Freitag, 31. Oktober 1997

31. Oktober

"Es geht schon wieder. Eine Rippe ist gebrochen, aber morgen komme ich raus, nach Hause."
"Wow, wie denn das?"
"Na, das heilt schon zusammen. Tut halt noch weh. Und ich muß eine Weile Pause machen. Aber das wird schon wieder."
Ich glaube, Nils war noch viel erleichterter als Flo.
Wir waren gerade am Rausgehen, als Flo mich fragte, ob er mich mal alleine sprechen kann. Das war schon ein bißchen komisch. Nils und ich guckten uns an. Ich glaube, wir hatte beide die gleichen Fragezeichen über unseren Köpfen. Dann zuckte er mit den Schultern und taperte raus.
"Was ist denn los? Was gibt's denn so Geheimes?"
"Ihr zwei seid wohl unzertrennlich, was?"
"Wieso?" In meinem Kopf schrillten sämtliche Alarmglocken.
"Falsche Frage."
"Ich weiß überhaupt nicht, was du willst. Wir kommen dich einfach besuchen. Mein Gott, ich hätte auch mit jedem anderen herkommen können, mit Kevin oder mit Leon. Ok, vielleicht nicht gerade mit Silvio. Aber Nils und ich sind eben Freunde, ja und? Ist das ein Problem für dich?"
"Nein, kein Problem für mich. Ok, sorry, daß ich gefragt habe."
Damit war die Sache zu Ende. Ich finde es seltsam. Sehr seltsam. Nils hat mich natürlich draußen gefragt, was Flo wollte. Ich habe ihm gesagt, daß er etwas wegen einem Mädel aus dem Mathe-LK wissen wollte. Ich kann das Nils nicht sagen. Ich glaube, er würde wieder voll die Panik kriegen und das will ich nicht. Ich wechselte so schnell wie möglich das Thema und fragte ihn auf dem Heimweg, ob er sich schon mal richtig beim Ringen verletzt hat. Aber er meint nein. Ich hoffe, mir passiert so was nie. Ich glaube, Mom würde ausrasten.
"Aber du weißt was das jetzt heißt, wenn Flo ausfällt?"
In dem Moment, wo Nils die Frage stellte, wurde es mir klar.
"Regioturnier?"
"Yo!"
"Nein, nicht mit mir."
"Tim du mußt. Wir haben keinen anderen in der Gewichtsklasse. Und auch keinen, der in der kurzen Zeit Gewicht machen kann."
"Ach das ist doch Scheiße! Was soll denn das? Ich will nicht. Ich kann nicht, ich habe die ganze Zeit nicht darauf trainiert."
"Nun tu' doch nicht so. Das ist doch nicht dein erster Wettkampf. Du bist fit genug und wir haben noch eine gute Woche Zeit."
Wir stapften schweigend zurück. Na toll. Flo bricht sich eine Rippe und ich darf beim Regioturnier mitmachen. Und ich habe absolut keine Böcke darauf, fünf oder sechs Kämpfe an einem Tag zu machen. Aber ich werde es machen müssen. Ich kann die anderen ja nicht im Stich lassen.
Endergebnis: Ein Extra-Training mit Nils heute. Toll, ganz toll.
Kaputt und müde bin ich, obwohl ich ja bis auf das Training kaum was gemacht habe heute. Was ist das für eine Sache mit Flo? Was weiß er? Weiß er überhaupt was? Oder ahnt er was? Shit, daß das mit ihm nicht so easy ist wie mit Tassi. Aber mit dem habe ich ja auch nicht jeden Tag mehr zu tun. Überhaupt...Tassi. Ich glaube, ich rufe ihn mal an.

War ein echt witziges Telefongespräch. Und schön, wider mal mit ihm zu quatschen. Dommes hat die Schule geschmissen, unsere tolle Big Band hat wieder irgendwelche Preise gewonnen und Tassi hat sich zum hunderttausendsten Mal unglücklich in irgendein Mädel verknallt, das ihn wieder mal hängen läßt. So richtig viel hat sich nicht getan. Ich habe ihm erzählt, daß ich immer noch mit Nils zusammen bin, von unserem Urlaub auf Korsika, von den entsetzlich öden Wochenenden hier out in the middle of nowhere. Er meinte, daß ich Sylvester doch wieder hochkommen soll. Ich könnte sogar bei ihm pennen. "Du wirst ja schon nicht über mich herfallen", meinte er. Er hat das zwar bestimmt witzig gemeint, aber irgendwie fand ich das schon daneben.

Sylvester in Hamburg. Oder Sylvester in Saalbach beim Skifahren. Es wär natürlich irgendwie total cool, wenn ich mit Nils zusammen nach Hamburg fahren könnte. Vielleicht gefällt es ihm ja sogar da. Vielleicht.

Donnerstag, 30. Oktober 1997

30. Oktober

Heute hat es Flo erwischt. Ich habe gar nicht so richtig mitbekommen, wie es passiert ist. Er hatte jedenfalls gerade mit Nils trainiert, als wir seinen Schrei hörten. Es war nicht einfach so, als wenn jemand schreit, weil er sich wehgetan hat, sondern es klang richtig heftig. Flo lag auf dem Rücken, war total blaß und bekam so wie es aussah nicht mehr richtig Luft. Er atmete ganz schnell und ganz flach und hielt sich dabei die rechte Seite. Neben ihm hockte Nils, der mindestens genauso blaß war. Mahmout kam angerannt.
"Kannst du aufstehen?"
Flo schüttelte mit zusammengebissenen Zähnen den Kopf. Mahmout tastete Flos Bruskorb ab und irgendwann kam er an eine Stelle, wo er aufschrie. Inzwischen waren eine Menge Leute um uns herum auch Werner stand da und Mahmout nickte ihm zu.
"Was ist denn mit ihm?" wollte Leon wissen.
"Sieht aus als wenn eine oder zwei Rippen gebrochen sind. Wir lassen ihn in die Klinik bringen."
"Oh nein, nicht doch so ein Scheiß", jammerte Flo.
Ich guckte zu Nils, der sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen. Ich stand auf, zog ihn hinter mir her in die Umkleide.
"Wie ist denn das passiert?"
"Keine Ahnung. Ich habe nicht weiter gemacht als einen Crossface und ich glaube ich bin einfach nur unglücklich auf seine Rippe gefallen. Aber ich habe es doch verdammt noch mal nicht mit Absicht gemacht."
Er sah wirklich so aus, als wenn ich ihn trösten müßte. Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. "Komm, laß uns seinen Rucksack zusammenpacken, damit er seine Sachen hat, wenn er ins Krankenhaus muß."
Als wir zurück in die Halle kamen, meinte Flo zwar, daß es ihm schon viel besser geht. Aber das war eindeutig gelogen, denn als er versuchte aufzustehen, klappte er völlig zusammen. Zum Glück kam gleich darauf der Krankenwagen. Flo sah wirklich total schrecklich aus. Er zitterte, hatte Schweiß auf der Stirn und atmete total schnell. Ich gab Flos Rucksack einem der Sanitäter und drückte noch mal kurz Flos Hand. Ich kam mir irgendwie total seltsam vor. Was sollte ich denn sagen? Es wird schon? Ich habe doch keine Ahnung. Mahmout stieg mit in den Krankenwagen.

Das Training war zu Ende. Keiner hatte mehr Lust weiterzumachen. Nils saß einfach nur da und starrte ins Leere, schüttelte den Kopf und murmelte nur "Scheiße, Scheiße."
"Hey komm", versuchte ich, ihn zu trösten, "das wird bestimmt wieder. Ich denke doch mal, das hast du nicht mit Absicht gemacht."
Das sollte irgendwie ein bißchen lustig sein, aber es kam natürlich nicht so rüber.
"Na los, komm schon, du kannst hier nicht die ganze Zeit in der Umkleide sitzen bleiben. Laß uns umziehen und lostapern."
Die anderen waren schon längst gegangen, als wir schließlich auf dem Parkplatz standen.
"Hat eigentlich irgend jemand bei ihm zu Hause angerufen?"
Nils schüttelte den Kopf: "Ich glaube nicht."
Wir taperten zur nächsten Telefonzelle und ich rief seine Eltern an. "Du meine Güte", war alles, was sein Vater sagte, ehe er auflegte.
"Willst du heute bei mir pennen?" fragte ich Nils.
Er guckte mich, irgendwie dankbar. "Wenn ich darf."
Ich nahm ihn in dem Arm und in dem Moment war es mir egal, ob uns jemand sah. Schweigend sind wir nach Hause getapert. Haben eine halbe Flasche Bailey's ausgetrunken und nun liegt Nils in meinem Bett und schläft.
Es ist so ein bekloppter Sport. Warum machen wir das? Nach jedem Training tun uns alle Knochen, alle Muskeln weh, immer hat man irgendwo blaue Flecken, Prellungen. Und trotzdem machen wir weiter. Warum denn das alles? Ich muß an Flo denken. Was wohl mit ihm ist? Wie es ihm jetzt in dem Moment geht? Ob sie ihn operieren? Ich glaube morgen, werde ich versuchen, ihn im Krankenhaus zu besuchen.
"Hast du Lust, eine Stunde früher zum Training zu kommen?"
"Nein Leon, heute nicht, ich habe keine Zeit", log ich. Ich habe Zeit aber keine Lust. Ich finde es ja toll, daß Leon so viel Energie hat, aber ich bin echt nicht der richtige Coach für ihn. Ich frage mich ja inzwischen sowieso schon, warum ausgerechnet ich. Ich genieße lieber den freien Tag, mache nichts, lese, schreibe, höre Musik, gucke mir das Bild von meinem Sieg gegen Heiko an, gehe jeden Moment, den wir zusammen verbracht haben im Kopf durch, jedes Wort, das wir gesagt haben. Verrückt das alles.
Ich überlege wirklich, ob ich nicht vielleicht doch mit Nils nach Saalbach fahre. Wenn er schon fragt? Ob er das wirklich ehrlich gemeint hat? Immerhin ist es ja eine Gelegenheit, die zwei Wochen mit ihm zusammen zu sein. Und vielleicht haben wir ja auch ein gemeinsames Zimmer. Das mit dem Skifahren werde ich ja noch irgendwie auf die Reihe kriegen. Denn wen ich mir überlege, daß er zwei Wochen weg ist und wir uns nicht sehen, finde ich das auch total daneben.

Mittwoch, 29. Oktober 1997

29. Oktober

"Mein Gott, du brauchst ja wieder stundenlang um ans Telefon zu kommen. Was hast du denn gerade gemacht? Dir einen runtergeholt?"
"Penner! Ich habe mich rasiert. Und das dauert einen Augenblick, bis ich unter der Dusche rauskomme."
"Wieso rasierst du dich denn jetzt unter der Dusche?"
"Ich dachte, ich gucke mal, wie es aussieht, wenn ich mir die Haare auf der Brust und am Bauch abrasiere."
Ein, zwei, drei Sekunden Schweigen, dann schrie Nils: "Was ist denn das für ein Unsinn? Die paar Haare die du das hast rasierst du jetzt ab? Warum DAS denn?"
"Einfach so, mir war gerade danach."
"Na toll, da bin ich ja mal gespannt, wie DAS aussieht."
Er legte auf. Warum er nun eigentlich angerufen hatte, weiß ich nicht. Was soll's. Jedenfalls hatte ich heute die Idee, das einfach mal auszuprobieren wie das aussieht und ich finde, es sieht gar nicht schlecht aus. Und es ging auch leichter als ich es gedacht habe. Ich habe ja erst Angst gehabt, daß ich mich irgendwie schneide, aber es war ziemlich easy. Jetzt bin ich aber nur mal gespannt, wie lange das hält. Ich weiß gar nicht, wieso Nils so ein Terz macht. Er hat da überhaupt keine Haare, also warum regt er sich so auf, wenn ich mich da rasiere?

"Ok, ok, ok. Es sieht nicht schlecht aus. Aber irgendwie muß es auch nicht sein", sagte Nils auf dem Weg vom Training nach Hause. "Wie bist du denn überhaupt darauf gekommen? Ist das wieder so ein Ding von Heiko?"
"Schwachsinn. Heiko hat damit gar nichts zu tun. Ich weiß auch nicht. Ich hatte einfach so mal die Idee. Woher weiß ich auch nicht."
Nils meinte, daß das ziemlich verrückt wäre, weil die Haare ja jetzt da viel stärker nachwachsen. Was ich aber eigentlich nicht glaube. Naja, irgendwie hat er sich dann schließlich doch wieder beruhigt.

Am Samstag macht Flo nach dem Wettkampf wieder eine kleine InnerCircle Party. Wird bestimmt lustig werden. Ich glaube, irgendwann muß ich auch mal wieder so was in der Richtung machen. Naja, vielleicht doch erst im Frühling.
Es ist doch voll daneben, eben gerade waren wir noch in Korsika, haben in der Sonne gelegen und jetzt plötzlich ist es kalt, dunkel, naß und Winter.

Dienstag, 28. Oktober 1997

28. Oktober

"Wir haben uns überlegt, daß Clemens schon nächste Woche hier einzieht."
"Und warum räumt ER dann nicht die Sachen hier rum?"
Ich hatte meine Frage nicht ernst gemeint aber Doris guckte mich für einen Augenblick total verwirrt an.
"Außerdem ist das praktisch, dann kann er auch mal babysitten."
"Ja, das kommt davon, wenn man Kinder macht."
"Was soll denn das heißen? DU kannst doch da gar nicht mitreden. Ihr Schwule drückt euch sowieso davor."
"So ein Scheiß, wer drückt sich denn vor was? Nur weil ich keine Kinder will? Jeez, ich meine, wer Kinder will, soll sie kriegen. Aber wer keine will, der kriegt eben keine. Als wenn alles nur davon abhängt, Kinder zu kriegen."
Doris lachte: "Mein Gott, du läßt dich aber auch leicht provozieren. Ist ja gut."
Na toll, war ich ja wieder mal voll in ihre Falle getapert.
"Wie geht's mit dir und Nils? Wie war euer Einjähriges?"
"Schön, einfach nur schön."
Ich erzählte ihr vom Wochenende. Sie fand die Idee mit dem Fernsehturm total gut.
"Du bist ja doch nicht so unromantisch, wie ich gedacht habe."
Schon komisch, daß sich Doris darüber Gedanken macht, ob ich romantisch bin oder nicht. Aber was soll das auch? Soll ich von irgendwelchen kitschigen Sonnenuntergängen träumen? Irgendwie reicht es mir schon, wenn Nils und ich einfach nur zusammen sind, alleine sind.

