Freitag, 31. Mai 1996

31. Mai

»Paß auf dich auf«, sagte Phil, eher er in den Zug einstieg. Er ist wieder nach Hamburg gefahren, um seine letzten Sachen fürs Abi zu machen. Shit, er kommt erst Ende Juli wieder zurück. Ich mag es nicht, Leute zum Bahnhof zu bringen und zu verabschieden.

Es war sowieso ein Scheißtag heute. Mom ist wegen Lisa die ganze Zeit zu Hause. Am Nachmittag bin ich ins Schwimmbad gefahren, weil ich es irgendwie nicht mehr zu Hause ausgehalten habe. Na ja, von wegen Schwimmbad, ich war in den Thermen. Der Eintritt kostet ein halbes Vermögen, und dann auch noch absolut tote Hose. Das totale Rentnerbad. Die Whirlpools und die Sauna waren ja alles ganz nett, aber es war wirklich überhaupt kein anderer Typ da, der wenigstens annähernd interessant war. Und ich Idiot fahre auch noch mit dem Fahrrad da hin. So eine Scheiße.

Donnerstag, 30. Mai 1996

30. Mai

9:45
»Und paß auf, daß sie sich nicht kratzt.« Mom ist gerade nach Ulm gefahren, um sich Arbeit nach Hause zu holen. Lisa schläft wieder. Jetzt sieht sie wirklich wie ein Streuselkuchen aus. Mom hat ihr eingetrichtert, daß sie sich nicht kratzen darf, und sie hält sich tapfer dran. Moment, Telefon. Es war Nils. Er meinte, wenn ich das nächste Mal jemand aus einem anderen Verein mitbringe, soll ich besser fragen. Ich erklärte ihm, daß ich Benjamin zwar kenne, daß ich aber nicht wußte, daß er zum Kadertraining kommt. »Und dann noch so ein Kasper«, schnaufte er. Ich mußte lachen.


19:30
Ich habe heute beim Training zum ersten Mal gegen Nils gerungen. Nicht daß wir in unseren privaten Sessions nicht schon öfter gegeneinander gekämpft hätten. Aber irgendwie war es heute anders. Und es war ganz seltsam. Ich meine, er war seltsam. Er war ganz anders als sonst, als wir uns gegenüberstanden. Ich hatte fast Angst vor ihm. Nein, nicht nur fast. Es war nicht der Nils, den ich kannte. Was mir da gegenüberstand, war plötzlich ein teilnahmsloses Etwas, das mich überhaupt nicht zu kennen schien. Dimitri pfiff, und Nils kam auf mich zu. Ja, ich hatte wirklich Schiß und ging immer mehr zurück. Dimitri brüllte, ich solle mich gefälligst anstrengen und kämpfen. Ich schaffte es, ein paar Angriffe von Nils abzublocken. Als Dank dafür schickte mich Dimitri in die Bank. Nils legte seine Hände auf meinen Rücken. Das ging ja noch. Aber dann spürte ich, wie sein Schwanz gegen meinen Hintern drückte. Ich verlor fast die Besinnung. Dimitri pfiff, und ich ließ mich nach vorne fallen. Ich machte mich so breit und schwer, wie es ging. Aber Nils schaffte einen Einsteiger und schulterte mich. Alles, was ich sah, war das Licht des Deckenstrahlers. Das Licht, das immer verschwommener wurde, weil mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich kam mir vor wie am allerersten Trainingstag. Ich wollte einfach nur liegenbleiben. Doch Dimitri brüllte wieder irgendwas. Nils streckte mir seinen Arm entgegen und half mir auf. »Na, alles o.k.?« Plötzlich war er wieder ganz der alte. Ich schluckte und nickte. »Wenn du auf die Matte gehst, denke daran, daß dein Gegner dein Gegner ist.« Ich wußte nicht, was er damit meinte. »Das heißt, du zeigst nichts, keine Angst, kein Grinsen, gar nichts, egal, wie gut du ihn kennst. Gucke ihm nicht in die Augen, gucke auf seinen Körper, seine Hände. Da steht ein Gegner und sonst nichts.«

Ich glaube, ich begriff, was er meinte. Aber ich war trotzdem überrascht, wie er so plötzlich hin und her schalten kann. Dimitri kam auf mich zu und brabbelte mich voll, wenn ich auf der Matte wegrennen würde, sollte ich vielleicht lieber Dauerlauf trainieren und all so einen Quatsch. Ich kann gegen Nils einfach nicht richtig ringen. Zum Schluß sagte er noch etwas Merkwürdiges: »Zeige nie, daß du Angst hast. Denn wenn Angst sich da festsetzt«, er tippte mir gegen den Kopf, »dann ist die Angst überall.« Na toll, aber was ich dagegen machen kann, weiß er wohl auch nicht.

Mittwoch, 29. Mai 1996

29. Mai

10:20
»Es sind Windpocken.«
Mom scheint sich ganz sicher zu sein. Ich muß zugeben, ich habe fast gar nichts gesehen, aber Lisa hat die letzten beiden Tage ständig geschnieft, und heute morgen hat sie ein paar kleine Pusteln im Gesicht. Jedenfalls meint Mom, sie muß im Bett bleiben, was Lisa nun überhaupt nicht versteht. Dann hat Mom mit ihrem Chef telefoniert und gesagt, daß sie die nächsten paar Tage nicht kommen kann. Na toll, die letzten Ferientage noch Mom im Haus. Na ja, was soll’s. Ich kann mich nicht erinnern, je Windpocken gehabt zu haben, aber Mom meint, ich hätte sie als kleines Kind ganz schlimm gehabt.


15:15
»Willst du nicht mal endlich dein Zimmer aufräumen?«
Na klar, das mußte ja passieren. Ich finde, es sieht o.k. aus. Aber ich habe ein bißchen die Sachen hin und her geräumt, damit es wenigstens so aussieht, als hätte ich was gemacht. Und nun? Ich könnte Doris anrufen und mir ein paar Stunden lang die neueste Story von ihrem Typen anhören. Nicht gerade so eine tolle Alternative. Ich glaube, ich gehe Nils beim Kadertraining zugucken.


