Montag, 29. Dezember 1997

29. Dezember

"Und du bist wirklich immer noch schwul?"
"Ja was denkst du denn?"
"Und das ist echt dein Freund? Der sieht überhaupt nicht schwul aus. So wenig schwul wie du."
Nils und ich guckten uns an, kicherten erst und kriegten dann einen tierischen Lachanfall. Tassi guckte verwirrt von einem zum anderen: "Was habt ihr denn?"
"Du bist ja echt kraß drauf. Wie sieht man denn schwul aus?"
"Ich weiß nicht, irgendwie, ach was weiß ich. So wie dieser Maik zum Beispiel, der von letztem Jahr."
Mir wurde innerhalb einer Zehntelsekunde abwechselnd heiß und kalt. Ich warf Tassi mit zusammengekniffenen Augen einen böse-flehenden Blick zu: 'Halt den Mund', dachte ich, 'halt jetzt bloß den Mund.'
"Welcher Maik?", wollte Nils wissen.
"Auf der Party, letztes Silvester, war so eine Super-Schwuchtel. Bei DEM wußte man sofort, daß er schwul war. Aber bei Tim und dir? Ich bin mir ja da immer noch nicht sicher, ob Tim mich nicht damit nur verarscht. Er hat mich ja die ganzen Jahre nicht einmal angegraben."
"Wieso sollte ich ausgerechnet DICH angraben?"
"Wieso nicht`?", fragte er gespielt beleidigt zurück.
Nils und ich kicherten immer weiter. Tassi spielte ja bestimmt nur den Naivling, aber irgendwie war er trotzdem reichlich naiv. Ok, woher soll er auch wissen, wie es ist, wenn man schwul ist. Vielleicht kennt er ja außer mir und Maik und jetzt Nils keine anderen schwulen Jungs. Ich fand den Satz, den er beim letzten Mal schon gebracht hat und den er natürlich jetzt auch wieder bringen mußte schon ganz cool: "Dann nehmt ihr mir wenigstens nicht die Mädchen weg."
"Oh, Tim kann hervorragend mit Mädchen flirten."
"Was?"
"Er ist DER Mädchenschwarm bei uns in der Schule."
"Nils, bitte."
"Nein, echt mal, kriegst du das gar nicht mit? Das gibt wirklich etliche Mädchen, die total auf dich abfahren."
"Na toll. Aber ich glaube, darauf kann ich verzichten. Also, nur um das mal klarzustellen: Ich flirte nicht mit irgendwelchen Mädels."
"Ist er bei euch auch manchmal so unheimlich peinlich?"
"Peinlich? Wie, wo? Wann war ich hier mal peinlich?" Ich fand es irgendwie daneben, daß sich offenbar Nils und Tassi scheinbar stillschweigend verbündet hatten und ich nun das Ziel ihrer gemeinsamen Lästerei war.
"Eigenwillig und vorlaut, würde ich sagen."
"Nils! Schluß jetzt!"
Die beiden grinsten unverschämt. Dann gab mir Nils ein Kuß: "Aber ein ganz lieber vorlauter Tim."
"Tsts, benehmt euch."
"Wieso? Hier kennt uns doch niemand."
"Was mache ich hier nur? Ich sitze mit zwei sich knutschenden Schwulen in meinem Lieblingsladen, wo mich mindestens die Hälfte der Leute kennen. Die glauben jetzt garantiert alle, daß ich auch schwul bin."
"Ich glaube, DIE Gefahr besteht nicht."
Es war wirklich ein total witziger Blödelabend.
"Was macht ihr morgen?"
"Keine Ahnung, lange pennen, vielleicht eine Hafenrundfahrt, ein bissele shoppen."
Nils protestierte: "Eine Hafenrundfahrt? Bei dem Wetter?"
"Wir können ja erst Klamotten zum Anziehen kaufen und dann die Hafenrundfahrt machen. Ach komm, ich habe das bisher nur einmal gemacht, obwohl ich früher hier gewohnt habe."
"Ja, von mir aus machen wir eine Hafenrundfahrt", meinte Nils mit gespielter Gleichgültigkeit.
"Hafenrundfahrt, da komme ich mit, wird bestimmt cool. Mal sehen ob du seekrank wirst."
Ich kicherte. Nils und seekrank. Ist irgendwie eine witzige Vorstellung.
"Morgen Abend ist eine Party bei Nadja. Ich glaube, sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn ihr auch kommt. Ich sag auch nicht, daß ihr schwul seid."
"Mein Gott, gibt es denn kein anderes Thema für dich?"
"Ja, sorry, schon gut."

Und so haben wir heute Vormittag unsere Shopping- und Hafenrundfahrt-Tour gemacht. Ich in meiner eigenen Stadt als Tourist. Aber es war schon cool. Endlich mal wieder ein paar vernünftige Klamotten eingekauft. Den Bauch mit allerlei Zeugs in den Passagen vollgeschlagen. Den alten Elbtunnel rauf und runtergefahren. Ja, und die Hafenrundfahrt. Eiskalt, aber cool. Ich stand mit Nils am Bug und hatte ihn umarmt, damit wir uns wärmen konnten. Tassi hat sogar ein paar Fotos gemacht. Ich möchte ja mal nicht wissen, wie die geworden sind, so eiskalt verfroren, wie wir da standen. Aber ich glaube, es hat Nils wirklich Spaß gemacht. Auf dem Weg jetzt nach Hause hat er was ganz komisches gesagt: "Ich glaube, wenn es hier einen vernünftigen Ringerclub geben würde, dann würde ich sogar mit dir hierherziehen."
Eigentlich hätte ich ihn in dem Augenblick am liebsten in den Arm genommen, aber wir standen gerade auf dem U-Bahnhof und auf der anderen Seite des Bahnsteigs stand eine recht bedrohlich aussehende Gruppe von Halb-Skins.
Aber schon irgendwie verrückt das alles. Heute Abend gehen wir zur Party von Nadja.

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