"Nun streng dich doch mal ein bißchen an."
"Ich habe heute den halben Tag Möbel bei Doris durch die Gegend geschleppt, ich bin fertig."
"Ja, ja. Schwach bist du geworden seit Leipzig, einfach nur schwach."
"Ich habe einfach keine Lust auf Krafttraining heute."
"Ich irgendwie auch nicht."
DAS war aber schon erstaunlich, daß Nils mal keine Lust auf Training hatte. Also haben wir beschlossen, zu McDonald's zu gehen und statt Gewichte zu stemmen uns den Bauch vollzuschlagen.
"Noch ein Milkshake?"
"Börps, lieber nicht."
"Sag mal, was ist denn eigentlich mit den Weihnachtsferien in diesem Jahr und Sylvester?"
"Wieso? Was soll damit sein?"
"Bist du wieder mit deiner Family beim Skifahren?"
"Ich glaube schon. Wieso fragst du?"
"Ach nichts. Kam mir gerade so in den Kopf."
Irgendwie war ich enttäuscht, daß wir wieder zu der Zeit nicht zusammen sein können. Nils guckte mich an: "Komm doch einfach mit?"
Wie? hatte er mir vorgeschlagen, daß ich mitkommen soll, wenn er mit seinen Eltern in den Skiurlaub fährt?
"Ich kann nicht skifahren."
"Das kann man lernen. Selbst du."
"Ich hasse Schnee und ich hasse Berge und ich glaube, daß ich die Kombination aus beiden auch nicht besonders cool finden würde. Das ist doch ziemlich daneben: Da fährt man erst mit dem Lift den Berg hoch um dann wie ein Besengter wieder runterzufahren. Nee, also ich glaube das ist echt nichts für mich."
"Du bist unmöglich."
"Vor allem, wie willst du denn deinen Eltern beibringen, daß dein schwuler Freund mitfährt?"
"Na SO werde ich ihnen das bestimmt nicht sagen."
Ich würde gerne mit Nils zusammen verreisen, vielleicht würde ich mich ja sogar breitschlagen lassen, das mit dem Skifahren zu probieren. Aber mit seinen Eltern zusammen zwei Wochen, das würde ich garantiert nicht packen. Zwei Wochen lang irgendeine Rolle zu spielen und mich immer nur verstellen, aufpassen, daß niemand etwas mitkriegt.
"Also was willst du? Soll ich hier bleiben, nur weil du nicht Skifahren willst und nicht mit meinen Eltern in den Urlaub fahren willst?"
Ich gebe zu, ich weiß gar nicht, was ich will. Doch. Eigentlich würde ich am liebsten mit Nils irgendwohin fahren, ganz alleine, wo es warm ist. Irgendwo an einen Strand. So wie auf Korsika oder so. Aber das ist natürlich nicht möglich. Wo sollen wir das Geld für so einen Urlaub auftreiben?
"Ich weiß ja auch noch nicht, was ich mache. Ich wollte ja einfach nur mal fragen."
"Fahrt ihr denn nicht nach Hamburg zu deiner Oma?"
"Ich weiß es echt nicht. Kann schon sein."
"Na siehst du. Du fährst nach Hamburg und ich fahre nach Saalbach."
"Du kannst ja mitkommen, nach Hamburg. Dann siehst du endlich mal, wo ich herkomme."
"Wie willst du das deinen Eltern beibringen, daß dein schwuler Freund mitkommt?" fragte er jetzt lachend.
"Du Arsch."
Aber irgendwie finde ich den Gedanken interessant, wenn Nils und ich zusammen mal nach Hamburg fahren würden.

Als wir rauskamen, hatte es angefangen zu regnen. Es ist kalt. Kein Herbst mehr. Es ist Winter.

Montag, 27. Oktober 1997

27. Oktober

"Du bist verrückt. Du bist ein kleiner verrückter Tim. Und ich liebe dich."
Wir standen auf dem Fernsehturm, haben den Sonnenuntergang beobachtet, Sekt getrunken und einfach nur geträumt. Als ich nach dem Wettkampf (unser Mannschaft hat gewonnen, Tim hat verloren) Nils sagte, daß wir uns von den anderen absetzen, hat er erst etwas komisch geguckt. Vor allem, bis wir beim Fernsehturm waren. Dann dämmerte ihm aber was: "Sylt?" fragte er.
Ich grinste und nickte.
"Verdammt, warum hast du nichts gesagt?"
"Wieso denn. Ich habe ja daran gedacht, das reicht doch."
Und so standen wir hoch über Stuttgart, der Herbstwind pustete uns ziemlich durch, aber dafür wärmten uns die zwei Flaschen Sekt auf. Wir sahen die Sonne untergehen, Arm in Arm und es war uns völlig egal, ob uns jemand sieht oder nicht. Natürlich sahen uns die anderen Leute, aber es kümmerte sich niemand um uns. Und es war einfach nur schön. So eine tolle Stimmung hatte ich schon lange nicht mehr. Wir schwebten einfach nur. Das ist verrückt. Die Welt liegt uns zu Füßen, heißt das. Und genauso war es. Nicht nur symbolisch sondern da war es ganz real.
"Ich hätte nie gedacht, daß mir so was mal passiert, wie mit dir. Da muß erst so jemand aus Hamburg kommen, damit ich mich richtig toll verliebe."
Ich lächelte und drückte ihn ganz fest an mich. Seit einem Jahr sind wir zusammen. Heute vor einem Jahr haben wir das erste mal miteinander geschlafen. Und es ist so verdammt viel passiert in dem Jahr. So viel verrückte Sachen. Ich habe einen Freund gefunden. Wir haben uns gestritten, gezofft und alles mögliche durchgemacht. Ich habe ihn betrogen, er hat mich betrogen. Ich habe mich in Heiko verknallt. Nils und ich haben uns wieder zusammengefunden. Ich habe Wettkämpfe gewonnen, Turniere. DEN EINEN Kampf habe ich gewonnen. Ich habe den geilsten und coolsten Sex gehabt in dem Jahr.
Ich frage mich, was passiert wäre, wenn Sophie damals nicht die Ketschup-Flasche geschüttelt hätte, ich mich nicht mit der ganzen Soße eingesaut hätte, wenn ich nicht Nils mit diesem Typen entdeckt hätte. Dann hätte ich Nils nicht diese Szene gemacht und es wäre nie so weit gekommen. Es ist ein komisches Gefühl, wie das Leben von Zufällen abhängt. Manche Leute reden von Schicksal oder von irgendwelchen Göttern. Ich glaube, daß es in Wirklichkeit Zufälle sind, die das Leben weiterbringen. Das wäre doch alles nie passiert, wenn es nicht SO abgelaufen wäre. Nils und ich würden weiter nebenher trainieren, er würde mit irgendwelchen Mädels ausgehen und ich würde mit irgendwelchen Typen im Schwimmbad oder auf dem Klo im X1 rummachen.

Wir redeten nicht viel und wir brauchten auch nicht viel zu reden. Wir wissen, was der andere fühlt. Irgendwann kam die Ansage, daß der Turm geschlossen wird und wir fuhren nach unten.
"Hunger?" fragte ich.
"So ziemlich."
Wir fuhren ins Mulino. Und Doris hatte recht. Oder Tara. Es war richtig nett da. Keine von diesen künstlichen Rauhputz-Pizzerien. Innen war ein total gemütlicher roher Backsteinraum mit einem Pizzaofen drin. Es war ein ganz tolle Stimmung und Atmosphäre da. Wir haben gegessen und obwohl wir jede Menge Rotwein in uns reingesüffelt hatten, ging es uns hinterher noch erstaunlich gut. Es war halb zwei, als wir aus dem Laden rauskamen. Und ich hatte total verschwitzt, daß natürlich kein Zug mehr zurückfuhr.
"Und was machen wir jetzt?"
"Doch noch X1?"
"Irgendwie nicht. Irgendwie habe ich keine richtige Lust auf Party."
"Laß uns mal gucken, ob im Ipanema noch was los ist."
"Was ist das?"
"Ein kleiner Club. So ein bißchen angejazzt. Vielleicht ganz gut zum Chillen."
Ich wunderte mich, daß Nils einen Jazzclub in Stuttgart kennt. Aber der Vorschlag war echt toll. Es war ein richtig cooler Club, mit total coolen Leuten. Kein schwuler Club. Es waren zwar alle älter als wir, aber die Stimmung war total relaxt. Und die Musik auch. Wir saßen in einer Ecke, hörten der komischen Musik aus den 50ern oder von irgendwann zu und begannen irgendwann tatsächlich zu tanzen. Eng umklammert tanzten wir in irgendeinem verräucherten Club in Stuttgart und es kümmerte niemand. Irgendwann machten wir uns auf in Richtung Bahnhof. Langsam ging die Sonne auf. Ein Jahr mit Nils. Und ich glaube, es ist wirklich ein Jahr Glücklichsein.

Sonntag, 26. Oktober 1997

26. Oktober

"Gehen wir heute Abend ins X1?"
"Nö, ich habe gedacht, wir machen was anderes?"
"Was anderes? Wieso das denn? Sonst fährst du doch immer so total auf's X1 ab. Was hast du denn vor?"
Weiß Nils nicht, daß wir heute Abend unser Einjähriges haben? Warum kann er sich daran nicht erinnern? Ok, er schreibt kein Tagebuch. Vielleicht hat er sich den Tag einfach nicht gemerkt. Aber es ist irgendwie schon schade, daß das für ihn gar keine Bedeutung hat.

Ein Jahr bin ich mit Nils zusammen. Ein ganzes Jahr. Es ist Wahnsinn! Ich habe einen Freund! Ich habe einen Freund! Ich habe jemanden, der zu mir gehört. Der für mich da ist, für den ich da bin. Ich habe mir die Tage von damals durchgelesen. "Jetzt beschütze ich dich", hat Nils damals gesagt. Es ist irgendwie wirklich so. Ich fühle mich sicher, daß er da ist. Er ist da, ich kann mich zurücklehnen, die Augen zumachen. Ich weiß, er ist da. Ich weiß, daß wir zusammengehören. Nils und ich, für immer.

Samstag, 25. Oktober 1997

25. Oktober

"Schon irgendwie komisch."
"Was meinst du?"
"Jetzt bleiben wir also hier. Familie Berger bleibt auf der schwäbischen Alb und richtet sich häuslich ein."
Ich versuchte Phils Gesicht zu entziffern, doch dazu war es schon zu dunkel. Wir standen auf der Terrasse und holten etwas Frischluft, während Dad das halbe Haus mit einer seiner Zigarren einnebelte.
"Ich will hier nicht bleiben, ich will zurück nach Hamburg."
"Und was sagt dein Freund dazu?"
"Das wird echt noch ein Problem. Bestimmt viel größer als mit Mom und Dad. Nils will hier nicht weg. Ich glaube, wenn er überhaupt aus Bergbach weggeht, dann nur, um in irgendein anderes Kaff zu gehen, wo gerungen wird."
"Und das geht in Hamburg nicht?"
"Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht so ein Level, was Nils hat, oder gerne haben würde."
"Und?"
"Was und?"
"Was macht ihr nun?"
"Ich weiß es nicht. Aber ich will mir jetzt im Moment auch noch keine Gedanken darüber machen. Jedenfalls nicht richtig. Ich weiß nur, daß ich nicht unbedingt in Bergbach bleiben will. Ich meine, hier ist eh keine Uni."
Phil erzählte mir, daß er überlegt, zum nächsten Sommersemester mit Jura anzufangen.
"Wieso denn ausgerechnet das?"
"Keine Ahnung. Irgendwas muß ich ja machen, oder? Und auf was anderes habe ich nicht so eine tolle Lust. BWL oder VWL wären ja noch was, aber ich glaube, ich mache lieber Jura."
"In Stuttgart?"
"Was bleibt mir übrig? Hier ist unser Haus. Ich kann nicht ewig bei Oma in Hamburg wohnen."
Toll, also Phil bleibt schon mal hier. Mom und Dad haben es geschafft. Irgendwie hatte ich ja so ein ganz klein bißchen damit gerechnet, daß Phil sagt, daß er auch zurück nach Hamburg will, daß ich nicht ganz so alleine dastehe. Aber nein. Phil ist noch ein vorbildlicherer Sohn als ich.
Jura will er studieren. Ich habe ihn gar nicht gefragt, was er damit werden will. Rechtsanwalt, Staatsanwalt, Richter? Ich glaube Rechtsanwalt wäre gar nicht so schlecht für ihn.
Irgendwie bin ich froh, daß ich noch en bißchen Zeit habe, mir zu überlegen, was ich mache. Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ja wirklich irgendwas mit Architektur oder so?

"Wollt ihr noch was essen?" rief Mom von drinnen.
"Jeeez, nein. Ich bin pappsatt."
Das Schöne an solchen Familienfeiern ist, daß es immer nette Sachen zu essen gibt. Diesmal gab es wieder das Berger'sche Fischbuffett, wo ich mich immer wundere, wie Mom es schafft, den ganzen Frischfisch hier in der Pampa aufzutreiben.
Zum Abschluß gibt es ein gemeinsames Familienfoto. Die glückliche Rama-Familie Berger. Aber irgendwie stimmt es schon. Irgendwie geht es uns schon gut. Geht es mir gut.

Freitag, 24. Oktober 1997

24. Oktober

"Wenn du schon nicht beim Regioturnier mitmachst, dann trittst du wenigstens jetzt am Wochenende an."
Na toll. Aber irgendwie ist es auch nicht schlecht. So bleibe ich noch ein bißchen in Bewegung. Und seit dem Turnier in Leipzig gehe ich das alles irgendwie viel lockerer an. Ein Neuer ist dazugekommen, Janis heißt er, ist aber eindeutig schwerer als ich und auch sonst nicht so interessant.

Doris meint, ich soll mit Nils ins 'Mulino' gehen, das irgendwo in Backnang ist. Ich war mir nicht so sicher, weil sie meinte, das wäre ein Empfehlung von Tara. Aber sie meinte, sie hat ihr schon gesagt, was es für ein Laden sein soll. Na ich überlege es mir einfach. Aber ich habe auch so noch eine Idee, was wir in Stuttgart machen können am Abend.

Morgen hat Dad Geburtstag. Ich habe es gerade noch rechtzeitig geschafft, die CD zu besorgen, die er sich gewünscht hat. Ich habe eigentlich gar keine Lust auf Familienfeier morgen.