22:10
Ich glaube, ich spinne! Als ich heute in die Halle kam, saß Benji auf der Bank und schaute zu. Ich habe ihn natürlich gefragt, was er hier macht. »Zugucken«. Ich bin stinksauer geworden. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du da bist?«
»Ich habe gedacht, du bist sowieso da. Aber wenn nicht hätte ich dich hinterher angerufen.« Eine blödere Ausrede habe ich schon ewig nicht mehr gehört. Ich war kurz davor, ihm eine Szene zu machen. Aber Nils hatte mich gesehen und kam rüber: »Na, willst du dir schon mal richtiges Training ansehen?« Ich war so sauer, daß ich gar nicht wußte, was ich antworten sollte. »Gehört der zu dir?« er zeigte auf Benji. Der plapperte gleich los, daß er sich überlegt, ob er den Verein wechselt, und sich einfach mal das Training angucken wollte usw. Nils wurde plötzlich ganz komisch: »Wir haben das nicht so gern, wenn Leute aus anderen Vereinen bei unserem Training zugucken.« Benji lief knallrot an. Ha, geschieht ihm ganz recht! Und ich Idiot helfe ihm noch: »Ist schon o.k., ich kenne ihn.«
»Willst du etwa auch den Verein wechseln und nach Degendorf gehen?«
»Hab ich nicht vor.« Nils nahm mich in einen Armgriff und zog mich von der Bank: »Das will ich dir auch nicht geraten haben«, zischte er lachend. Dann ließ er mich los und trabte wieder zu den anderen. Den Rest des Trainings saßen Benjamin und ich schweigend nebeneinander. Ich habe eigentlich gar nichts vom Training mitbekommen. Mir ging alles mögliche durch den Kopf. Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Aber ich wollte nicht, daß Benji alleine mit Nils ist. Also habe ich ihm hinterher vorgeschla-gen, ob er noch mit zu mir kommt. Es war komisch, eigentlich hätte ich mich freuen müssen, daß er mitkommt, aber mein Kopf war so voll, daß ich mich kaum unterhalten konnte. Dafür plapperte Benjamin ununterbrochen, wie toll doch unser Training ist und daß in Degendorf alles zwei Kreisklassen niedriger wäre und so weiter. Wenigstens schwärmte er mir nicht wieder von Nils vor. Ich glaube, dann hätte ich ihm eine gescheuert.

Mom empfing mich mit der Frage, ob Benjamin mitessen würde. Ich sagte ihr, daß wir(!) keinen Hunger hätten, und wir gingen in mein Zimmer. »Nett hast du es hier«, meinte er. Ich wollte irgendwas Nettes sagen, aber brachte nicht mehr als ein »Ja, geht so« hervor. Na ja, zum Schluß wurde es dann doch ganz witzig. Er erinnert mich wirklich total an Jost. Aber irgendwie ist das ein Scheißspiel. Und ich stecke mittendrin.

Dienstag, 28. Mai 1996

28. Mai

14:30
»Willst du nicht lieber fahren?« Ich war heute mit Phil bei Ikea, weil er noch ein paar Möbel braucht. Ich kann mich gar nicht erinnern, daß er so miserabel fährt. Ich meine, es ist klar, daß er sich hier ja nicht auskennt, aber ... ach, was soll's. Auf jeden Fall haben wir uns köstlich bei Ikea amüsiert. Eigentlich wollte er ja nur ein paar Regale und einen Schrank kaufen, aber wir mußten unbedingt die Betten testen. Eigentlich erstaunlich, daß wir nicht rausgeflogen sind. Na ja, auf dem Parkplatz dann das, was ich schon erwartet habe, wie kriegen wir das Ganze in Moms Auto? Die Rückfahrt über hatte ich das Ende eines Kartons im Nacken, aber wir haben es schließlich dann doch geschafft.


23:05
Ich weiß nicht, was mit Nils los ist. Er hat angerufen und mich zum Krafttraining »bestellt«. Na ja, ich bin hingegangen. Es war ganz o.k. Hinterher sind wir noch in die Halle gegangen. Es war seltsam, sie war völlig leer. Ich weiß nicht, wieso, irgend jemand ist eigentlich immer da. Wir haben ein paar Griffe trainiert. Irgendwann lagen wir völlig ausgepumpt auf der Matte, starrten beide an die Decke, als er plötzlich fragte: »Warum hast du eigentlich keine Freundin?« Shit, was sollte ich antworten? Ich ließ mein bewährtes »Pffff!« los. Das gab mir wenigstens ein paar Sekunden länger Zeit. »Guck dir doch die Leute hier an.« Ja, ich habe es tatsächlich geschafft »Leute« zu sagen und nicht Mädel. Na ja, gut, ist nicht sonderlich mutig. Aber nun konnte ich ihn wenigstens zurückfragen: »Und du? Mit welchem Mädel gehst du im Moment?«
»Mit keinem.«
Uff, das überraschte mich.
»Aber du hast schon ein paar gehabt?«
»Ja, aber nicht richtig.«
»Was meinst du mit richtig?« wollte ich wissen.
»Jedenfalls noch nicht gefickt.«
»Waas, du bist noch Jungfrau?« Ich erschreckte mich selber, so laut echote es in der Halle.
»Schrei nicht so, du Penner, willst du dich vielleicht auch noch auf den Markplatz stellen?«
»Sorry, tut mir leid, aber hier ist ja keiner. Ich bin halt nur so überrascht.«
»Wieso bist ausgerechnet du überrascht?«
»Was soll das denn nun wieder heißen?«
»Du bist doch auch Jungfrau, oder?«
»Ja, aber das ist was anderes. Schau dir doch bloß mal mein Gesicht an.«
»Wieso, was soll denn mit deinem Gesicht los sein?«
»Es ist häßlich, das ist los. Mit so einem Gesicht fickt niemand.«
Er prustete los, und ich wurde sauer. Ich drehte mich um und sah ihn an, wie er neben mir lag. Alles an ihm schien perfekt zu sein. Ich hätte ihn so gerne angefaßt, ihn gestreichelt, einfach in den Arm genommen.
»Du bist nicht häßlich«, sagte er, während er weiter an die Decke blickte. Ich weiß nicht, ob er das nur sagte, um nett zu sein, oder ob er es ernst meinte.
»Irgendwann hätte ich schon mal gern Sex.« Er verwirrte mich immer mehr.
»Irgendwann? Meine Güte, was machst du denn, wenn du mit den Mädels zusammen bist?«
»Ein bissele Rumknutschen, mehr nicht.«
Ich verstand die Welt nicht mehr: »Ein bissele Rumknutschen? Ist das alles, was du bisher gemacht hast? Warum bist du noch Jungfrau, kannst du mir das mal erklären?« Ich wurde wütend. Die Welt ergab auf einmal keinen Sinn mehr.
»Drehst du jetzt völlig durch?«
Ich weiß auch nicht, was mit mir passiert war, aber alles paßte irgendwie nicht mehr zusammen. Ich setzte mich hin: »Tut mir leid, aber ich verstehe es einfach nicht.« Nils setzte sich auch hin, guckte mich kurz an und sah dann durch mich hindurch: »Willst du wirklich einen Grund wissen?«
»Natürlich will ich das!«
»Laß mich mal nachdenken.« Er dachte nach. Eine halbe Ewigkeit. »Hmm, mir fällt kein Grund ein.« Ich hätte ihm eine scheuern können. Zum Glück fuhr er fort: »Ich bin wohl einfach noch nicht dazu gekommen. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, würde ich sicher nicht nein sagen.«
Uff, mein Weltbild war wieder gerade gerückt. Plötzlich blickte er mich direkt an, aber ich konnte nicht in seinen Augen versinken, es schien, als würden sie kleine Blitze aussenden: »Was interessiert dich eigentlich mein Leben?« fragte er ziemlich kalt.
»Du hast angefangen zu fragen.«
»Aber ich bin nicht ausgerastet.«
»Sorry, ich habe mir einfach ein anderes Bild gemacht von dir.«
»Ach ja? Vielleicht will ich das aber gar nicht.« Was war denn nun mit ihm los?
Ich blickte ihm direkt in die Augen zurück. ›Tau auf, tau auf‹, dachte ich. Das dachte ich wirklich. Es war, als wenn ich versuchte, seinen eisigen Blick aufzutauen. Ich versuchte, ihm meine Gedanken zu schicken. Ich weiß nicht, wie lange wir so schweigend da gesessen haben, aber allmählich kam die Wärme in seine Augen zurück, ganz langsam war es wieder der Blick, in den ich eintauchen konnte. Ich merkte, wie ich schlucken mußte, mir begannen die Tränen in die Augen zu steigen. Ich war kurz davor, es ihm zu sagen. Mit einem Ruck holte ich mich zurück ins richtige Leben und buffte ihn an: »Wieder o.k.?«
»Wieder o.k.!« Nils grinste und warf sich auf mich. »Vielleicht«, sagte er, als er meine Schultern auf die Matte drückte, »vielleicht schaffen wir es ja wenigstens einen richtigen Ringer aus dir zu machen.«

