mit Korsika auf: "Da ist Bastia, und wir sind etwa 50 Kilometer südlich davon, in Moriani Plage. Und DAS liegt an der Ostküste...also nichts mit romantischem Sonnenuntergang. Höchstens mit Sonnenaufgang."
Ich war verblüfft, offenbar, hatte er sich damit schon vorher beschäftigt.
"Dann, werden wir die Reise wohl absagen müssen", meinte ich scherzhaft, "oder halt die Nacht am Strand verbringen, um tatsächlich den Sonnenaufgang zu genießen."
"Ich glaube, ich will viel lieber etwas anderes genießen", Nils grinste und ich wußte genau, was er meinte.

Montag, 2. Juni 1997

2. Juni

"Kannst du Lisa heute nachmittag vom Kindergarten abholen?"
"Mom, ich habe Training."
"Kann ich vielleicht EINMAL auch ein wenig Unterstützung von DIR bekommen? Du hast ja immer irgend etwas. Du bist ja sowieso nur noch zum Wäschewechseln und Essen zu Hause, wenn überhaupt. Und wenn ich dich dann mal um etwas bitte, dann heißt das gleich es geht nicht."

Jeeez, na toll, auf diese Nummer kann ich ja nun absolut nicht ab. Da ich aber keinen Bock auf mehr Diskussion hatte, habe ich ihr versprochen, Lisa vom Kindergarten abzuholen und auf sie aufzupassen.

Wobei ich Mom natürlich nicht versprochen habe, daß ich zu Hause auf sie aufpasse. Und so habe ich also Lisa vom Kindergarten abgeholt und habe sie mit zum Training genommen. Ihr gesagt, daß sie sich ganz ruhig auf die große Weichmatte setzen kann und zugucken kann. Wobei ich glaube, daß sie es nicht ganz so spannend fand, was ja auch kein Wunder ist. Jedenfalls fing sie irgendwann an zu quengeln und ich mußte immer öfter zu ihr hinlaufen um sie zu trösten. Dimitri war schon nahe dran, stinkig zu werden und Nils grinste nur.

Zuhause war dann die helle Panik. Mom meinte, das wäre ja wohl unverantwortlich und auf mich könne man sich gar nicht verlassen. Ich erklärte ihr, daß daran ja nun überhaupt nichts Schlimmes sei und so weiter. Sie hat es nicht eingesehen und gemeint, daß ich morgen, wenn ich Lisa wieder vom Kindergarten abhole, gefälligst mit ihr zu Hause bleiben soll, um auf sie aufzupassen. Shit, das heißt also kein Krafttraining. Und alles nur, weil Mom Streß auf Arbeit hat und Überstunden machen muß.

Sonntag, 1. Juni 1997

1. Juni

"Ihr Ringer seid wirklich durch die Bank weg gestört", stellte Doris fest.
"Ich bin nicht gestört", protestierte ich.
"Ich gehe jede Wette ein, daß du Nils ein bissele um sein blaues Auge beneidest."
"So ein Schwachsinn."
Nils prustete los vor Lachen. Wir waren auf dem Weg zu Tobias und eigentlich ganz guter Stimmung. Wieso nur mußte ICH mir jetzt irgendwelche Sticheleien wegen Nils' blau-lila-dick-Auge anhören?
Tobias' Kommentar war auch dementsprechend: "Heiligs Blechle" oder so ähnlich. Aber er hat sich gefreut, daß wir ihn besucht haben. Er hatte jede Menge Noten in seinem Zimmer verteilt. Ich glaube, er ist jetzt die ganze Zeit nur noch am Klavierspielen. Jedenfalls fangen jetzt seine Haare an auszufallen und er sieht wirklich ziemlich krank aus. Aber er meint ja immer noch, daß das Ganze wieder völlig geheilt werden kann.
Es ist schon seltsam. Wie lange ist es her, daß ich das erste Mal in seinem Zimmer stand? Meine Güte, und ich war so verknallt in ihn. Ich konnte nicht richtig schlafen, nicht richtig essen. Ich glaube, es war fast so wie bei Heiko jetzt. Ok, vielleicht nicht ganz so schlimm. Ich werde mal im Tagebuch nachlesen. Ja und heute ist Tobias eigentlich wirklich nur jemand aus meiner Klasse. Jemand, den ich ganz gerne habe, aber mehr auch nicht. Ich glaube nicht mal ein richtiger Freund. Wobei ich gar nicht weiß, wie ich das genau definieren würde. Bin ich mit Flo befreundet? Mit Max? Mit Doris, ja auf jeden Fall. Ist ja eigentlich auch egal, wie man das nennt.
Auf dem Rückweg setzten wir uns noch für ein Eis ins Venezia.
"Ist dir eigentlich klar, daß wir in zwei Monaten unser Eis auf Korsika schlabbern?"
"Das heißt aber auch, daß wir noch zwei Monate hier in diesem Nest braten müssen."
"Tim findet aber auch überall etwas negatives."
Nils und Doris guckten sich an und grinsten. Na toll, die beiden waren sich wieder mal einig und ich war das kleine Dummerchen.

Jedenfalls brachten wir Doris noch nach Hause und fuhren über den Kochertalweg zurück.
"Schon immer wieder komisch", meinte Nils, "wenn ich mir überlege, daß ich früher nie ein Wort mit Doris geredet habe und jetzt, wo ich sie näher kenne, finde ich sie total nett."
"Ja, ist schon seltsam, wie sich manche Leute verändern, wenn man sie näher kennenlernt."
"Naja, die Leute verändern sich ja nicht. Aber das was man von ihnen denkt."
Wir saßen wieder eine halbe Ewigkeit da, blickten hinunter auf's Tal, auf unsere Schule, auf unsere Häuser. Das sind Momente, die ich einfach nur festhalten möchte. Für immer irgendwo in eine Schachtel packen und sie wieder herausholen, wenn es mir schlecht geht. Diese Momente mit Nils, wenn wir einfach nicht zu reden brauchen.