Donnerstag, 23. Oktober 1997

23. Oktober

"Du willst was?"
"Ich will zurück nach Hamburg gehen nach dem Abi."
"Ach ja. Und wo bitte willst du wohnen? Wovon willst du leben?"
"Ich denke mal, da werde ich schon was finden."
"Da wirst du schon was finden? Was ist denn auf einmal mit dir los? Dein Zuhause ist hier. Wir sind hier. WPC wird in Stuttgart eine Niederlassung aufmachen und dein Vater wird sie übernehmen, wenn die Sanierung hier beendet ist. Wir gehen nicht mehr zurück nach Hamburg."
"Ich will hier aber nicht bleiben. Das ist doch auf Dauer voll öde hier."
"Hier, mein lieber Herr Sohn, ist aber nun mal dein Zuhause. Und wir werden dir ganz bestimmt nicht ein locker lustiges Leben in Hamburg spendieren, während hier unser Haus leer steht."
"Ich habe nichts von spendieren gesagt."
"Ende der Diskussion."
Ende der Diskussion. Dabei habe ich nur kurz beim Frühstück in einem Nachsatz gesagt, daß ich nach dem Abi gerne nach Hamburg zurück will. Na toll. Super Ergebnis. Tim Berger wird also den Rest seines Lebens in Bergbach verbringen. Als irgendwas. Als Lehrer für Physik am CaZe, als irgendein Nichts bei der Bundesbahn, irgendwo versauern in einem piefigen Büro. Nein. Ich will nicht. Wenn schon nicht Hamburg, dann wenigstens Stuttgart.
Ich weiß, daß Nils maximal nach Stuttgart gehen würde. Wegen dem Ringen. Oh Shit, über was für Sachen denke ich denn jetzt schon nach? Ich weiß nicht, wie ich unser Einjähriges feiern soll und überlege mir schon, wohin ich mit Nils nach dem Abi hinziehen werde.

Doris findet meine Idee, aus Bergbach wegzuziehen ganz ok. Sie meint, es ist das beste für mich. Wenigstens eine Person auf dieser Welt, die mich versteht. Und dann hat sie mir erzählt, daß Clemens in ein paar Monaten zu ihr ziehen wird. Ich finde das schon ziemlich seltsam. Ich hätte ja immer gedacht, daß Doris in irgendeine WG mit zig Leuten zusammen zieht. Aber daß jetzt Clemens zu ihr und vor allem zu ihren Eltern auf diesen Hof zieht, finde ich schon ziemlich strange. Ich habe ihr das natürlich nicht gesagt. Aber komisch ist das schon.

Nils wollte wissen, ob ich inzwischen mit Heiko gesprochen habe, ob er kommt. Ich habe ihm gesagt, daß er nicht kommt. "Auch gut", meinte Nils und damit ist die Sache für ihn erledigt. Ich habe ihm nichts von Heikos Nachsatz "...auch um dich wiederzusehen." gesagt. So ein paar Worte, aber sie gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich frage mich, ob die Leute eigentlich wissen, was sie so für Sachen sagen und was sie damit auslösen. Was sage ich und was macht das mit anderen Leuten?

Mittwoch, 22. Oktober 1997

22. Oktober

"Dann geht doch einfach richtig schön und schnuckelig essen."
"Wo geht man denn in Stuttgart schön und schnuckelig essen?"
"Keine Ahnung, das müßtest DU doch als Luxuskind am ehesten wissen."
"Danke, du bist wirklich eine große Hilfe."
"Ich erkundige mich mal. Ok?"
"Findest du nicht, daß das irgendwie ein bißchen zu spiessig ist, nobel auszugehen?"
"Hey, ich versuche mich nur, deinem und Nils' Niveau anzupassen."
"Borrh, ich glaub das ja alles nicht. Gehen wir jetzt in ein Luxusrestaurant, wo das Essen Hunderte von Mark kostet?"
"Du bist unmöglich. Bist du überhaupt kein bißchen romantisch?"
"Was soll das denn? Ich würde am liebsten den ganzen Tag mit ihm entweder irgendwo am Strand sitzen und aufs Meer rausgucken oder einfach nur im Bett liegen und kuscheln."
"Aber ich nehme mal an, daß ihr genau DAS am Samstag nicht machen könnt."
"Ja."
"Na also."
"Ich könnte ja mal Tara fragen."
"Was fragen?"
"Ob ihr bei ihr pennen könnt."
"Ich glaube nicht...nein halt, ich bin mir ganz sicher, daß Nils und ich NICHT bei Tara pennen wollen."
Doris hat manchmal total abartige Ideen. Aber es ist wirklich schwierig, sich irgendwas zu überlegen.

Training war heute ziemlich unspektakulär. Ich finde es immer noch sehr angenehm, daß ich am Regioturnier nicht teilnehmen muß. So kann ich alles immer noch ziemlich locker angehen und ich merke, wie gut ich das finde. Nein, ich werde nicht aufhören mit dem Ringen, aber ich werde vielleicht nicht mehr ganz so heftig trainieren. Ich werde garantiert kein Württembergischer Meister werden, also was soll's.
Ich merke aber eine komische Sache. Ich merke, wie ich immer mehr weiß, was ich eigentlich will oder was ich nicht will. Daß mir immer mehr Sachen viel klarer werden als vor einem oder vor zwei Jahren. Ich weiß, daß ich schwul bin. Ok, daß weiß ich schon eine ganze Weile. Aber ich weiß auch, daß ich keine Lust mehr habe, lange Versteck zu spielen. Ich weiß, daß ich es spätestens nach dem Abi allen sagen werde. Daß ich aus diesem Kaff weggehen werde, zurück nach Hamburg. Daß Nils und ich zusammen weggehen werden auch wenn er schreit und jammert. Ich will mit ihm zusammen raus aus dieser spiessigen und vermufften Einöde. Und ich will mit Nils zusammen sein. Ich will endlich dann Spaß haben, wenn ich es will und nicht dann, wenn zufällig die Tofa offen hat oder mal ein Zug nach Stuttgart fährt. Ich will leben!!!
Was ist das für mich: Leben? Das ist Nils. Mein Nils. Das weiß ich jetzt. Wir gehören zusammen. Wir haben uns hier gefunden und wir werden wahrscheinlich noch in hundert Jahren zusammen sein. Ich möchte leben mit Nils. Ich will nicht alles mit ihm machen, Will nicht jede Minute am Tag mit ihm zusammen sein. Aber immer dann, wenn wir uns brauchen, sind wir da für uns. Ich will leben, Leben ohne Angst. Ohne Angst daß uns jemand bei irgendwas "erwischt". Leben, ohne darüber nachzudenken, ob ich ihn jetzt umarmen und küssen darf oder nicht.

Dienstag, 21. Oktober 1997

21. Oktober

"Nein, ich komme nicht. Ich habe es wirklich überlegt, ob ich runterfahre, auch um dich wiederzusehen. Aber erstens hat Matthes an dem Wochenende Geburtstag und außerdem schreibe ich an dem Montag danach eine Klausur. Also nichts ist. Du hast also noch eine Gnadenfrist für die Revanche."
"Danke, sehr nett. Ich werde mich anstrengen, die mit reichlich Training aufzufüllen."
"Davon bin ich überzeugt. Dein Nils ist ja ein ziemlich Besessener."
Es ärgert mich, wenn Heiko so über Nils spricht. Er hat dazu kein Recht. Aber nur bin ich mir wenigstens sicher, daß er nicht kommt. Und ich weiß wieder mal nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht. Der Gedanke ihn hier zu haben, hier in meinem Zimmer, ganz dicht neben mir bringt mich völlig durcheinander. Aber es ist nicht und ich beschliesse, daß ich mir im Augenblick darum keinen Kopf machen will.

Ich mache mir viel mehr einen Kopf darum, was ich am nächsten Samstag mache. Zu unserem Einjährigen. Ich möchte so gerne mit Nils den Abend und die Nacht alleine verbringen. Nur wir zwei. Es ist total bekloppt, daß wir einen Wettkampf haben.

Montag, 20. Oktober 1997

20. Oktober

"Das ist doch total abartig."
"Das ist nicht abartig, das rechnet man so am einfachsten."
Julia blickte mich ungläubig an, während ich ihr den Rechengang noch mal nachzeichnete. Ich frage mich echt, warum sie ausgerechnet Mathe-LK nehmen mußte, wenn sie davon keine Ahnung hat. Ich habe es jedenfalls so gut wie es geht versucht, ihr zu erklären. Wenn sie es jetzt nicht bis Mittwoch zur Klausur kapiert, dann weiß ich auch nicht.

Tobias mußte mir heute in der großen Pause unbedingt Night Swimming auf dem Flügel vorspielen. Er hatte mitbekommen, daß ich es in meinem Walkman habe und nach Musik meinte er, er muß mir mal was vorspielen. Es war absolut perfekt. Und es klang wirklich toll. Ich meine, natürlich hat niemand dazu gesungen, aber es war echt riesig. Ich fing fast an zu heulen.
"Ich wußte gar nicht, daß du so was hörst", meinte ich.
"Wieso nicht?"
"Keine Ahnung, ich dachte, du hörst nur Jazz und Klassik."
Er zuckte nur mit den Schultern, grinste und verschwand.

Das Training war heute total entspannend. Jedenfalls für mich. Ich glaube, nachdem jetzt feststeht, daß ich nicht beim Regioturnier mitmache, kann ich einen Gang zurückschalten und Flo wird jetzt in die Mangel genommen. Ich habe ein paar Einheiten mit Leon gemacht und ich bewundere seinen Ehrgeiz. Er will wirklich besser werden. Ich weiß, daß ich ihm gar nicht so viele spannende Sachen zeigen kann. Aber was soll's.
Trainingsende. Mahmout ruft noch mal alle zusammen, es geht um organisatorische Sachen für das Regioturnier. Mehr als 180 Leute kommen. Und die Turnhalle vom THG ("Türken-Hilfs-Gymnasium" wie Kevin laut losprusten mußte, was Mahmout dazu brachte, ihm 30 Runden um die Halle aufzubrummen) ist wegen Wasserschadens gesperrt. Sehr interessant. Was dazu führt, daß ein Teil der Teilnehmer von auswärts woanders untergebracht werden muß. Ja, auch sehr spannend.
"Also", meinte Mahmout, "fragt mal bei euch zu Hause nach, wer noch jemanden bei sich aufnehmen kann. Die Jungs aus Berlin und Köln brauchen noch eine Unterkunft."
Es dauerte einige Sekunden, bis mir klar wurde, was ich da gehört hatte. Ich blickte zu Nils. Der stand da, neben Mahmout und grinste. Grinste wie blöde.
Also, es kommen Leute aus Köln. Was ja auch nicht so spannend ist. Aber kommt Heiko? Warum grinst Nils, dieser Arsch, mich nur so unverschämt an. Ich überlege. Wenn Heiko kommt, hätte er es mir gesagt. Er hätte mich angerufen und mir gesagt, daß er kommt. Er hätte gefragt, ob er bei mir pennen kann. Er hätte..."
"Tim, was ist mit dir?"
"Ich? Nein, also ich kann keinen aufnehmen. Meine Eltern machen da nicht mit", log ich. Ich vermied es, Nils anzugucken. Heiko kommt nicht, Heiko KANN nicht kommen. Er DARF einfach nicht kommen."

"Wieso hast du mir nicht gesagt, daß Leute aus Köln kommen?"
"Ich habe es auch erst heute beim Training erfahren. Außerdem hast DU doch die besten Verbindungen nach Köln."
"Toll, du stehst da und grinst wie blöde. Ich fand das überhaupt nicht lustig. Kommt Heiko?"
"Warum fragst du MICH, ob Heiko kommt? Woher soll ich denn das wissen? DU kennst ihn doch."
Ich glaube, er weiß es wirklich nicht. Ich glaube er hat nur deshalb so gegrinst, weil er mein Gesicht gesehen hat, als Mahmout das mit den Kölnern erzählt hat.
"Warum nimmst du keinen auf? Muß ja nicht unbedingt jemand aus Köln sein. Vielleicht ja auch einen netten Typen aus der Hauptstadt?"
"Ich will nicht. Ich will niemanden anderes in meinem Zimmer haben als dich."
Nils lächelte. Es war kein Grinsen mehr. Er lächelte einfach nur. Und ich komme mir ziemlich fies vor, weil ich den Satz in meinem Kopf weiterführte: 'Ich will niemanden anderes in meinem Zimmer haben als dich oder Heiko.'

Sonntag, 19. Oktober 1997

19. Oktober

"Wie willst du JETZT nach Stuttgart kommen? Es ist halb eins."
"Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es hier total öde ist."
"Laß uns reingehen und wir trinken noch ein Bier."
Nils schob mich wieder rein. Wenn nicht ein Kumpel von Silvios Bruder Türsteher gemacht hätte, wären wir gar nicht mehr reingekommen. Aber so hingen wir irgendwie die ganze Nacht bis halb drei in der Tofa ab. Es war öde, schrecklich. Wenigstens war die Musik halbwegs gut. So weit, wie ich mich erinnern kann. Bier und Tequila. Die Mischung ist tödlich. Ich kann mich eben gerade noch an die Szene vor der Tür erinnern, als ich unbedingt nach Stuttgart ins X1 wollte. Und an eine ausgedehnte Tanzsession danach. Und dann ist irgendwie Schluß. Ich weiß nur noch, daß ich in einem Taxi saß, das vor unserem Haus hielt. Da wurde ich wieder so weit fit, daß ich es ohne Probleme schaffte, in mein Zimmer zu kommen und mich auf's Bett zu werfen.

Um sechs Uhr früh wachte ich auf, weil ich tierisch Durst hatte. Ich taperte ins Bad, trank den halben Wasserhahn leer und war total munter. Ich guckte mich im Spiegel an und wunderte mich. Eigentlich müßte ich total fertig aussehen, nach der Menge Bier, Tequila, nach der Nacht. Aber ich sehe noch total fit aus. Ich gefalle mir. Verrückt. Ich gehe zurück in mein Zimmer. Schreibe mein Tagebuch. Gewonnen habe ich gestern. Zwar nur mit einem Punkt Vorsprung, aber immerhin. Danach großes Pizzabuffet im Vereinsheim. Nils hat vor der Waage immer Angst, daß ich zu leicht werde. Darum stopfe ich alles, was es so an Pizza gibt, in mich rein. Egal ob es nach dem Match ist oder nicht. Es gab dann noch eine ziemlich lange Diskussion mit Nils, Flo, Mahmout und mir. Nils wollte unbedingt, daß ich Anfang November am Regioturnier teilnehme. Ich habe aber gesagt, daß ich das nicht will. Ich will nicht schon wieder ein Turnier und ich will vor allem kein Turnier, wo ich keinen Grund habe zu gewinnen. Das klingt bekloppt, ist es auch, aber es ist eben so. Jedenfalls haben wir uns jetzt darauf geeinigt, daß Flo antritt. Ich weiß nicht, ob er sich darüber freut. Ist mir auch egal. Nils meint, daß wir sowieso wenig Chancen haben. Wahrscheinlich wird wieder Nürnberg gewinnen, wie in den letzten Jahren.
"Und Köln wird wahrscheinlich gar nicht kommen, weil absolut chancenlos", zischte Nils grinsend. Köln wird nicht kommen. Heiko wird nicht kommen. Damit hatte ich noch gar nicht gerechnet und er hat auch gar nichts davon erzählt. Was soll das auch, quer durch die Republik zu fahren, um an irgendwelchen albernen Turnieren teilnehmen. Jeden Monat ist irgendwo irgendein Turnier. Kein Schwein blickt mehr durch, warum man wohin fahren soll. Natürlich blicken die Freaks und Cracks durch. Nils redet pausenlos von ImpactFactor wenn es um überregionale Turniere geht, Flo von Wertigkeit.