Der Rest des Abends war zum Glück nur allgemeines Rumblödeln. Und nun liege ich hier und überlege, ob ich es ihm nicht vielleicht doch hätte sagen sollen. Scheiße, was bin ich doch für ein Feigling. Doch ich will ihn nicht verlieren. Und noch was frage ich mich: Bin ich tatsächlich noch Jungfrau? Ich meine, ich habe schon mit mehreren Typen rumgemacht. Nicht daß ich mit einem gefickt hätte, nein, das würde ich, glaube ich, sowieso nie machen. Aber ab wann ist man nicht mehr Jungfrau? Keine Ahnung, aber wenn das, was Nils gesagt hat, stimmt, habe ich wahrscheinlich schon mehr Sex gehabt als er. Irgendwie erstaunlich.

Montag, 27. Mai 1996

27. Mai

18:30
»Du kommst heute zum Training!«
Nils fragte nicht mal am Telefon. Es klang tatsächlich so wie ein Befehl. Es war ein Befehl. So ein Mist, eigentlich habe ich keine Lust. Kann man denn nicht mal an Pfingsten seine Ruhe haben?
Ich habe irgendwie voll die schlechte Laune. Ich weiß eigentlich gar nicht wieso, aber ständig geht mir diese Sache Benjamin/Nils durch den Kopf. Da kann ich es eigentlich gar nicht gebrauchen, Nils auch noch zu sehen. Na ja, und Training sah dann so aus, daß wir erst mal eine Ewigkeit Waldlauf gemacht haben, bergauf, bergab. Als wir dann völlig fertig wieder an der Halle ankamen, ging's erst richtig los. Nils und die anderen waren super drauf. Das hat mir gerade noch gefehlt. Er buffte mich ständig und meinte, beim nächsten Turnier würde ich auf die Matte gehen. Ich habe nichts gesagt. Jedesmal wenn ich ihn ansah, mußte ich an Benji denken.


22:45
Habe gerade mit Doris gesprochen. Sie meint, ich wäre komisch. Na toll, das hilft mir ja tierisch weiter. Was soll ich denn anders machen? Na ja, weil sie mir sowieso nicht helfen konnte, habe ich sie von ihrem Typ erzählen lassen, das hat mich wenigstens abgelenkt.

Sonntag, 26. Mai 1996

26. Mai

»Warum bist du hier und nicht unten auf der Matte?«
Ich saß nichtsahnend auf der Tribüne, als mir jemand von hinten in den Rücken boxte. »Benji!« schrie ich so laut, daß es mir gleich voll peinlich war, denn das mußte die ganze Halle gehört haben.
»Los, runter und mitringen«, sagte er grinsend.
»Nee, laß mal, der Tag kommt bestimmt noch früh genug.« Wenn ich ehrlich bin, hoffe ich, daß der Tag nie kommt, wo ich vor einem grölenden Publikum auf der Matte stehe. Der Streß mit den Trainingswettkämpfen reicht mir schon.
»Was machst du denn hier?« wollte ich wissen.
»Na ja, ich will mir doch meinen zukünftigen Verein angucken.«
»Wie, kommst du zu uns?«
»Na ja, wer weiß, so ein Top-Bundesligaverein wäre doch was für mich. Dann komme ich mal dazu, gegen Yilmaz zu ringen.«
»Griechisch-römisch ist doch öde. Und vor allem wird natürlich so ein Bundesliga-Crack einem kleinen hergelaufenen Dorfringer seine Tricks zeigen.«
Benjamin versuchte, mich in den Schwitzkasten zu nehmen. Wir rangelten ein bißchen, bis die Leute neben uns auf der Tribüne sauer wurden. Wir prusteten los und konnten gar nicht mehr aufhören. Bis schließlich irgendein Typ meinte, wir sollten gefälligst rausgehen, wenn wir uns nicht benehmen könnten. Na ja, das haben wir dann auch gemacht, weil wir einfach nicht aufhören konnten zu lachen, wobei, ich weiß gar nicht mehr, worüber eigentlich. Wir haben einfach nur alles und jeden verscheißert. Bis er mich in die Seite stieß und auf Nils zeigte: »Der ist doch auch bei dir?«
»Na klar, das ist Nils.«
»Und wie ist er?«
»Pff, was soll ich sagen, gut, aber guck doch selber hin.« Nils ging gerade auf die Matte.
»Ich würde gerne mal gegen ihn ringen«, sagte Benjamin und guckte Nils hinterher. Ich meine, es war komisch. Wieso wollte Benjamin ...?
»Du bist zu leicht, Nils ist bestimmt eine bis zwei Klassen schwerer als du.« Was machte ich denn da? Plötzlich versuchte ich, Benji Nils auszureden. Ich weiß nicht, wieso. Ich meine, Nils ringt ständig gegen irgendwelche Typen, warum sollte er nicht auch mal mit Benji ringen? Wobei, die anderen Typen sind meistens potthäßlich, verpickelt und was weiß ich. Benjamin dagegen erinnert mich total an Jost. Irgendwie kriege ich eine Gänsehaut bei dem Gedanken, daß die beiden zusammen ringen.
»Was machst du denn für ein Gesicht?« stieß mich Benji in die Seite.
»Äh, nix, mir ist nur gerade was durch den Kopf gegangen.« Lieber hätte ich ihm gesagt, er soll sich Nils aus dem Kopf schlagen. Na ja, Nils hat jedenfalls (natürlich wieder) gewonnen und kam eine Runde weiter. Ich habe Benjamin dann noch mal gefragt, ob er wirklich zu uns kommen will, aber er meinte, das wäre nur ein Witz gewesen. Uff, mir ist richtig ein Stein vom Herzen gefallen. Ich habe ihn dann nach dem Turnier gefragt, ob er mit zu mir kommt, aber er konnte nicht, weil er noch seine Tante besuchen wollte, na ja, schade eigentlich.

Nun liege ich hier und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Nils, ach ja, Nils ist aber eben unerreichbar. Das ist mir schon klar. Aber was sollte das denn mit Benji? Nee, ich finde, er sollte es gar nicht erst versuchen, an Nils ranzukommen. Ach Quark, was soll das denn? Ich rede mir hier ja absolut was Schräges ein. Warum sollte Benjamin überhaupt schwul sein? Das ist aber auch eine Scheiße. Bei jedem Jungen, der mir über den Weg läuft, denke ich, ist er nun schwul oder nicht? Nein, das stimmt so auch nicht, aber wenigstens bei jedem niedlichen Jungen. Wenn ich nur wüßte, woran man erkennt, ob der andere auch schwul ist. Ich meine, es kann ja nicht ewig nur auf irgendwelchen Klos und Duschen Schwule geben. Warum ist das alles denn überhaupt so kompliziert?

Samstag, 25. Mai 1996

25. Mai

»Und wieso?«
Phil hat es heute beim Frühstück Mom und Dad erzählt. Dad wollte einfach nur wissen, wieso. Aber Phil hat nur mit den Schultern gezuckt. Ich habe erwartet, daß sie einen tierischen Zoff machen, aber nichts. Dad hat nur resigniert geseufzt und meinte: »Wenn es dann sein muß.« Mom zog ein säuerliches Gesicht, aber damit war die Diskussion zu Ende. Phil guckte mich fragend an, aber was sollte ich sagen. Das heißt, ich weiß schon, was ich dazu zu sagen habe. Aber das wollte ich nun nicht unbedingt machen, wenn Mom und Dad dabei sind, sondern habe hinterher mit ihm gesprochen. »Und warum machst du das?«
Phil überlegte lange, sehr lange: »Vielleicht, weil ich nicht weiß, was ich eigentlich machen soll?«
»Wie? Was heißt das denn?«
»Ich meine, nach dem Abi.«
»Ich denke, du willst studieren?«
»Ja, schon, aber ich weiß nicht so recht, was.«
Pfffff, ich hätte ihn nehmen können und schütteln. Ich mag ihn wirklich gerne. Aber manchmal ist es echt zum Weglaufen mit ihm, wenn er so elendig unentschlossen ist. Und jetzt geht er deswegen zum Bund. Ich bastelte ihm zig Alternativen vor, aber bei allen zuckte er nur mit den Schultern.

Irgendwann wurde es ihm zu bunt, und er wechselte das Thema: »Erzähl mir lieber mal, was dein Ringen macht.« Das klang irgendwie völlig komisch ... »was dein Ringen macht.« Als wenn das nur mein ganz spezieller Sport wäre. »Es wird immer besser«, sagte ich. »Inzwischen habe ich schon mal meinen Trainingspartner gepinnt.«
»Ist das nicht reichlich gefährlich?«
»Quatsch, anstrengend, ja o.k., aber nicht gefährlich.«
»Wieso bist du denn gerade auf Ringen gekommen?«
»Keine Ahnung«, log ich. Na ja, sollte ich ihm den wahren Grund sagen? »Hier ringen fast alle in meiner Klasse, na ja, und es macht Spaß.«
»Ich finde nur, das paßt gar nicht zu dir.«
»Wie? Das paßt nicht zu mir?«
»Du bist doch gar nicht so ein Schlägertyp.«
Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, ihm zu erklären, daß Ringen nun nichts mit einer Schlägerei zu tun hat. Ich weiß nicht, ob er es kapiert hat. Er scheint irgendwie die gleiche Ader wie Mom zu haben, die meint, das wäre ein Proll-Sport. Ich habe ihm angeboten, morgen zum Pfingstturnier mitzukommen, aber er winkte ab. Na ja, auch gut.

Am Nachmittag hat Doris angerufen und gefragt, ob wir heute abend nicht ins Kino gehen. Na ja, der Film war total daneben, zwei Frauen, die ständig über ihre Probleme mit ihren Typen laberten. Auf jeden Fall hat mich das total runtergezogen, obwohl, wenn man sieht, was Heteros für Probleme miteinander haben ... fast könnte man ja froh sein, wenn man schwul ist.

Freitag, 24. Mai 1996

24. Mai

»Na, Kleiner, wie geht’s?«
Ich hasse es, wenn Phil mich »Kleiner« nennt. Nur weil er ein paar Jahre älter ist. Ich habe ihn vom Bahnhof abgeholt. Es wäre zu knapp für Mom gewesen, und er hatte eh nur eine Tasche mit. Oma hat ihn wohl mit jeder Menge zum Essen eingedeckt. Wahrscheinlich glaubt sie, in Bergbach gibt es nichts. Er hat eine Menge von Hamburg erzählt, von den Leuten in der Schule und von seinem Mädel. Irgendwann fragte er: »Und, was machen die Mädels bei dir?« Ich zuckte nur mit den Schultern und meinte »Keine Zeit dafür.« Ich glaube, er hat etwas komisch geguckt, so als würde er mir nicht glauben. Mist, ich würde es ihm gerne erzählen, aber ich traue mich einfach nicht. Außerdem hat er wahrscheinlich sowieso genug um die Ohren, wenn er jetzt zum Bund muß. Zum Glück hat niemand beim Abendessen darüber geredet. Aber irgendwann wird er es ihnen wohl sagen müssen. Auf jeden Fall kommt er Ende Juni erst mal ganz nach Bergbach. Ich freue mich, daß er endlich wieder da ist. Wir haben dann noch im Garten gesessen und über alles mögliche gequatscht.