Und dann noch was Verrücktes: Nils hat mir tatsächlich ein Foto mitgebracht, wo ich drauf bin, genau in dem Moment wo ich Heiko schultere. Nils meinte nur, das hätte er aus seiner Kölner Quelle. Na toll. Aber ich habe mich trotzdem riesig gefreut. Tim besiegt Heiko mit Schultersieg. Es ist, als wenn es durch dieses Foto erst richtig wahr wird.

Und dann hinterher alle, naja fast alle, in die Tofa. Diese Volk da ödet mich echt an. Wenn nicht Nils und die anderen Jungs von uns dabei gewesen wären, wäre ich sofort nach Hause gegangen. Aber ich blieb, schüttete Beck's und Tequila in mich rein, tanzte und kann mich eben an nicht alles mehr erinnern. Aber es ist auch eigentlich egal.

Jetzt habe ich Hunger und gehe runter frühstücken.

Komme gerade von Doris zurück. War doch ein schöner Nachmittag. Wir haben einfach nur ein bißchen gequatscht. Dagesessen, den Herbst angeguckt und geredet. Über nichts bestimmtes, nicht über Heiko, nicht über Nils. Einfach nur so. Und es war schön.
Auf dem Rückweg habe ich am Kochertalweg angehalten. Meinen Walkman auf volle Lautstärke gedreht und mir "Songbird" angehört. Und obwohl Nils nicht bei mir war, war es ein schönes Gefühl. Einfach dazustehen, nach Bergbach runterzuschauen, zu erleben, wie es langsam dunkel wurde und die Lichter angehen. Dieses kleine Modelleisenbahndorf. Irgendwo da unten spielt sich alles ab, alles was für mich wichtig ist.

Dann noch mit Nils telefoniert. Er meinte, ich habe mich gestern eigentlich ganz normal benommen, nur daß ich wieder mal ohne T-Shirt auf dem Podest vor der Bühne tanzen mußte und daß er Mühe hatte, mich von diesem dickbusigen Mädel wegzubekommen. Shit, ich kann mich an das alles gar nicht erinnern. Ich weiß auch nicht, ob er sich das ausgedacht hat oder nicht.

Nächsten Samstag haben wir unser Einjähriges. Ob Nils daran denkt? Ob er sich daran erinnert? Vor einem Jahr auf Sylt. Was für eine verrückte Szene ich ihm da hingelegt habe. Irgendwas muß ich mir überlegen, was wir nächsten Samstag machen. Na toll, wie romantisch, wir haben ein Auswärtswettkampf. Toll, ganz toll. Wenigstens in Stuttgart. Aber unser Jubiläum im X1 zu feiern finde ich auch nicht so toll. Vielleicht können wir uns ja irgendwie von den anderen absetzen. Mal sehen, ob mir noch was einfällt.

18. Oktober

"Tofa heute am Abend?"
"Von mir aus."
"Klingt ja nicht begeistert."
"Ja, nein, ich weiß nicht, ok, von mir aus. Wir haben ja eh Heimkampf, können wir auch hinterher in die Tofa gehen."
Ich würde lieber ins X1 gehen. Oder einfach lieber den ganzen Abend und die ganze Nacht nur mit Nils verbringen, kuscheln und nichts weiter machen. Aber na gut, gehen wir eben alle in die Tofa heute. Und das, wo doch garantiert wieder Bauerntanz angesagt ist wie jeden Samstag.
Ich weiß nicht so richtig, ob es mir besser geht. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht richtig. Ich kann wenigstens wieder klar denken, aber ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe einen langen Brief an Heiko geschrieben. Einen Brief, in den ich wieder alles reingeschrieben habe, was mir durch den Kopf geht. Total verworren. Und ich habe ihn nicht abgeschickt. Wieder mal nicht. Ich kann es nicht.

Habe mit Doris telefoniert. Sie ist reichlich kurz angebunden. Irgendwie kann ich's verstehen. Ich habe in den letzten Tagen wenig mit ihr geredet. Ich habe ihr wenig erzählt. Vielleicht zu wenig. Aber was soll ich ihr denn erzählen? Die Story mit Heiko? Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, daß sie mir da auch nicht so richtig weiterhelfen kann. Ich glaube, daß sie das auch gar nicht versteht. Daß sie MICH nicht versteht. Aber wie soll sie das auch? Ich kann es ja selber nicht. Ich glaube, ich werde morgen Nachmittag trotzdem mal bei ihr vorbeigucken. Morgen Nachmittag, ich hoffe, ich bin fit bis dahin.

Gleich muß ich mich fertig machen. Meine Tasche packen und los geht's. Es kotzt mich inzwischen einfach nur an. Am liebsten würde ich zu Hause bleiben und gar nichts machen. Das mache ich natürlich nicht. Aber irgendwie ist es doch immer die gleiche Mühle. Also warum das denn? Das ist mir alles schon mal durch den Kopf gegangen. Wenn ich mit dem Ringen aufhöre, was passiert dann? Nils würde ausrasten, er würde einen Riesenterror machen und ich weiß auch nicht, ob er nicht vielleicht auch Schluß machen würde. Er ist da so fanatisch. Und davor habe ich Angst. Ich habe Angst davor, ihn zu verärgern, ich habe Angst davor, daß er dann nichts mehr von mir wissen will. Bleibe ich darum dabei? Wenn ich jetzt mal andersrum nachdenke. Durch's Ringen habe ich Nils kennengelernt. Richtig kennengelernt. Ich glaube, wenn ich nicht damit angefangen hätte, wäre es nie so weit gekommen zwischen uns.
Ich habe gerade in meinem Tagebuch von damals gelesen. Vor fast einem Jahr, vor fast einem Jahr haben wir uns das erste Mal geküßt. Wir sind fast ein Jahr zusammen. Wahnsinn. Was ist nur alles passiert in dieser Zeit? Was ist alles passiert, seit ich hier in Bergbach bin? Ich habe mit einer Sportart angefangen, wo ich noch vor drei Jahren jeden für absolut bekloppt gehalten hätte, der mir das gesagt hätte. Und ich habe einen Freund, einen richtigen echten Freund. Einen Freund, den ich liebe und der mich liebt. Wenn ich mir das echt mal überlege, dann ist das eigentlich wirklich die schönste Zeit gewesen. Alles andere, was davor war, in Hamburg. Was war das? Kumpels wie Tassi, saufen gehen auf den Deichtorfeten und dann irgendwann wieder alleine sitzen, wenn alle anderen mit irgendwelchen Mädels rummachen. Jetzt habe ich einen Freund. Und wenn ich auch nicht mit ihm auf irgendwelchen Feten rumknutschen kann, er ist trotzdem da. Er ist da und das macht mich sicher. Verdammt noch mal, mir geht es doch eigentlich gut. Eigentlich geht es mir doch saugut.
Und dann ist da noch was passiert: Ich habe Heiko kennengelernt. Heiko, der so völlig anders ist als Nils. Und der mir trotzdem so unheimlich vertraut vorkommt. Von dem ich genau weiß, wie er in der oder der Situation reagieren würde, was er sagen würde. Heiko, bei dem es mir immer noch wehtut, wenn ich an ihn denke. Nicht mehr so schlimm wie früher. Ich weiß auch nicht, ob es wirklich wehtut. Nein, ich denke einfach gerne an ihn. Und ich bin gerne mit ihm zusammen. Und ich weiß, daß sich das was da war, was da ist, langsam wieder normal wird. Ich hoffe es. Ich weiß es.

Hätte ich das alles erlebt, wenn ich nicht angefangen hätte zu ringen? Natürlich nicht. Blöde Frage. Aber wer weiß, was ich dann erlebt hätte? Hätte denn eigentlich irgendwas besseres kommen können? Nein, nein, nein. Verdammt noch mal NEIN!

Freitag, 17. Oktober 1997

17. Oktober

"Mach bitte weiter. Mir zuliebe."
Es war Nils, der plötzlich in der Tür stand. Nils, der dann doch nicht beim Training war. Nils, der plötzlich in meinem Zimmer war, so selbstverständlich wie nur irgendwas. Nils, der die Tür hinter sich abschloß, mich in den Arm nahm und einfach nur festhielt. Es war Nils, der die ganze Nacht bei mir blieb. Wir lagen einfach nur nebeneinander im Bett, Klamotten angezogen. Doch er hielt mich fest. Er hielt mich fest. Sagte nichts und fragte nichts. Irgendwann gegen Morgen, als ich aufwachte stand er am Fenster und blickte hinaus.
"Habe ich dich zum zweiten Mal verloren?"
"Nein. Das hast du nicht."
Wir schwiegen.
"Willst du wirklich mit dem Ringen aufhören?"
"Ja." Ich war selber total übergerascht, wie automatisch, wie selbstverständlich das aus mir herauskam.
Nils schaute mich an und zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich, daß er richtig traurig war: "Warum Tim? Warum verdammt? Hat dich diese kleine Schlampe so verhext? Einmal Heiko besiegen und das war's jetzt?"
"Vielleicht war's das ja. Vielleicht war es genau das, was ich für mich brauchte. Für mich. Verstehst du. ICH wollte es, ICH brauchte es. Ich ganz allein. Es geht nicht darum, daß du stolz bist, oder Dimi oder Werner oder Mahmout. ICH werde diesen Augenblick nicht vergessen, in dem ICH gewonnen habe."
"Na klar...DU, DU, DU. Es gibt nur Tim und dann an zweiter Stelle Tim, dann kommt eine ganze Weile nichts mehr und dann kommt Tim."
"Du bist echt ungerecht."
"Ich bin nicht ungerecht. Ich bin nur ehrlich. Von mir aus kannst du hundertmal mit diesem bornierten Typen rummachen und dir das Hirn rausficken. Aber komme endlich mal runter von deinem Egotrip. Tim, Tim, Tim. Mehr gibt es in deinem Leben wohl nicht!"

Ich saß da und konnte nichts sagen. Was war auf einmal mit Nils los? Er benutzte Wörter, die ich sonst kaum von ihm höre. Ich wollte nicht darüber diskutieren. Ich wollte das nicht auf diese billige Lösung bringen. Na klar, ich bin wieder an allem schuld. Schuld woran überhaupt? Mir geht es nur im Moment nicht gut. Ja und? Es wäre so schön gewesen, wenn Nils einfach nur dagewesen wäre und nichts gesagt hätte. Einfach nur da sein. Statt dessen muß er diese bescheuerte Diskussion um das Ringen und um Heiko wieder anfangen. Ich legte mich ins Bett und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Für einen Moment wünschte ich mich wieder ganz weit weg. Aber diesmal viel weiter als sonst. Und ganz allein, niemand da, kein Nils, kein Heiko, niemand. Nur ich ganz allein. Dann spürte ich Nils' Hand in meiner. Ein sanfter Kuß berührte meinen Nacken. "Hör nicht auf mit dem Ringen. Bitte nicht. Mach weiter. Mir zuliebe."
Und ich weiß, ich kann nichts dagegen sagen.

Donnerstag, 16. Oktober 1997

16. Oktober

"Bist du sicher, daß du nicht noch mal Fieber messen willst?"
"Ja, ich habe kein Fieber. Aber ich gehe trotzdem nicht zur Schule heute."
Mom zuckt mit den Schultern. Sie weiß inzwischen, daß es nichts bringt, wenn ich nichts sagen will. Ich gehe in mein Zimmer, mache perfekte Ordnung. Die Zeit vergeht nicht. Und ich weiß immer noch nicht, was mit mir los ist. Es ist nicht so, wie vor ein paar Monaten, wo ich so in Heiko verknallt war, daß es mir so dreckig ging. Es ist anders. Alles ist anders. Aber ich weiß nicht wie anders. Ich sitze eine ganze Stunde am Fenster und schaue raus. Und denke NICHTS! Ich kriege Hunger, doch ich will nichts essen. Ich kann nichts essen. Das Telefon. Doris spricht auf den Anrufbeantworter. Dann Nils. Ich gehe nicht ran. Was soll ich sagen? Wem soll ich was sagen?
Es klingelt an der Tür. Ich will nicht aufmachen. Weiß, daß es Nils ist. Weiß, was er mir sagen will. Ich will nicht. Ich will nicht zum Training. Doch es klingelt. Wieder und wieder. Es hört nicht auf. Ich muß runtergehen und aufmachen.

"Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen."
"Sehr witzig."
"Ich meine das echt ernst. Eine Tante von mir hat auch so Depressionen."
"Ich habe keine Depressionen."
Es war nicht Nils gewesen, der vor der Tür stand sondern Flo. Was machte Flo hier? Warum kommt er hierher? Und warum erzählt er mir dann etwas von seiner depressiven Tante? Warum kommt Flo und nicht Nils? Na klar, Nils wird beim Training sein. Nur keine Minute versäumen. Irgendwann kommen Mom und Lisa. Meine kleine Prinzessin. Nicht mal sie schafft es, mich aufzumuntern. Aber wieso überhaupt aufmuntern? Bin ich traurig? Ich weiß immer noch nicht, was mit mir ist. Warum meint Flo, ich hätte Depressionen?

Ich will nichts essen. Flo ist weg und ich sitze und grübele. Mein kleines verrücktes Leben. Irgendwas stimmt nicht. Nur was? Warum geht es mir so entsetzlich seltsam? Es ist nicht mehr diese Liebe für Heiko, es ist irgendwas anderes. Ist es wirklich, daß es jetzt vorbei ist. Alles das, wofür ich trainiert habe ist jetzt vorbei. Ich habe gewonnen und Heiko und ich haben zusammen geschlafen. Es ist mehr passiert, als ich überhaupt geträumt habe. Warum geht es mir dann so seltsam? Es IST dieses Loch, von dem Nils gesprochen hat. Wenn das nicht so bekloppt klingt, würde ich sagen: kein Ziel, keine Hoffnung mehr. Und ich weiß gleichzeitig, daß das absolut daneben ist. Es klopft.