Donnerstag, 23. Mai 1996

23.Mai

21:15
»Yeah, ich krieg’ dich!«
Max war heute hier und hat seinen Compi mitgebracht. Spannend was, man damit machen kann. Wir haben unsere beiden Computer verbunden, und dann konnten wir gegeneinander Warcraft spielen. Es ist voll cool. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit vergangen ist. Max meint, daß man das Ganze auch mit noch mehr Leuten spielen kann. Er will mal an einem Wochenende ein paar Leute einladen und eine große Session machen. Hehe, ich bin gespannt, wie das wird. Jedenfalls bin ich durch die ganze Aktion eine halbe Stunde zu spät zum Training gekommen, und Dimitri hat einen tierischen Zoff gemacht. Na ja, was soll's.

Mittwoch, 22. Mai 1996

22. Mai

»Ich komme am Freitag runter.«
Phil hat angerufen. Ich habe mich schon gewundert, aber er meint, es gibt dieses Jahr keine Pfingstferien in Hamburg. Komisch, wie schnell ich mich hier an alles gewöhnt habe. Auf jeden Fall freue ich mich, daß er kommt. Seine Abiklausuren sind wohl ganz gut gelaufen. Von der Musterung hat er nichts weiter erzählt. Ich möchte nicht wissen, was Mom und Dad dazu sagen.

Dann hat noch Doris angerufen. Sie hat sich mit dem Typen, Clemens heißt er (komischer Name), getroffen, und sie ist ganz hin und weg. Die beiden sind jetzt zusammen. Ich freue mich für sie. Ich glaube, sie hat es bei uns in der Schule sowieso nicht ganz so leicht. Die anderen reden nicht viel mit ihr und gucken sie eher etwas schief an. Ich bin ja mal gespannt, wie dieser Clemens aussieht.

Dienstag, 21. Mai 1996

21. Mai

11:15
»Hast du heute Nachmittag Zeit?«
Benjamin hat angerufen. Cooool. Er kommt heute nachmittag vorbei. Ich muß noch Nils Bescheid sagen, daß ich heute nicht in den Kraftraum komme. Darauf kann ich sowieso verzichten. Es ist zwar nicht so schlimm mit dem Muskelkater, aber trotzdem, heute noch Gewichte stemmen, nee.


23:30
Es war ein richtig schöner Nachmittag und Abend. Ich habe Benjamin am Busbahnhof abgeholt. Dann sind wir etwas durch die Stadt getapert, haben bei »unserem« Italiener Eis gegessen (ha, er steht auch auf Pistazien-Eis). Hinterher sind wir noch zu mir gegangen und haben ewig gequatscht und am Computer gespielt. Irgendwann kam Mom und fragte, ob er mit uns zu Abend essen will, und er hat ja gesagt. Er war einfach toll, ich glaube, er hat sogar Mom um den Finger gewickelt, denn sie war das ganze Abendessen nur noch am Lachen. Schließlich haben wir Lisa mit verteilten Rollen eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen. Dad hat ihn dann nach Degendorf gefahren, das heißt, ich bin mitgekommen. Er wohnt in so einem typischen »Quetsch-Haus«, bei denen ich mich immer wundere, wie man in so einem schmalen Ding überhaupt wohnen kann. Ich meinte, er müsse wohl im Stehen schlafen. Aber er hat erzählt, daß das Haus nach hinten noch weiter rein geht. Auf der Rückfahrt fragte Dad, ob ich schon viele neue Freunde hier gefunden hätte. Ich habe ihm gesagt, nicht viele, aber die, die ich kenne, reichen mir. Dann wollte er wissen, ob ich vielleicht in Doris verliebt sei. Ächz! Ich habe ihm gesagt, daß sie eine sehr, sehr gute Freundin ist, aber nicht mehr. Dad machte nur »Hm«. Ich weiß nicht, ob er mir glaubt, aber eigentlich ist es mir auch egal.

Montag, 20. Mai 1996

20. Mai

22:30
»Was ist denn das für eine Einstellung? Kaum sind Ferien, schon erscheint niemand mehr zum Training!«
Dimitri war stinksauer, es waren kaum Leute heute beim Training. Und da er wohl jemanden suchte, an dem er seine Wut auslassen konnte, war ich natürlich seine Zielscheibe. Ich dachte echt, ich muß sterben. Er meinte noch »So, jetzt zeige ich dir mal, wie die Profis trainieren«, und dann ging es los. Er scheuchte mich kreuz und quer durch die Halle, dazwischen immer wieder 30 Liegestütz. Dann laufen und auf sein Pfeifen fallen lassen, na ja, nach der Aufwärmphase war ich so fertig, daß ich glaubte, das eigentliche Training nicht mehr durchzustehen. Wie ich es dann doch noch geschafft habe, weiß ich gar nicht mehr. Nils grinste nur, ihm schien das Ganze nichts auszumachen. Hinterher hab ich erstmal die halbe Dusche leergetrunken. Ich möchte nicht wissen, wie es mir morgen geht.

Nach dem Training bin ich dann noch mit zu Nils gegangen. Haben Musik gehört, und eigentlich wollte er mir noch ein paar Griffe zeigen, aber ich bin echt zu fertig gewesen. Er warf sich achselzuckend auf sein Bett. Ohne T-Shirt. Aber das bekam ich gar nicht so richtig mit, ich war einfach zu fertig. Nun sitze ich zu Hause und könnte mich ohrfeigen, so eine Scheiße. Jetzt kommt es mir wieder vor Augen, wie er so da lag. Aber andererseits. Was soll's, er ist sowieso ein Hete.

Sonntag, 19. Mai 1996

19. Mai

15:00
»Warum hängst du eigentlich den ganzen Tag im Zimmer?«
Keine Ahnung. Ich hab einfach zu nichts Lust heute. Habe etwas am Computer gespielt, gelesen, ferngesehen. Eigentlich könnte ja mal jemand anrufen und was vorschlagen.


21:10
War mit Doris in der Stadt. Wir haben Eis gegessen (lecker: Pistazien). Sie hat mir erzählt, daß sie sich in einen Typen verknallt hat. Er geht nicht bei uns auf die Schule, deshalb kenne ich ihn wohl auch nicht. Ich glaube, sie ist hin und weg. Es ist komisch, ich habe ihr alle möglichen Ratschläge gegeben, wie sie sich mit ihm treffen kann, wie sie es ihm sagt. Seltsam, wenn es um andere geht, ist das alles ganz einfach. Auf jeden Fall wünsche ich ihr, daß es mit dem Typen klappt.