Mittwoch, 15. Oktober 1997

15. Oktober

"Und?"
"Was und?"
"Immer noch keine Freundin?"
"Nein."
Ich wollte eigentlich explodieren, aber ich schaute Tobias nur an und dachte, daß er wahrscheinlich der Letzte auf unserer Schule ist, der mit dem Wort "schwul" etwas anfangen kann.
"Und du?"
"Wie und ich?"
"Hast du ein Mädel oder nicht?"
"Mädel, wie das klingt."
"Du weiß, wie ich das meine, also?"
"Nein, natürlich nicht."
"Was heißt denn hier natürlich. Erinnere dich an, wie hieß sie, Meike?"
"Genau da dran will ich mich nicht erinnern. Die wollte doch nur mit mir schlafen."
"Oups." Mehr brachte ich nicht raus. Seltsamerweise bekam ich bei dem Gedanken, Tobias würde mit einem Mädel schlafen einen Ständer.
"Und überhaupt, ich war schließlich krank."
"Ja doch."
Tobias widerspreche ich nicht mehr. Ich finde ihn manchmal echt anstrengend. Vor allem, wenn er so total erwachsen und abgegessen tut. Na klar hat er diesen Krebs gehabt. Aber der ist jetzt vorbei. Sagt er wenigstens. Außerdem war er vorher schon so komisch. Ich weiß manchmal gar nicht, wie ich mich in ihn verknallen konnte.

Ich trainiere mit Leon. Versuche nett zu sein, nicht zu genervt. Er tut mir immer noch leid. Aber was soll ich denn machen? Ich bin bestimmt nicht der ideale Trainer. Und ich glaube, den Single Leg wird er nie lernen. Irgendwann kommt Nils, sitzt am Rand und grinst. Leon kriegt es mit und verzieht sich. Es ist mir egal.
"Hi, na du?"
"Hi."
Wir haben uns heute nicht in der Schule gesehen. Nils ist wie immer. Ich bin anders. Und ich merke es. Verdammt noch mal, was ist mit mir los? Ich weiß nicht mehr, über was ich mit ihm reden soll. Er redet und ich bin dankbar dafür. Ich wünsche mich tausend Kilometer weit weg. An irgendeinen Strand auf Korsika. Nils neben mir, in meinem Arm. Nicht reden, kein Sex. Einfach nur jemanden in meinem Arm haben.

Das Training rauscht an mir vorüber. Ich bin sauschlecht. Irgendwann stehe ich auf und gehe in die Umkleide. Ich habe keine Lust mehr. Keine Lust auf irgendwas. Ziehe mich an und gehe nach Hause. Gehe nicht nach Hause. Tapere durch die Gegend, irgendwohin, wo ich noch nie war. Es ist kurz vor Mitternacht als ich endlich wieder an unserem Haus bin. Mein Anrufbeantworter voll mit Nils' Anrufen. Es ist zu spät, um ihn anzurufen. Was soll ich ihm auch sagen? Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist. Setze mir die Kopfhörer auf und höre Night Swimming. Was ist los mit mir? Ich versuche mir einen runterzuholen, es klappt nicht. Nicht einmal wenn ich dabei an Heiko denken. Vielleicht weil ich dabei an Heiko denke? WAS IST LOS?

Dienstag, 14. Oktober 1997

14. Oktober

"Gibst du mir noch weiter ein paar Nachhilfestunden?"
"Wieso?"
"Ich dachte. Ich will besser werden. Ich will nicht mehr jeden Kampf verlieren."
"Leon, Mensch..." Ich wußte nicht was ich sagen sollte. Ich sah ihn vor mir. So überhaupt kein Ringer, klein, zerbrechlich, schüchtern. Immer still in der Ecke sitzend, nie dabei, wenn wir rumblödeln, Party machen oder irgendwas. Und er tut mir leid. Und weil er mir leid tut sage ich ja. Obwohl ich es nicht will. Ich lege auf und rufe Nils an. Sage ihm, daß ich heute nicht zum Krafttraining gehe, daß ich morgen eine Stunde früher komme um mit Leon zu trainieren.
"Warum kommst du heute nicht zum Krafttraining? Was ist los?"
"Nichts, ich habe nur einfach keinen Bock."
"Daß mir das nicht einreißt."

Ich lege auf. Die Sonne scheint und ich weiß nicht, ob es mir gut geht oder nicht. Ich gehe in meinem Kopf jeden Augenblick mit Heiko durch, jedes Wort, was er gesagt hat, jeden Blick. Habe ich irgendwas Falsches gemacht, getan, gesagt? Nein, was denn? Das ist Heiko, diese verdammte Coolheit. Ich wünsche mir, daß es ihm irgendwann mal so geht wie mir. Nur ein einziges Mal, damit er weiß, wie ich leide. Was für ein Unsinn? Was habe ich geschrieben? Die große Verliebtheit ist vorbei? Und was ist das jetzt? Wann werde ich ihn wiedersehen? Das ist es. Verdammte Scheiße! Ich weiß nicht, was jetzt kommt. Was passiert jetzt? Ich gehe nicht zum Krafttraining und ich überlege, ob ich überhaupt noch zu irgendeinem Training gehen soll. Das ist doch nicht mehr normal. Warum soll ich für irgendwas noch trainieren? Worum kämpfen? Heiko ist in Köln, ich bin in Bergbach. Matthes ist in Köln, Nils ist in Bergbach. Wir sind alle da, wo wir hingehören. Alles ist so, wie es sein muß. Wo ist also das Problem? Warum fühle ich mich auf einmal so beschissen? Ich gehe laufen. Muß raus hier.

Montag, 13. Oktober 1997

13. Oktober

"Du hast Sex mit Heiko gehabt."
Das war keine Frage, das war eine Feststellung. Doris blickte mich mit zusammengekniffenem Auge an und legte den Kopf zur Seite.
"Woher willst du das wissen?"
"Du strahlst so. Du strahlst von innen. Du siehst nicht gerade so aus, als wenn du einen tierisch anstrengenden Wettkampf hinter dir hast."
"Aha."
"Sei nicht so wortkarg. Sprich!"
"Nein."
"Wie? Nein?"
"Nein, das ist ein Ding zwischen Heiko und mir. Ich will nicht darüber reden."
Für mich ist diese Sache tatsächlich etwas zwischen ihm und mir. Nicht mal Nils hatte ich davon erzählt, was und vor allem wo wir es gemacht hatten. Nein, das ist eine Sache, die nur Heiko und mich etwas angeht. Ich habe das komische Gefühl, ich würde diese Nacht irgendwie entwerten, wenn ich es jemandem erzähle.
"Sage mir nur eines: War Nils dabei?"
"Nein, natürlich nicht."
"Nein, natürlich nicht", äffte sie mich nach. "Ist das eigentlich bei allen Schwulen so?"
"Was soll bei allen Schwulen SO sein?"
"Daß da munter in der Gegend rumgevögelt wird. Egal, ob der Freund nebenan schläft oder nicht."
Ich blickte sie lange an. Ich wollte es ihr erklären, doch ich wußte nicht wie. Heiko war immer noch da und sogar in meinem Herzen. Aber es tat nicht mehr so weh. Denn ich weiß nun, daß auch er mich will. Und das ist ein sehr angenehmes Gefühl.

Das Turnier war natürlich DAS Gesprächsthema beim Training. Alle waren seltsamerweise tierisch stolz darauf, daß ich den vierten Platz belegt hatte. Na toll, vierter Platz, keine Medaille, nichts. Aber immerhin.
"Beim nächsten Mal", sagte Nils auf dem Heimweg, "gibt es mindestens Silber."
"Es wird kein nächstes Mal geben", meinte ich.
Er blieb stehen und schaute mich verwirrt an: "Wieso?"
"Es gibt für mich keinen Grund mehr, so hart zu trainieren. Ich habe erreicht, was ich wollte. Ich habe gegen Heiko gewonnen."
"War das alles? IST das alles? Natürlich hast du gegen Heiko gewonnen. Und ich bin bestimmt gebauso stolz darauf wie du. Aber das ist doch nicht alles. Es gibt mehr Gegner als Heiko."
"Natürlich gibt es mehr Gegner als Heiko. Aber du weiß ganz genau, was das für mich bedeutet hat. Daß das für mich persönlich wichtig war. Nicht der sportliche Sieg. Ich glaube, das weißt du."
"Das weiß ich. Und was glaubst du denn? Glaubst du, ich habe nicht mitgekriegt, WIE ihr beide euch angeguckt habt? Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß ihr euch schon seit Jahren kennt. Aber soll denn das ganze Training bis jetzt umsonst gewesen sein? War das wirklich nur dafür da, gegen diesen Typen zu gewinnen?"
Wenn er mich gefragt hätte, ob es das alles wert gewesen wäre, hätte ich glatt ja gesagt. Diese eine Nacht mit Heiko war diese ganzen elendigen Trainingssessions wert, die Schmerzen, die Nerverei, die Tränen. Und wenn es nur für diese eine Nacht gewesen wäre. Doch das konnte ich Nils so nicht sagen.
"Ich hatte ein Ziel. Und das habe ich erreicht. Und im Moment weiß ich nicht, wie es jetzt mit dem Ringen weitergeht. Ich werde aber ganz bestimmt nicht mehr so extrem trainieren."
Ich sah eine Spur Enttäuschung in Nils' Gesicht bevor er mich in den Arm nahm: "Paß auf mein kleiner Tim. Paß nur auf, daß du jetzt nicht in ein großes, großes Loch fällst. Jetzt wo alles vorbei ist, worauf du hin gearbeitet hast."
Nachdenklich ging ich nach Hause. Und nachdenklich schreibe ich das jetzt. Ich habe Angst.

Sonntag, 12. Oktober 1997

12. Oktober

Mir geht so viel durch den Kopf. Irgendwann bin ich doch eingeschlafen und aufgewacht, als Nils mich sanft auf die Stirn küßte und so etwas wie "Aufstehen" flüsterte. Wir waren allein im Zimmer, Leon wahrscheinlich unter der Dusche.
"Du bist wohl ziemlich spät zurückgekommen?"
Kein Vorwurf, einfach nur ein Feststellung.
Ich nickte. Konnte ihm nicht in die Augen sehen.
"Na, ich hoffe ihr habt Spaß gehabt."
Da schaute ich hoch, blickte in seine Augen und wollte etwas sagen. Doch es ging nicht. Noch eine Frage. Frag' bitte, flehte ich ihn stumm an. Ich hätte es ihm gesagt. Ich WOLLTE es ihm sagen, doch er fragte nicht. Ich weiß nicht, ob es ihm egal war, oder ob er das Thema absichtlich nicht ansprach. Jedenfalls war er den ganzen Morgen, den ganzen Tag über so wie immer. Einfach nur Nils. Ich sah Heiko noch einmal beim Frühstück. Wir lächelten uns über die endlosen Tischreihen an. Ich wäre am liebsten zu ihm rübergerannt, hätte ihn in den Arm genommen und einfach mitgeschleift.
Der Abschied war auch wieder typisch Heiko-like: "Na dann, vielleicht sehen wir uns ja mal." Dann drehte er sich um und war verschwunden, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Und ich, ich mußte tatsächlich mit den Tränen kämpfen.

Die Fahrt zurück war nicht sonderlich spannend. Nils und Leon redeten die meiste Zeit, während ich ab und zu wegnickte. Mein kleines verrücktes Leben. Ich habe einen Freund und ich habe irgendwo jemanden, der etwas ist, für den ich kein Wort finden kann. Ich hatte Heiko besiegt, aber komischerweise war es mehr der sportliche Erfolg, der mir etwas bedeutete. Es war nicht mehr dieses Besiegenwollen der eigenen Hilflosigkeit. Heiko und ich hatten eine der schönsten und geilsten Nächte zusammen verbracht und ich freue mich, daß ich es "geschafft" hatte. Ich freue mich, daß Heiko, diese Nacht mit MIR verbringen wollte. Ich freue mich, daß ich vielleicht doch irgendeine Rolle in seinem Leben spiele.