Samstag, 18. Mai 1996

18. Mai

11:30
»Und welches Fleisch soll es sein?«
Meine Güte, woher soll ich das denn wissen? Wenn wir grillen, kauft Mom immer ein. Aber ich stehe wie ein Depp im Supermarkt und will Fleisch für Florians Grillfete heute Abend kaufen. Ich hab gesagt, sie soll von jedem etwas einpacken, Hauptsache, es ist zum Grillen gut. Ein halbes Vermögen hab ich dafür an der Kasse bezahlt. Ich war sowieso schon sauer, weil mir ständig so eine Oma mit ihrem Einkaufswagen von hinten in die Hacken gefahren ist. Als wenn sie nicht aufpassen könnte. Und überhaupt, warum müssen Rentner eigentlich am Samstag einkaufen gehen? Zu Hause meinte Mom dann, warum ich sie nicht gefragt hätte, wir haben noch die ganze Tiefkühltruhe voll mit Grillfleisch, na super.


23:55
Eigentlich war es ja eine coole Grillfete, jedenfalls, bis die Polizei aufgetaucht ist. Irgendwelche von Floris Nachbarn müssen sich wohl beschwert haben. So ein absoluter Blödsinn. Es war garantiert nicht zu laut. Nils und ich haben jedenfalls beschlossen, zu keiner Fete mehr von Florian zu gehen. Entweder kommen seine Eltern und machen Schluß, oder die Bullen kreuzen auf.

Eigentlich wollte ja Silvio noch seinen Bruder anrufen und fragen ob er nicht nach Stuttgart fährt. Aber dann haben sie sich ewig am Telefon gestritten, und irgendwann sind Nils und ich dann abgehauen. In der Stadt war nichts mehr los. Wir haben etwas am Brunnen rumgehangen und sind dann nach Hause gegangen. Na ja, ziemlich daneben,
der Abend. Ich gucke noch ein wenig RTL.

Freitag, 17. Mai 1996

17. Mai

18:00
»Warum warst du gestern nicht beim Training?«
Training? Shit, ich habe natürlich gedacht: Feiertag = Kein Training. So ein Mist. Nils meinte, in Bergbach wird immer trainiert, selbst wenn die Halle einstürzt. Schade, jetzt habe ich einen Tag versäumt, na ja, nicht zu ändern. Jetzt mache ich mich jedenfalls gleich fertig, weil ich mich mit Benjamin treffe. Mal sehen wie es wird.


23:45
So, da bin ich wieder. War echt cool. Wir sind ein bissele in der Stadt rumgelaufen und haben bei Angelos ein Eis gegessen. Benjamin ist irgendwie total witzig, ständig blödelt und albert er rum, und ich muß lachen. Na ja, und außerdem ist er der totale Ringerfreak, noch mehr als Nils. Er meint, er kommt mal vorbei, wenn wir trainieren, und sagt mir dann, was ich besser machen kann. Hinterher wollten wir eigentlich noch ins JuZ gehen, aber da war absolut tote Hose, nur ein paar Ökos. Dann haben wir noch ewig an der Haltestelle gestanden, bis der letzte Bus kam. Blöd, daß Degendorf so relativ weit weg ist und die Busse hier so absolut blöde fahren. Auf jeden Fall habe ich beschlossen, daß ich mich nicht gleich wieder in ihn verknallen werde. Ich warte einfach ab, was passiert.

Donnerstag, 16. Mai 1996

16. Mai

»Ich gehe zum Bund.«
Gerade hat Phil angerufen und mir erzählt, daß er gestern bei der Musterung war. Ich glaube, ich spinne. Ich hab ihn richtig angeschrien. Aber er hat nur gemeint, er hat keinen Bock auf Zivildienst. So ein Idiot! Ich soll Mom und Dad noch nichts davon sagen. Na toll, das wird sowieso ein Riesen-Theater geben. So eine Scheiße!

Gerade mit Doris telefoniert und über Phil gesprochen. Manchmal verstehe ich sie auch nicht. Sie hat nur gesagt »Jeder muß eben seine eigenen Entscheidungen treffen.« Na toll, ganz super. Na ja, vielleicht hat sie auch ein bissele Recht, aber das heißt ja auch noch nicht, daß ich Phils Entscheidung toll finden muß. Nein, bestimmt nicht.

Mittwoch, 15. Mai 1996

15. Mai

»Stell dich nicht so dusselig an!«
Nils hat heute voll schlechte Laune gehabt. Ich weiß gar nicht, wieso. Dabei glaube ich, daß ich gar nicht so schlecht war. Na ja, was soll's ... Heten eben. Dafür geht es mir um so besser, denn gerade hat Benjamin angerufen, und wir haben uns für Freitag verabredet.

Das Buch ist irgendwie seltsam. Es ist teilweise ganz spannend und interessant. Aber dann sind einige Sachen schon wieder ziemlich strange. Abgesehen davon interessieren mich die Stories von irgendwelchen Lesben nun überhaupt nicht. Na ja, aber nette Bilder.

Dienstag, 14. Mai 1996

14. Mai

»Nun mach schon«, stieß mich Doris in die Seite. Wir waren in Stuttgart in einem großen Buchladen gelandet. Ihr Vater hatte uns in der City abgesetzt, und wir bummelten durch die Fußgängerzone. Na, jedenfalls habe ich dieses Buch »Schwul, na und?« gesehen. Eigentlich hatte ich mich gar nicht getraut, es überhaupt zu nehmen und darin zu blättern. Aber ich hab es dann doch getan. Irgendwann kam Doris von hinten an und wollte wissen, was ich denn Spannendes entdeckt habe. Ich zeigte ihr den Titel. Sie fand es o.k.

Es gab dann noch fast eine Szene, weil ich mich nicht getraut habe, damit zur Kasse zu gehen. Irgendwann riß sie mir das Buch aus der Hand und meinte, dann würde sie es eben kaufen. Na ja, das war mir dann doch zu blöd, so wollte ich ja nun auch nicht dastehen. Also stand ich in der Reihe vor der Kasse, und mein Herz klopfte total. Gott sei Dank war es der Kassiererin wohl völlig egal, wer da welches Buch kauft. Nicht auszudenken, wenn es so gewesen wäre wie in diesem Hella-von-Sinnen-Kondom-Sketch. Ich glaube, ich wäre im Boden versunken. Als wir draußen waren, haben wir uns nur angeguckt und mußten wie verrückt loslachen.

Dann haben wir wie blöd einen Laden gesucht, in dem Doris unbedingt einkaufen wollte. Ich fand den Namen »Skurril« für diesen Laden wirklich äußerst passend, was es da für Klamotten gibt, ist ja nun mehr als schräg, aber Doris war voll in ihrem Element. Jetzt werde ich noch ein bissele im Buch lesen.

Montag, 13. Mai 1996

13. Mai

»Willst du morgen mit nach Stuttgart kommen?« hat Doris gefragt. Ihr Vater holt sie wohl nach der Schule ab, und sie fahren nach Stuttgart, weil er was besorgen will. Ich hab ihr gesagt, daß ich es mir noch überlege. Eigentlich ist ja morgen Kraftraum und Training mit Nils angesagt. Andererseits ist es natürlich cool, mal wieder hier rauszukommen.