Dad holte uns in Stuttgart vom Zug ab. Hier war ich also wieder und während wir in Richtung Bergbach düsten, wunderte ich mich, daß die Landschaft, daß alles wieder so aussah wie vorher. Wir setzen Leon ab und Dad bringt Nils nach Hause. Ich steige mit aus, sage Dad, er soll schon vorfahren, ich komme zu Fuß nach. Das Schöne an Dad ist, daß er nie dumme Fragen stellt. Nils und ich stehen uns schweigend gegenüber. Dann plötzlich: "Du hast mir die Frage von vorhin noch nicht beantwortet. Hast du deinen Spaß gehabt?"
Ich nicke und versuche, meine Tränen runterzuschlucken. Er nimmt mich in den Arm und drückt mich ganz fest: "Es ist ok, mein kleiner Tim. Es ist doch ok."
Mein kleines verrücktes Leben.
"Wo hast du denn bisher schon überall Sex gehabt?"
Wir saßen beim Chinesen und ich hatte gerade die zweite Portion gebackene Ente in mich reingeschaufelt, da traf mich Heikos Frage völlig unvorbereitet. Für eine Zehntelsekunde wollte ich sagen 'Was geht dich denn das an?' aber das wäre natürlich Unsinn. Das war wieder Heiko pur. Einfach so locker, easy und selbstverständlich. Und ich erzählte es ihm. Ich weiß nicht, ob es an dem Bier, an dem Pflaumenwein oder an meiner allgemeinen Stimmung lag. Ich war rundum glücklich und zufrieden. Da saß ich also mit Heiko und wir redeten, redeten über Sex und alles andere mögliche und unmögliche.
"Läufst du eigentlich noch immer vor den unangenehmen Sachen weg?"
"Was meinst du damit?"
"Das weißt du."
"Ich will eigentlich nur eines wissen."
"Und was? Mein Gott, nun laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen."
"Warum hast du mich damals, als ich dich angerufen habe, nicht die Sache zu Ende bringen lassen? Warum wolltest du nicht, daß ich den Kontakt abbreche? Wäre das nicht einfacher gewesen?"
"Siehst du, das habe ich dir damals schon gesagt. Natürlich wäre es einfacher gewesen. Aber WOLLTEST du das wirklich? Ich meine, willst du das immer noch?"
"Nein."
"Na siehst du. Außerdem wollte ICH es auch nicht. Und das zählt schließlich auch."
Ich gebe mich geschlagen.
"So, und was machen wir jetzt, wo wir richtig schön vollgefressen sind?"
"Keine Ahnung, ich kenne mich hier nicht aus."
"Wir könnten noch die Reste der Turnier-Party mitnehmen."
Ach ja, das stand auf den Plakaten in der Halle. Es gab ja tatsächlich eine große Party für alle Turnierteilnehmer. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, dorthin zu gehen.
"Ich glaube aber nicht", meinte Heiko, "daß da etwas Nettes rumläuft. Ringer sind meist sowieso ziemlich häßlich."
"Wie bitte?!"
"Ok, es gibt einige Ausnahmen. Aber im Allgemeinen mußt du doch zugeben, daß die meisten nicht besonders geil aussehen."
"Ich gehe nicht zum Ringen, weil da so viele geile Jungs rumlaufen."
"Und Nils?"
"Halt Nils da raus. Bitte!"
"Ok, ok. Womit wir noch immer nicht die Frage geklärt haben, was wir jetzt machen."
"Ich weiß es doch auch nicht."
Ich guckte ihn an, blickte ihm in die Augen. Mindestens fünf Minuten saßen wir dort und ich bekam alleine von diesem Blick einen Ständer. Wir brauchten nichts zu sagen. Wir wußten beide ganz genau, was wir wollten.
"Nein Heiko. Das geht nicht. Und überhaupt...wo denn?"
"Laß mich machen."
Ich sagte nichts. Ich trottete wie ein kleines Hündchen neben ihm her. Wieso, wieso nur. Er sagt, laß uns Sex haben und ich springe darauf an. Warum klappt das bei ihm? Woher nimmt er diese Sicherheit, diese Selbstverständlichkeit? Ich bin mir 1000%ig sicher, daß wenn es umgekehrt gekommen wäre, er irgendwas von wegen 'dich hatte ich schon mal' gesagt hätte und das wäre es dann gewesen. Und ich? Ich mache es mit. "Wie Wachs in deiner Hand." Und ich hasse mich dafür. Ich hasse mich dafür, daß ich so leicht zu durchschauen bin, was ich will und dafür, daß es Heiko so einfach bekommen kann. Wir landen im JGH.
"Wir können nicht in mein Zimmer gehen. Wenn Nils zurück kommt. Und Leon ist auch noch da."
Heiko legt seinen Finger auf meinen Mund: "Ganz ruhig, mein Kleiner. Wir gehen nicht in dein Zimmer. Und in meines auch nicht."
Er verschwand für einen Augenblick und kam dann mit seinem Rucksack wieder. Ich merkte, wie mich der Pflaumenwein immer wuschiger im Kopf machte.
"Wo gehen wir hin?" fragte ich ihn noch mal.
"Warte einfach ab und rede nicht so viel."
Er zog mich wieder raus auf die Straße. Und ich, ich trottete wie ein kleines Hündchen mehr hinter als neben ihm her. Mir wurde immer mulmiger. Was mache ich hier, ging mir durch den Kopf. Irgendwie scheinen sich alle Beteiligten darüber einig zu sein, daß Heiko und ich jetzt Sex haben werden. Alle wissen genau Bescheid: Heiko, Matthes, Nils und ich. Was geht hier ab? Für einen Moment kam mir der Gedanke, daß das alles eine abgesprochene Sache ist. Aber das war natürlich Unsinn. Ich weiß den Weg nicht mehr, den wir gelaufen sind. Ich weiß nur, daß wir auf einmal vor der Halle standen.
"Und jetzt?"
Heiko zog mich auf die Rückseite und zeigte mir ein offenes Fenster: "Dann mal rein."
"Wieso is dieses Fenster offen?"
"Du sollst da rein klettern und nicht so viel reden."
Für einen winzigen Moment wurde ich wieder nüchtern: "Wieso ist das Fenster offen?" fragte ich ihn scharf.
"Mein Gott, ich habe es vorhin ausgehakt, bevor ich gegangen bin."
Ich fragte nicht weiter. Ich fragte ihn nicht, WIESO er bereits heute Nachmittag gewußt hat, daß wir am Abend hier landen werden. Ich fragte nicht sondern kletterte durch das Fenster und sprang hinunter. Wir waren in der Umkleide und Heiko zog mich in die Halle. Es war eine total eigenartige Stimmung. Es war dunkel und von draußen schien nur ganz wenig Licht von den Straßenlaternen durch die Glasbausteine. Es war still, die Matten dämpften jeden unserer Schritte. Mein Herz klopfte, ich zitterte und ich weiß nicht, ob es meine Geilheit oder die Angst war, daß wir entdeckt werden. Das war alles so unwirklich, daß war wie in irgendeinem Film. Ich wußte nicht, ob das alles wahr ist oder nur geträumt. Doch es mußte stimmen. Da war Heiko, vor mir. Heiko auf den ich so geil war und für den ich meine Beziehung zu Nils auf's Spiel gesetzt hatte. Heiko griff meinen Arm, zog mich nach unten und setzte zu einem Kopfschwung an. Ich landete schmerzhaft auf der Matte, versuchte mich zu drehen, schaffte es sogar in die Bank doch da war Heiko wieder auf mir drauf. Er fegte meinen Arm weg und nun lag ich ganz unten. Über mir Heiko, ich spürte seinen Atem in meinem Nacken und ich spürte, wie seine Hand langsam unter mein Sweatshirt glitt. Ich weiß nicht wieso, doch ich wehrte mich. Ich wand mich unter ihm. Es war nicht so, als wenn ich ihn nicht wollte in dem Moment. Aber da war es plötzlich wieder dieses Gefühl von Hilflosigkeit ihm gegenüber. Er durfte alles, er konnte alles, er bekam alles. Er bekam mich und das wollte ich so nicht akzeptieren. Ich bockte, versuchte aufzustehen, warf mich auf ihn. Jetzt hatte ich ihn, doch sein verfluchtes Grinsen machte ihn wieder zum Sieger. Ich glaube in dem Moment wäre ich am liebsten aufgestanden und weggerannt. Ich bin nicht weggerannt. Heiko griff um meine Hüfte und drehte mich durch, so daß ich wieder auf dem Rücken landete.
"So leicht mein Kleiner, mache ich dir das nicht", flüsterte er mir zu. Ich versuchte mich zu wehen, doch ich wehrte mich nicht mehr richtig. Ich war einfach viel zu geil auf ihn und mein Sichwehren war entweder nur ein Spiel oder mein Versuch, mir selbst das nicht zuzugeben.
Als wir schließlich fertig waren, unsere Klamotten in der halben Halle verteilt waren und wir atemlos nebeneinander lagen, war mir, als wenn ich schwebte. Heiko stand vorsichtig auf und holte ein Handtuch aus seinem Rucksack. Es war alles geplant, es war alles von Anfang an so geplant schoß es mir durch den Kopf. Doch dann war es mir egal und es machte mich ein klein wenig stolz, daß sich Heiko so viel Mühe mit mir gegeben hatte. Das Fenster auszuhaken, an alles mögliche zu denken. Und jetzt lag ich in dieser Halle, in der ich noch vor ein paar Stunden Heiko besiegt hatte. Ich lag da und Heiko lag neben mir.
"Und?"
"Was und?"
"Wie war es?"
"Geil."
"Schön. Ich fand es auch geil." Er kuschelte sich in meinen Arm. Ich genoß den Augenblick und ich war glücklich. Und ich merkte, wie ich schon wieder Lust auf ihn bekam.
"Ich glaube", sagte Heiko, "wir werden noch viel Spaß zusammen haben."

Der Weg zurück zum JGH. Schweigend. Glücklich nicht. Aber auch nicht unglücklich. Es ist kalt. Und es wird langsam hell. Ich möchte so gerne seine Hand nehmen, doch das geht nicht. Ich kann es nicht und er würde es nicht wollen. Es war ein Wahnsinn, was wir da gemacht haben. Wir sind sogar so verrückt gewesen, daß wir dort hinterher unter die Dusche gegangen sind. Ein komischer Abschied auf dem Weg zu meinem Zimmer.
"Alles klar?" fragte Heiko. Ich nicke. Er tapert davon, ohne sich nur einmal umzudrehen. Ich glaube, wenn es irgendwann mal etwas gibt, wofür ich ihn hasse, ist es das. Ich schleiche mich in mein Zimmer. Nils schläft, Leon schläft. Krieche mit Klamotten ins Bett und kann nicht einschlafen. Greife mein Tagebuch und beginne zu schreiben. Mein Leben, mein verrücktes kleines Leben. Wie soll das weitergehen? Ich merke, daß diese ganz große Verliebheit weg ist. Aber da ist immer noch dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins. Und dann ist da diese Geilheit. Diese Lust auf ihn. Ich weiß auch nicht wieso. Wenn ich mit Nils Sex habe ist es schön und bestimmt ebenso geil. Aber mit Heiko ist es etwas anderes. Vielleicht gerade deshalb weil wir nicht zusammen sind.

Samstag, 11. Oktober 1997

11. Oktober

"Hi! Wie geht's dir?"
Da stand er vor mir. Heiko in voller Lebensgröße. Ich war gerade auf dem Weg zum Wiegen als er mir entgegenkam. Ein winzigen Augenblick zögerten wir beide und dann umarmten wir uns. So wie sich eben zwei Jungs umarmen. Ich blickte ihm in die Augen: er grinste oder lächelte, wie man es eben nennen will. Mein Herz schlug Purzelbäume und ich mußte mich losreißen, ihn nur anschauen zu wollen. Ich versuchte irgendwas zu sagen, irgendwas halbwegs intelligentes. Mir fiel nichts anderes ein als die Frage nach dem Gewicht. "59 Kilo und du?"
"Ich denke mal auch so. also, gleiche Klasse."
"Gib's zu, das ist der einzige Grund, warum du hier bist."
Was sollte ich ihn anlügen. Mein Gedanken, meine Gefühle, alle an mir schien ein offenes Buch für ihn zu sein. "Stimmt, du hast recht."
"Dachte ich mir doch. Dein Freund kommt."
Nils kam auf uns zu. Für ein paar Sekunden gab es ein total peinliches Schweigen. Ich glaube uns allen ging in dem Augenblick durch den Kopf, was zwischen Heiko und mir abgegangen war. Ich glaube, ich wurde rot.
"Und du bist Tims persönlicher Coach, oder machst du auch mit?"
"Nein, ich bin nur zur moralischen und körperlichen Erbauung hier. Ich kämpfe nicht."
"Na dann...bis später."
Heiko beendete die Szene, bevor sie unerträglich wurde, indem er zu Matthes taperte. Zum Glück war es doch gar nicht so schlimm gewesen.
"Man KÖNNTE sagen, daß er ganz attraktiv ist. Wenn man auf so jemanden wie ihn stehen würde."
"Was soll DAS denn bedeuten? Attraktiv, was ist denn das überhaupt für ein Wort? Und was meinst du damit, wenn du sagst 'wenn man auf so jemanden wie ihn stehen würde'?"
"Die, die immer so unschuldig aussehen, aber es gar nicht sind."
"Was weißt DU denn, auf was für einen Typ ich stehe? Siehst DU etwa unschuldig aus?"
Nils grinste: "Ich kriege doch mit, welchen Jungs du immer hinterher guckst."
Anscheinend bin ich für alle auf der Welt ein offenes Buch. Nur für mich nicht.

"Gleiche Klasse wie Heiko, na dann kann's ja losgehen", murmelte Nils. Nach dem Wiegen folgte der Einmarsch und dann ging es auch schon los. Nils und ich setzten uns an die Stirnseite der Halle und schauten uns die Kämpfe auf der vorderen Matte an. Leon hatte sich seinen Walkman übergestülpt und sich die Kapuze von seinem Sweatshirt tief über den Kopf gezogen.
Heiko saß mit Matthes schräg gegenüber in der Mitte der Halle an Matte 2. Ein paar Male trafen sich unsere Blicke und Heiko lächelte. Es war kein Grinsen, es war ein Lächeln. Mir wurde jedesmal heiß und kalt. Shit, was passiert denn wieder mit mir? Matthes lächelte nicht. Matthes schien gelangweilt, während Heiko ihm etwas erzählte. Vermutlich erklärte er ihm die Griffe oder die Punkte. Für einen Fußballer bestimmt nicht sonderlich spannend.
Es kam Leons erster Kampf. Er schlug sich wacker und ich schrie mir fast die Kehle aus dem Hals, aber schließlich verlor er; sogar auf Schulter. Nils machte ein hilflose Handbewegung als er zu mir zurückkam: "Kann man machen nichts", äffte er Dimitri nach.
Dann kam der erste Aufruf zu meinem ersten Kampf. Natürlich kannte ich meinen Gegner nicht. Jemand von Luftfahrt Berlin. Und als ich ihn sah, rutschte mir wieder mal das Herz sonstwohin. Warum sehen eigentlich alle meine Gegner immer viel größer und muskulöser aus als ich? Bin ich in der falschen Gewichtsklasse. Na toll. Was habe ich mir hier eigentlich vorgenommen? Nach welchem Schema läuft das hier? Poolsystem, Nordisches Turnier? Shit, wenn ich Pech habe, dann fliege ich gleich in der ersten Runde raus, oder doch nicht? Warum hatte ich nicht Nils vorher gefragt? Ich mußte gewinnen, ich WOLLTE gewinnen. Und ich gewann. Mein Single Leg klappte auf Anhieb und der Typ landete auf der Seite. Dadurch, daß er so groß war, war ich schneller. Ich schaffte es, auf seinen Rücken zu kommen und griff nach seinen Beinen. Das klappte zwar nicht ganz so toll aber immerhin war ich in der Pause mit 5:2 in Führung. Ich saß in meiner Ecke und Nils fächerte mir Luft zu. "Mach einfach weiter so. Du bist schneller, das mußt du ausnutzen."
Heiko saß jetzt an meiner Matte und schaute zu. Kurz trafen sich unsere Blicke. Ich weiß nicht, ob er lächelte. Ich schaffte es und gewann mit 8:3. Als der Schiedsrichter meinen Arm hob trafen sich Heikos und mein Blick. 'Für dich', dachte ich, 'diesen Sieg habe ich nur für dich errungen.'
Nils klopfte mir auf die Schulter und Leon nickte anerkennend. "Für den Anfang schon nicht schlecht. Eher mehr ganz gut, würde ich sagen."
Der nächste Kampf stand an. Heiko gegen jemanden aus Goldbach. Ich weiß nicht wieso. Ich konnte es nicht sehen. Ich ging in die Kabine. Nils kam hinterher: "Was ist denn los? Willst du nicht sehen, wie dein nächster Gegner kämpft?"
"Nein. Ich will es nicht sehen. Ich kann da jetzt nicht zusehen."
Nils ging kopfschüttelnd raus und kam rein, als der Kampf vorbei war. "Falls es dich interessiert: dein Schnuckel hat gewonnen."
"Mein Schnuckel", begann ich zu protestieren, doch ich wollte mich nicht streiten. Ich ging mit Nils zusammen zurück in die Halle. Jetzt kamen die anderen Gewichtsklassen dran. Ich wollte so gerne zu Heiko rübergehen. Mit ihm reden. Und ihm eigentlich sagen, laß uns diesen ganzen Scheiß hier vergessen und ein bißchen zusammen durch die Gegend gehen. Aber das ging natürlich nicht. Also lief ich total nervös auf und ab. Wie ein Tiger im Käfig. Shit, warum hatte ich nicht meinen Walkman eingepackt? Irgendwann wurde es Nils zu bunt und er packte mich und schob mich zu einer Gruppe, die am anderen Ende der Halle saß. Ein großes Gejohle, offenbar kannten sie Nils, SAV, also Heimmannschaft. Nils schien sowieso alle Welt zu kennen. Als nächstes ging es zu einer Gruppe aus Hessen.
"Woher kennst du die denn alle?" wollte ich wissen.
"Wenn man so lange im Geschäft ist..."
Das klang echt so, als wäre er ein Hollywood-Agent.