14:20
Alles o.k., ich treffe mich am Mittwoch mit Nils nach seinem Training. Die Jungs aus der ersten Mannschaft haben öfters Training, Nils redet kann immer von Kadertraining. Ich finde, das klingt total ostig.


20:45
Jubel! Cool, ich habe Florian gepinnt und richtig gut. Yeah, ich bin ja so gut. Und diesmal war es echt, ich glaube, sogar Dimitri war überrascht, obwohl er es nicht so gezeigt hat. Mir geht es richtig gut!

Sonntag, 12. Mai 1996

12. Mai

»Guck mal, Tim, das ist für Mami!«
Ich verstehe nicht, warum kleine Kinder immer so früh wach werden, und das ausgerechnet am Wochenende. Aber diesmal war ich Lisa dankbar. Sie zeigte mir, was sie im Kindergarten zum Muttertag gebastelt haben. Na klar, ich hab das natürlich völlig verschwitzt. Na ja, fast. Nach dem Frühstück sind wir zum Gartenmarkt gedüst, und ich habe Mom einen großen Topf mit Blumen für den Garten gekauft. Das war ziemlich heftig, das Teil den ganzen Weg zurückzuschleppen. Nils würde wahrscheinlich sagen »Gutes Training«, aber ich hab mich hinterher gefühlt, als würden meine Arme abfallen.


16:30
Cool, eben hat Benjamin angerufen und gefragt, ob wir uns irgendwann in der nächsten Woche treffen. Leider wohnt er in Degenhof, und der Bus dahin fährt nur ein paar Mal am Tag. Es ist total bekloppt, auf so einem Dorf zu wohnen. In Hamburg kommt man immer und überall hin, aber hier ist man echt angeschissen, wenn man irgendwo hin will. Ich ertappe mich dabei, wie ich mir überlege, ob er vielleicht schwul sein könnte, aber ich will eigentlich gar nicht daran denken. Aber es ist komisch, irgendwie kommt es mir bei jedem Jungen, den ich niedlich finde, in den Kopf.


23:45
Mom und Dad sind wieder da. Soll wohl anstrengend gewesen sein. Mom hat sich riesig über die Blumen gefreut.

Samstag, 11. Mai 1996

11. Mai

»Tiiiiiiim!«
Mein Gott, was hab ich mir denn da eingehandelt? Um halb sieben stand Lisa in meiner Tür, und das am Samstag! Na ja, also aufgestanden, Frühstück gemacht, ein bissel mit Lisa gespielt und ferngesehen. Gerade hat Nils angerufen und mich daran erinnert, daß heute abend Wettkampf gegen Degenhof ist. Shit, völlig vergessen. Er meint, ich soll Lisa einfach mitbringen. Na ja, mal sehen.


23:20
Oha, fast zu spät zurückgekommen. War ein toller Abend. Unser Verein hat haushoch gewonnen. Obwohl ich nicht mit auf der Matte war, ist es total spannend gewesen. Zum Glück war Lisa beschäftigt und hat mit anderen Kids Pappbechertürme gebaut. Nils meint, wenn wir weiter zusammen trainieren, kann ich in einem Monat mitkämpfen. Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt schon will. Na ja, mal sehen. Auf jeden Fall habe ich einen netten Jungen aus Degenhof kennengelernt. Er heißt Benjamin (pff, noch einer) und hat lustige Augen. Eigentlich gehört er zur Mannschaft, aber weil er sich wohl eine Rippe gebrochen hat, konnte er nicht mitkämpfen. Wir haben lange gequatscht, und es war total komisch, weil jeder von uns immer die anderen Mannschaft angefeuert hat. Jedenfalls haben wir Telefonnummern ausgetauscht. Ich bin gespannt, ob er mal anruft.

Hinterher war ich dann noch mit den anderen Pizza essen. Schließlich ist Lisa irgendwann auf ihrem Stuhl eingeschlafen, und Florians Vater hat uns nach Hause gefahren. Zum Glück, denn gerade, als ich reinkam, klingelte das Telefon. Mom war dran und wollte wissen, ob alles o.k. ist. Na klar. Ächz! Lisa ist im Bett. Mal sehen, was es im TV gibt.

Freitag, 10. Mai 1996

10. Mai

»Und wer paßt derweil auf Lisa auf?«
Dad muß am Wochenende zu einem Seminar nach München, und wir sollen mitkommen. Mom will eine alte Freundin besuchen. Ich hab' gesagt, daß ich absolut keine Lust habe mitzukommen. Na ja, jetzt fahren sie alleine, und Lisa und ich bleiben hier. Das ist zwar auch nicht so toll, weil ich nun das ganze Wochenende auf Lisa aufpassen muß, aber auf München hab ich nun im Augenblick überhaupt keinen Bock.


20:30
So, Mom und Dad sind abgedüst. Lisa ist im Bett, was schwer genug war. Wahrscheinlich dachte sie, daß sie länger aufbleiben kann, wenn Mom und Dad nicht da sind, aber nachdem sie schon fast beim Abendbrot weggenickt ist, habe ich ihr noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen, und nun schläft sie.
Im TV gibt es irgendwie nichts Interessantes. Ich glaube, ich werde ein bissel am Computer spielen.

Donnerstag, 9. Mai 1996

9. Mai

»Respekt, Respekt!«
Und das aus Dimitris Mund, ich glaubte, ich höre nicht richtig. Das Training mit Nils hat wirklich was gebracht, denn ich war richtig gut. Na ja, was heißt richtig gut, wenn ich ehrlich bin, nicht ganz so schlecht wie sonst, aber immerhin habe ich Florian einmal fast gepinnt. »Echt cool«, grinste Nils, als ich von der Matte kam, und es blitzte in seinen Augen. Ich wußte, er hatte niemandem was von unserem Einzeltraining erzählt, und irgendwie ist es ganz ohne Absprache unser kleines Geheimnis.

Mittwoch, 8. Mai 1996

8. Mai

»Das klappt so nicht.«
So ein Mist. Max war hier und hat ein paar Spiele mitgebracht. Wir haben alles mögliche probiert, aber natürlich haben die coolsten irgendwelche bekloppten Kopiersperren. Na ja, wenigstens ein paar Sachen hab ich jetzt. Wir haben dann noch etwas gequatscht und sind dann zu Mc-Donald's getapert. Als wir am Brunnen vorbeikamen, mußten wir beide plötzlich lachen. Ich fragte ihn, ob er nicht noch mal reinspringen wollte, und er tat tatsächlich so. Die Leute haben jedenfalls total schräg geguckt. Dann mußte er unbedingt anfangen, mit der Kassiererin rumzubaggern. Die hat ihn aber total abblitzen lassen. Ich stand nur daneben und war kurz davor loszulachen. Heteros machen sich echt manchmal total zum Horst.