Dann kam Leons zweiter Kampf. Der war zwar schon besser als der erste, aber mit 6:4 immer noch verloren. "Dann bist du wohl Bergbachs einzige Medaillenhoffnung", seufzte Nils.
Dann kam ich. Ich trat tatsächlich gegen jemanden aus Hamburg an. Irgendwie cool. Am liebsten hätte ich ihm gesagt: Hey, ich komme auch aus Hamburg. Das habe ich dann aber doch lieber gelassen. Der Kampf war einfach. Jetzt sage ICH sogar schon, daß er einfach war. Aber er ging schnell. Kurz vor Ende der ersten Runde schaffte ich sogar einen Schultersieg. Ich war selber ganz übergerascht. Wieder hob der Schiedsrichter meinen Arm hoch. Wieder suchte ich Heikos Blick, doch der unterhielt sich mit irgendwem anderes und hatte offenbar nichts von meinem Kampf mitbekommen. Na toll. Ich trottete zu meinem Platz. "Was hörst du da eigentlich?" fragte ich Leon. Er reichte mir die Kopfhörer. Schrecklich: Jazz! Ich gab sie ihm mit spitzen Fingern wieder zurück. Ich glaube er und Tobias würden sich prächtig verstehen.
Das übliche Gewusel bei solchen Veranstaltungen. So diszipliniert am Anfang beim Einmarsch noch alles ist, desto mehr sieht die Halle nach einer Weile aus wie ein Heerlager zu altrömischer Zeit. Taschen, Handtücher, Rucksäcke, Plastikflaschen, Klamotten. Alles lag kreuz und quer in der Gegend rum. Viele machten es so wie Leon und zogen sich mit ihrem Walkman zurück. Einige hüpften permanent umher und taten so als würden sie sich aufwärmen. Und dann war da noch Tim. Tim, der auch am liebsten vor Aufregung hin und hergehüpft wäre. Der kribbelte und vor Aufregung zitterte. Und trotzdem äußerlich ganz ruhig sitzen blieb. Aber in ihm kochte und brodelte alles. Heiß und kalt wechselten sich ab. Jetzt würde es also gleich passieren. Das, worauf ich ein halbes Jahr lang hingearbeitet hatte, wofür ich trainiert hatte. Nachts aufgewacht, nicht mehr einschlafen können. Verflucht, geheult und geschrieben. All das würde jetzt passieren. Heiko und ich zusammen auf der Matte. Der Aufruf kommt. Ich drückte noch einmal ganz fest den Bären von Doris und Nils' Eisbär. Meine beiden Glücksbringer. Dann gucke ich zu Nils. Ich habe Angst. So viel Angst hatte ich noch vor keinem Kampf. Und trotzdem will ich es. Ich will es wissen. Ich will es hinter mich bringen und ich will es schaffen. Nils schaut mich ernst an, dann drückt er mich kurz. Ich weiß, daß ihm das jetzt mindestens ebenso viel bedeutet wie mir. Ich gehe in die Mitte der Matte. Auf Heikos Gesicht ein Lächeln: "Na dann wollen wir mal", murmelt er. Ganz so, als würden wir zu einem Spaziergang aufbrechen. Wir geben uns die Hand. Das Lächeln verschwindet. Der Schiedsrichter tritt zurück. Ich bin allein, allein mit Heiko. Und doch um uns herum eine ganze Welt, die zuschaut. Ein Pfiff, der Kampf beginnt.
Wie automatisch mache ich wieder meinen Single Leg. Und auch diesmal klappt er. Jedenfalls fast. Heiko ist schnell, verdammt schnell. Noch ehe ich es schaffe, mich nach oben zu arbeiten, hat er sich schon auf den Bauch gedreht. Immerhin kriege ich Punkte. Ich versuche es mit einer Beinschraube, verhaspele mich selber dabei und Heiko schafft es, aufzustehen und hinter mich zu kommen. Er wirbelt mich herum und nun lande ich plötzlich schmerzhaft auf dem Bauch. Arme breit, zehn Uhr, zwei Uhr. Du mußt eins werden mit der Matte. Ich merke, daß er mindestens ebenso nervös ist wie ich. Er versucht irgendwelche Griffe anzusetzen und läßt es gleich wieder. Bis der Kampfrichter schließlich abpfeift und der Kampf im Stand weitergeht. Ich vermeide es, Heiko anzugucken. Ich will ihn nicht anschauen, nicht in seine Augen sehen. Diesmal war er schneller. Ich konnte gar nicht so schnell denken, da hatte er schon meinen Arm gegriffen und mich zu Boden gezogen. Ich spüre, wie er auf mir landet, spüre sein Gesicht ganz dicht an meinem Nacken. Was ist das nur für eine bekloppte Sache, die ich hier mache? Anstatt mit ihm irgendwo im Bett zu liegen, wälzen wir uns beide auf dieser Matte, vor einem grölenden Publikum. Unsere beiden Freunde stehen irgendwo am Mattenrand und Heiko und ich veranstalten hier so was wie eine Art mittelalterliches Duell. Total daneben. Das alles schoß mir durch den Kopf und dadurch paßte ich eine Sekunde lang nicht auf. Zeit genug für ihn, meinen Brustkorb zu umfassen, mit dem Griff nach unten an die Hüfte zu gehen und eine Rolle anzusetzen. Gerade als er mich halb herumgedreht hatte, machte ich meine Arme und Beine breit und versuchte, mich mit aller Kraft auf ihn fallen zu lassen. Und es klappte: er bekam mich nicht mit der Rolle herum, während er selbst fast auf der Schulter landete, ich auf ihm drauf. Ich schaffte es, seinen Griff zu lösen und versuchte mich umzudrehen, doch da war er auch schon wieder auf dem Bauch. Noch bevor ich etwas machen konnte, kam der Halbzeitpfiff.
"Hast du alles vergessen, was wir in den letzten Monaten trainiert haben?", blaffte Nils mich an. "Du hast so viele Chancen gehabt. Und nichts hast du da draus gemacht. Also, verdammt noch mal reiß dich zusammen. Ich will, daß du gewinnst. Ist das klar?"
Ich konnte nichts sagen. Ich war zu sehr außer Atem. Jede einzelne meiner Rippen tat weh und jetzt kam noch eine zweite Runde. Wieder zurück in die Mitte. Pfiff. Ich versuchte noch mal meinen Single Leg und er klappte wieder. Fast jedenfalls. Diesmal schien Heiko darauf vorbereitet gewesen zu sein. Denn kaum hatte ich sein Bein gepackt, beugte er sich vornüber, griff um meinen Brustkorb, ließ sich nach hinten fallen und warf mich dabei über seinen Kopf. Ich landete schmerzhaft auf der Matte, doch ich hatte nicht einmal Zeit noch Luft zu holen, da warf er sich auf mich. Ich wollte schreien, so sehr taten meine Rippen weh, doch ich biß mir lieber auf die Zunge. Nur noch weg, nur noch raus hier, dachte ich. Heiko setze einen Nackenhebel an. Mit einer Gewalt, daß ich Angst bekam. Er begann, mich herumzudrehen, langsam, ganz langsam. Er drückte mich immer weiter nach unten. Eine meiner Schultern war bereits auf der Matte, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich völlig geschultert war. Er drückte und stieß mit all seiner Kraft, mit seinem gesamten Gewicht in meine Seite. Ich bekam keine Luft mehr, vor meinen Augen tanzten kleine Leuchtpunkte und Blitze, in meinen Ohren nur noch Rauschen. Ich war kurz davor zu heulen. Aber irgendwas in mir sträubte sich dagegen aufzugeben. Nein, nicht du. Nicht Heiko. Und wenn es der letzte Kampf ist, den ich mache. Ich will gewinnen! Scheiß drauf, was Nils sagt, was Werner oder Mahmout sagen. Es ist mir alles scheißegal. ICH, nur ICH will gewinnen. Ich kriegte mit, wie der Kampfrichter neben mir am Boden war, die Pfeife schon im Mund und die Handfläche schwebend über der Matte. Ich schrie ein NEIN in mich hinein, streckte meinen Kopf nach hinten und drehte mich über meine eigene Schulter zur Gegenseite und nahm Heiko dabei mit. Auf einmal kam ich mir vor wie in einem dieser Ami-Sportfilme, in denen der Held ganz plötzlich DIE Superaktion in Zeitlupe macht. Stille, absolute Stille. Der Gegner landet krachend auf der Matte und plötzlich setzen die Fanfaren ein. Ok, hier waren es keine Fanfaren, hier hörte ich plötzlich wieder alles um mich in der Halle, das Jubeln der Zuschauer, ich hörte sogar Nils rufen, auch wenn ich nichts verstand. 11:7, ich lag trotz dieser Aktion immer noch vier Punkte im Rückstand und nur noch eine halbe Minute Kampfzeit. Wenn das ganze Krafttraining in den letzten Monaten für irgend etwas gut war, dann jetzt. Ich griff nach Heikos Arm, nach seinem Kopf. Nun versuchte ich ihn auf die Schulter zu drücken. Er wand sich unter mir, strampelte und bäumte sich auf. Ich zog den Griff enger. Schweiß tropfte von meiner Stirn, lief mir in die Augen. Ich brauchte nichts mehr zu sehen. Ich fühlte wie Heikos Widerstand schwächer wurde, aber würde ich es in den letzten Sekunden noch schaffen. Ich hörte wie er fast ein bißchen jammerte, seufzte und ich fühlte genau, wie sehr er sich in dieser Sekunde ärgerte, daß ich die Oberhand hatte.
"Tiiiiiiim!" Das war Nils. Nein Nils, das ist nicht dein Sieg. Das ist MEIN Sieg. Mit meiner letzten noch verbliebenen Kraft rammte ich meine Schulter gegen seine. Der Kampfrichter schlug mit der Hand auf die Matte. Einen Moment später ertönte der Gong. Jubel in der Halle. Es war, als wenn alle nur noch unseren Kampf verfolgt hätten.
"Du kannst ihn jetzt loslassen", sagte der Kampfrichter. Ich stand auf. Ein stechender Schmerz in meinem Knie. Aber ich ignorierte ihn, humpelte zur Mitte. Mein Arm wurde hochgehoben. Alles drehte sich um mich. Jetzt, jetzt schaute ich zum ersten Mal Heiko an, zum ersten Mal blickte ich wieder in seine Augen. Aber ich weiß nicht mehr, was ich sah. Ein ganz klein wenig Lächeln. Wir umarmten uns. "Na siehst du", flüsterte er mir ins Ohr. Ja, ich habe es geschafft. Ich taperte zurück in meine Ecke. Da stand ein breit grinsender Nils, die Arme in die Seite gestemmt. Er schlang mir das Handtuch um den Hals und zog mich zu Boden: "Ich bin tausendmal gestorben. Noch spannender konntest du es wohl nicht machen was?" Er umarmte mich: "Gut gemacht, mein Schatz" flüsterte er mir ins Ohr. Leon kam und klopfte mir auf die Schulter.
"Warum hinkst du denn?"
"Ich glaube irgendwas ist wieder mit meinem Knie."
Ich humpelte in die Kabine, während Nils mich stütze. Kaum war die Tür hinter uns zugefallen, umarmte er mich und gab mir einen langen Kuß.
"Du hast es geschafft."
Ich lächelte. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich konnte nur nicht sagen, wie es mir nun ging. Ich bat Nils, erst mal einen Eisbeutel oder so was zu organisieren. Er kam gleich mit den beiden Maltesern zurück, die mein Knie von allen Seiten begutachteten, bewegten ehe sie schließlich ein Coldpack raufbeppten.
"Du solltest das lieber Röntgen lassen", meinte der Ältere von den beiden.
"Kommst ja überhaupt nicht in Frage", plärrte ich. Ich habe mindestens noch zwei Wettkämpfe. Da tapere ich doch nicht ins Krankenhaus."
"Du willst doch nicht mit dem Knie noch einmal auf die Matte."
"Aber sicher doch."
"Nix da."
"Ich gehe da wieder raus, verdammt noch mal!" schrie ich. "Ich habe in der nächsten Runde ein Freilos. In einer halben Stunde ist das wieder ok mit dem Knie. Ich kenne das schon", log ich.
Die beiden zuckten mit den Schultern und trotteten davon. Ich legte mich auf die Bank und beppte meinen Fuß auf eine Sporttasche. "Das wird schon", beruhigte ich Nils, der ganz besorgt guckte.
Und es wurde tatsächlich besser. Nach zehn Minuten tat es schon fast nicht mehr weh und ich ging vorsichtig zurück in die Halle.
Gewonnen. Ich hatte gegen Heiko gewonnen und ich konnte noch immer nicht sagen, wie ich mich fühlte. Nils strahlte und ich sah ihm an, wie stolz er war. Mein Sieg, sein Sieg. So sei es. Gerade als Nils lostaperte, um die Wasserflaschen zu füllen, kam Heiko an: "Du warst ja so lange in der Kabine mit Nils? Habt ihr rasch einen Quickie geschoben?"
Jedem anderen hätte ich auf der Stelle eine reingehauen. Heiko brauchte ich nur anzugucken, sein Grinsen und ich konnte ihm nicht mehr böse sein.
"Wir haben es nicht miteinander getrieben sondern ich habe mir mein Knie verarzten lassen, daß DU mir halb zertrümmert hast." Leider klappte das mit dem schlechten Gewissen einreden nicht.
"Ich soll dir das Knie zertrümmert haben? Soll ich dir mal erzählen, was DU so alles angerichtet hast? Mein Oberarm wird garantiert für die nächsten Wochen vor lauter blauen Flecken nicht mehr zu sehen sein, mit deinen komischen Beinangriffen hast du mir fast die Hüfte ausgekugelt und mein Handgelenk ist in deinem Schraubstockgriff auch nicht gerade besser geworden.
"Ich wußte gar nicht, daß du so ein Weichei bist."
Heiko buffte mich in die Seite und traf natürlich genau die Rippen, die sowieso schon wehtaten. Doch ich ließ mir nichts anmerken. "Wir sind noch nicht fertig miteinander", sagte er.
"Wie meinst du das?"
Doch er antwortete nicht. Nils kam.
"Du hast einen guten Trainer", sagte Heiko.
Nils grinste. Ich sah, wie sich ihre beiden Blicke trafen. Aber ich konnte nicht erkennen, was jeder von ihnen dachte.
"Guter Ringer, guter Trainer, alte chinesische Weisheit."
Dann wieder Schweigen. Jetzt kam zu allem auch noch Matthes und meinte, er würde etwas rausgehen, er fände das alles langweilig.
"Dann geh doch. Denk nur daran, rechtzeitig wieder hier zu sein, ich habe nämlich den Schlüssel für unser Zimmer." Das alles sagte Heiko ohne sich überhaupt zu ihm umzudrehen. Kaum war Matthes weg, meinte Heiko: "Er nörgelt schon den ganzen Tag rum. Ich frage mich echt, warum er überhaupt mitgekommen ist."
Es war mir peinlich, daß Heiko so über ihn redete.

Leon verlor auch seinen nächsten Kampf. Er tat mir richtig leid. Und dann kam mein nächster Kampf. Ich ging mit richtig guter Stimmung auf die Matte. Ich hatte Heiko besiegt. Aber vielleicht war mir das zu Kopf gestiegen. Vielleicht war ich dadurch so unkonzentriert geworden. Jedenfalls war der Kampf nach 30 Sekunden vorbei, ein Wurf und ich landete auf dem Rücken, keine Chance. Nils runzelte die Stirn als ich zurück in meine Ecke kam: "Was war das denn jetzt? Dein Knie? Oder hast du jetzt nach Heiko keine Lust mehr, dich überhaupt noch anzustrengen?"
"Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Es ging alles so schnell."
Ein lange Blick von Nils. Ob als Ermahnung oder Strafe, ich weiß es nicht.

Heiko dagegen gewann seinen Kampf durch technische Überlegenheit. Es war seltsam. Plötzlich hatte ich Angst um ihn, als ich ihn so kämpfen sah. Natürlich Quatsch, denn was sollte ihm passieren. Aber trotzdem.
Eigentlich hatte ich auch gar keine Lust mehr dazubleiben. Weswegen ich hergekommen war, hatte ich geschafft. Also, wozu noch hier rumsitzen? Natürlich ging das nicht, ich hatte noch einen Kampf. Da konnte ich nicht abhauen. Immerhin gewann Leon seinen nächsten Kampf. Zwar knapp mit 7:6, aber immerhin. Er strahlte als er von der Matte kam. Ich freute mich echt für ihn.
Ja und dann kam mein letzter Kampf. Und wieder habe ich meinen typischen Fehler gemacht und meinen Gegner unterschätzt. Er war kleiner und auch dünner als ich. Und ich dachte schon, daß ich ein leichtes Spiel hätte. Aber nichts da. Was ich auch versuchte, er wand und zappelte sich aus allen Griffen heraus und konterte. Schließlich verlor ich mit 9:6 ziemlich schwach und schlich mich in meine Ecke. Nils verzog das Gesicht und mußte eigentlich gar nichts sagen. Doch er sagte was: "Minimalringer."
"Du bist echt ungerecht. Immerhin habe ich die ersten drei Kämpfe gewonnen.
"Ja und die letzten beiden verloren. So sauschlecht hast du ja noch nicht mal bei deinem ersten Wettkampf gerungen."
"Du weiß genau, warum ich hierher gekommen bin. Das weiß du ganz genau."
"Denkst du denn, jetzt ist alles vorbei? Nur weil du einmal gegen Heiko gewonnen hast, brauchst du dich nie wieder anzustrengen? Heiko, das einzige Ziel von Tim, dem Möchtegern-Ringer."
"Was ist denn auf einmal mit dir los? Drehst du jetzt komplett ab?"
Nils wurde ruhiger: "Ich will nur nicht, daß du glaubst, jetzt ist alles vorbei. Nur weil du ein Ziel erreicht hast, ist noch lange nicht Schluß."
"Das ist mir doch klar. Und ich weiß auch nicht, warum ich die beiden letzten Kämpfe verloren habe. Aber vielleicht brauche ich einfach einen Moment Auszeit."
Nils nickte. Ich hatte alles in den letzten Monaten in dieses eine Ziel gesteckt. Und ich hatte es erreicht. Vielleicht hatte Nils ja recht. Vielleicht ist ja jetzt wirklich die Gefahr, daß ich jetzt alles schleifen lasse. Vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es jetzt noch nicht. Und ich will mir jetzt auch keine Gedanken darüber machen. Mein Knie fängt wieder an wehzutun. Ich gucke mich in der Halle um, treffe auf Heikos Blick. Ein Lächeln. Es ist schon merkwürdig. Wenn Heiko lächelt, ist die Welt für mich in Ordnung.

Vierter Platz. Keine Medaille, kein Platz auf dem Treppchen. Nils ist ein bißchen enttäuscht. Auch wenn er sich natürlich heimlich und auch nicht heimlich über meinen Sieg gegen Heiko freut. Heiko hat tatsächlich den dritten Platz gemacht. Ich war der Einzige, gegen den er verloren hat. Alle anderen Kämpfe hatte er gewonnen. Na toll, die Medaillen überreichte irgendso eine weibliche Regional-Tralala-Meisterin. Ein Mädel das ringt ist ja nun schon abartig genug, daß sie Medaillen überreicht macht die Sache nur noch schlimmer. Daß sie die Jungs auf dem Siegerpodest aber dann noch mit einem Kuß beglückt, ist aber total daneben. Ich sah wie Heiko rot wurde. Heiko wurde ROT!!! Yeah. Allein das war es schon wert. In der allgemeinen Auflösung kam er zu mir: "Und? Was macht ihr heute Abend noch? Fahrt ihr gleich wieder zurück?"
"Nein, dafür ist es zu spät. Wir pennen noch hier und fahren dann morgen nach dem Frühstück zurück."
"Ja und? Was macht ihr denn dann heute Abend? Oder was machst DU heute Abend?"
Ich guckte ihn an und wußte genau, was er dachte, was er wollte. Und ich, ich verdammt noch mal ich wollte es auch. Doch ich sagte nur: "Keine Ahnung, wir haben uns noch nichts überlegt."
"Vielleicht können wir ja noch irgendwo was trinken gehen. Nils kann ja mitkommen, wenn er mag."
"Oh, wie großzügig."
Das war wieder typisch Heiko. 'Nils kann ja mitkommen.' Mit welcher Selbstsicherheit kommt er auf die Idee, ich würde ohne Nils am Abend weggehen? Jetzt, wo ich das schreibe, fällt mir natürlich ein, daß ich auch hätte sagen können, daß Matthes ja auch mitkommen kann. Shit, daß einem so was immer erst hinterher einfällt. Ich möchte ihm so gerne böse sein. Ich möchte mich über ihn ärgern können. Doch es geht nicht. Irgendwo habe ich mal den Satz gelesen: "Ich bin wie Wachs in deinen Händen." Jetzt weiß ich, was damit gemeint ist.
Nils kam von seiner Quatsch-und-Tratsch-Tour mit dem Jungs vom SAV zurück. "Was machen wir denn heute Abend? Schon eine Idee?"
"Das gleiche hat Heiko gerade auch schon gefragt. Er hat gefragt, ob wir nicht zusammen was trinken gehen wollen."
"Na das paßt doch. Dann gehe ich in aller Ruhe mit den Jungs vom SAV was trinken und du mit deinem Heiko."
Nils hatte mich gründlich mißverstanden. "Er meinte, daß wir, also wir alle zusammen was trinken gehen."
"Ach nein, Tim, bitte nicht. Was soll ich denn mit Heiko an einem Tisch sitzen und mir angucken wie du ihn anschmachtest? Ich kann ihn nun mal nicht ausstehen, aber wenn du dich mit ihm treffen willst, ist das ok. Wirklich."
"Nils ich, ich dachte wir beide machen was zusammen heute."
Er zog mich in eine Ecke der Halle und setzte sich auf den Boden. Ich hockte mich gegenüber hin.
"Tim, paß mal auf. Ich weiß genau, was er für dich bedeutet. Und ich weiß ganz genau, was da zwischen euch läuft. Auch wenn es keiner von euch beiden sagt. Wenn du mit ihm weggehen willst, dann mache es doch. Quatscht, redet, macht, was weiß ich. Was soll ich denn dabei? Und ich bin nicht böse, oder sauer. Oder eifersüchtig. Wirklich nicht. Verdammt noch mal, Tim. Ich liebe dich und ich will, daß es dir gut geht. Und wenn du mit Heiko weggehen willst, dann mache es."
Ich blicke ihn lange an. Nils, meinen Nils. Es ist eine komische Sache. Ich überlege mir, wie es umgekehrt wäre. Ich weiß es nicht.

Wir tapern schweigend zum JGH zurück. Ich weiß nicht, ob wir schweigen, weil uns so viele Dinge durch den Kopf gehen oder weil Leon dabei ist. Leon. Der Ärmste. Ich möchte ihm so gerne irgendwas zum Trösten sagen. Daß er gar nicht so schlecht war, daß das bestimmt noch was wird. Irgend so was in dieser Richtung. Aber ich komme mir blöd vor. Wer bin ich denn? Ein Trainer? Der große Crack, der das beurteilen kann? Also halte ich lieber meinen Mund und sage gar nichts.

Als Leon im JGH unter der Dusche verschwindet liegen Nils und ich uns endlich in den Armen. Ein unendlich langer und schöner Kuß. "Es tut mir leid, daß ich dich vorhin so angemotzt habe", meinte er. "Ich freue mich, daß du gewonnen hast. Dreimal hast du gewonnen. Das ist wirklich echt eine Leistung."
Er vergräbt sein Kopf in meinem Arm. Ich streiche sanft über seinen Nacken, merke wie er zittert. Wir tapern zusammen unter die Dusche, aber es kommt immer jemand rein, so daß wir nichts miteinander machen können. Und Nils zieht tatsächlich los, zu seinem Treffen mit den Leipzigern. Leon ist irgendwo und ich, ich Idiot, ich bleibe hier, schreibe Tagebuch und warte darauf, mit Heiko durch das nächtliche Leipzig zu ziehen.
Ich habe gewonnen. Ich habe gegen Heiko gewonnen. Ist dieses Phantom weg? Ich weiß es nicht. Es ist ein wenig von diesem Gefühl weg, daß Heiko unfehlbar ist, unangreifbar. Er ist besiegbar, und wenn es nur auf der Matte ist. Vielleicht ein Anfang. Heiko ist nicht immer der Sieger. Trotz seiner andauernden Selbstsicherheit, seiner Selbstverständlichkeit. Ein ganz klein wenig habe ich mich zurück. Es klopft. Ich habe Hunger.

Freitag, 10. Oktober 1997

10. Oktober

Heiko und Matthes sind uns bisher nicht über den Weg gelaufen und wir gehen jetzt eh pennen. Nils und ich sind mit Leon in einem Vierbettzimmer gelandet. Aber nur wir drei sind drin. Schade, der Gedanke ein Zimmer allein mit Nils zu haben, hat mir irgendwie gefallen. Naja, er ist jetzt im Waschraum und ich werde versuchen, so schnell wie möglich zu pennen, um fit zu sein für morgen.
"Und? Heute der große Tag?"
"Na morgen erst, aber wir fahren heute nach der Schule los."
"Ich wünsche dir auf jeden Fall ganz, ganz viel Glück und Erfolg. Und vor allem, daß du gesund wiederkommst. Bei euch Ringern weiß man ja nie, was da so alles passiert. Und damit du jemand hast, der auf dich aufpaßt, gibt es den als Talisman."
Doris gab mir einen kleinen, total niedlichen Bären und drückte mich heftig. Doris die Gute. Und dann fügte sie ernst hinzu: "Und bringe das da mit Heiko in Reine. Ins Reine für Dich und Nils. Hörst du? Lasse ihn hinter dich. Verabschiede dich von ihm und vergiß ihn."
Beinahe hätte ich geantwortet, daß ich ihn nicht vergessen will, daß ich ihn nie vergessen werde. Niemals. Aber ich sagte nichts.

Mom brachte mich mit dem Wagen zum Bahnhof. Lisa und Phil waren auch dabei. Es war seltsam. Ich fahre doch nicht zur Weltmeisterschaft oder zur Olympiade. Alle wünschten mir Glück und Lisa drückte mich mit ihren kleinen Armen ganz fest zum Abschied. Dann kam Nils angetapert, grinsend wie immer. Leon im Schlepptau. Ach ja, den hatte ich ja völlig ausgespart. Natürlich, der fährt ja auch mit unserem Zug. Und dann tauchten tatsächlich noch Flo und Kevin mit einem selbstgemalten Transparent auf: "Bergbach verabschiedet seine Champs" und "Go For Gold" stand darauf. Eigentlich voll peinlich, aber auch irgendwie total lieb.

Nils schläft, Leon schläft und Tim schreibt Tagebuch. Vor einer Stunde sind wir umgestiegen und nun rauschen wir mit Höchstgeschwindigkeit in Richtung Leipzig. Und ich habe Angst und freue mich gleichzeitig. Ich freue mich darauf, Heiko wiederzusehen, sein freches, unverschämtes Grinsen, seine selbstverständliche Art mit allem so umzugehen. Und ich habe Angst. Angst, was mit mir wieder passieren kann, wenn ich ihn sehe, wenn ich mit ihm zusammen bin. Angst, was mit Nils passiert, wenn er auf Heiko trifft. Angst, wie ich mit Nils umgehe, wenn Heiko dabei ist. Der Kampf scheint mir gar nicht mehr so wichtig zu sein. Natürlich möchte ich gegen Heiko gewinnen. Aber ich glaube, es ist gar nicht mehr so sehr, dieses Gefühl, ihn besiegen zu wollen, um mich ein ganz klein wenig an ihm zu rächen. Ich glaube ich möchte ihn ebenso gerne beeindrucken, mit dem, was ich da mache. Nils schläft und er sieht total süß aus, wenn er schläft. Nein, er sieht nicht nur süß aus, wenn er schläft. Wie kann es denn sein, daß man zwei Menschen gleichzeitig liebt? Kann das überhaupt sein? Ist das überhaupt Liebe, was ich für Heiko empfinde? Ich weiß es nicht. Ich bin gespannt, ob ich ihn heute Abend schon im JGH treffen werde.