Dienstag, 7. Mai 1996

7. Mai

»Keine Gnade!«
Ächz ... nicht, daß das Training nicht schon anstrengend genug gewesen ist – nein, Nils hat wie versprochen (oder angedroht?) weiter mit mir trainiert und bis zum Gehtnichtmehr zwei Griffe geübt. Oh, bin ich fertig. Ich verstehe gar nicht, wie er das aushält, er war weder außer Atem noch besonders angestrengt. Auf jeden Fall hat es trotzdem tierischen Spaß gemacht. Am Anfang hatte ich irgendwie noch Angst, was passiert, wenn ich so dicht mit ihm zusammen bin. Aber nach ein, zwei Minuten Training hab ich genug damit zu tun gehabt, nicht tot umzufallen. Es ist komisch, obwohl ich nach dem Training immer total fertig bin, geht es mir gleichzeitig richtig cool, fast so, als wenn ich ein paar Bier getrunken habe.

Hinterher sind wir dann noch zu ihm gegangen. Er wohnt gar nicht so weit weg von mir. Seine Mom stand im Flur, weil sie wohl gerade gehen wollte, und entschuldigte sich für die Unordnung. Was sie damit gemeint hat, habe ich eigentlich nicht so richtig verstanden. In diesem Haus war alles super aufgeräumt und ordentlich, nicht so eng, verkramt und dunkel wie bei Tobias. Er lief vor mir die Treppe rauf, und sein T-Shirt rutschte ein Stück nach oben. Seltsam, ich habe ihn schon ein paar mal nackt unter der Dusche gesehen und ihn oft genug beim Ringen gefühlt. Doch plötzlich starrte ich auf dieses Stück nackte Haut, und es wurde noch schlimmer: Nils ließ sich aufs Bett fallen und streckte sich. Ich mußte mich echt zwingen, woanders hinzugucken. Wissen manche Leute eigentlich, was sie mit bestimmten Sachen anrichten? Um mich abzulenken, schaute ich mich in seinem Zimmer um. Ein paar Poster von Nirvana und Oasis, einige eingerahmte Artikel aus den Bergbacher Nachrichten mit Fotos von Nils. An einer Wand ein riesiges Marky Mark Poster. Cool, ich wäre nie auf die Idee gekommen, so was in meinem Zimmer aufzuhängen. Wenn ich solche Muskeln hätte ...

Keine Stühle. Nils hat keinen einzigen Stuhl in seinem Zimmer, komisch. Ich hätte mich natürlich neben ihn aufs Bett setzten (oder legen?) können, aber ich glaube, das hätte ich nicht lange ausgehalten. So was wie mit Tobias wollte ich nicht noch mal erleben. Also wühlte ich in seinen CDs. Dann klingelte das Telefon, und Nils brabbelte eine halbe Ewigkeit mit irgendeinem Mädel. Na, sehr schön. Ich kam mir irgendwie total überflüssig vor, aber es war auch gut so, denn so kam ich gar nicht erst auf verrückte Gedanken. Als er fertig war, schlug er vor, was zu essen. Erst da fiel mir auf, wie spät es eigentlich war. Beim Abschied griff Nils nach meinem Arm, nahm mich in den Schwitzkasten und boxte mir leicht auf die Arme: »Wir machen aus dir schon einen richtigen Ringer«, lachte er.

Montag, 6. Mai 1996

6. Mai

»Morgen nach dem Kraftraum eine Stunde Sondertraining?« fragte Nils nach dem Training.
»Auf jeden Fall!« Ich bin gespannt, wie das wird. Er will Griffe mit mir üben.

Mom hat beim Abendbrot einen tierischen Terz gemacht, weil ich überall an den Armen blaue Flecke habe. Ich hab ihr gesagt, daß das am Anfang ganz normal sei. Sie meinte nur: »Wenn das normal ist, möchte ich nicht wissen, was da noch so alles kommt.« Na ja, und dann kam wieder die alte Leier von wegen ich soll doch was Anständiges machen, bla, bla. Ich bin irgendwann einfach aufgestanden und in mein Zimmer gegangen.
Daraufhin hat Dad auch noch Terz gemacht und meinte so was wie »Hier steht keiner einfach auf und geht.« Ach, was soll’s, ich habe mich einfach wieder entschuldigt, und die Sache war gegessen. Meine Güte, das ist mein Leben und mein Körper. Mom und Dad, wenn ihr wüßtet, was ich damit schon gemacht habe!

Sonntag, 5. Mai 1996

5. Mai

Gar nichts, überhaupt nichts passiert. Kein Wunder: Es regnet.

Samstag, 4. Mai 1996

4. Mai

01:30
»Warum hast du die denn mitgebracht?«
Florian hatte zuerst ziemlich komisch geguckt, als ich mit Doris aufgekreuzt bin. Aber es war dann doch eine richtig witzige Party.
Jedenfalls bis kurz nach zwölf seine Eltern aufkreuzten und meinten, jetzt wäre Schluß. Na ja, wir sind dann noch zum Marktplatz gezogen. Max war ziemlich breit und ist halb in den Brunnen gefallen, jedenfalls war er klitsch-naß ... es war total witzig.


15:45
Cool, wir waren heute in Stuttgart. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich habe HerrTutorial vor Müller gesehen. Dad hat sich einen neuen Computer gekauft. Nächste Woche bekomme ich seinen alten Rechner. Ich muß am Montag gleich mal Max anhauen, der hat jede Menge Spiele.


20:30
Gerade mit Phil telefoniert. Ihm geht es super, und er hat mich von Tassi und den anderen gegrüßt. Mit seinem Mädel ist wohl auch alles o.k. Ich beneide ihn, irgendwie bekommt er alles immer auf die Reihe. Als ich erzählt habe, daß ich jetzt ringe, hat er erst mal einen Lachanfall bekommen. Ich verstehe nicht, was die Leute daran so witzig finden. Er meinte, er kann sich das so überhaupt nicht vorstellen. Na ja, dann eben nicht. Zu Pfingsten kommt er uns besuchen.

Freitag, 3. Mai 1996

3. Mai

19:30
»Ich weiß nicht, ob das so eine tolle Idee ist.«
Ich habe gerade Doris angerufen und gefragt, ob sie mitkommt zu Florians Fete. Ich finde die Idee eigentlich hervorragend und hab sie überredet mitzukommen. Mal sehen, wie es wird.

Donnerstag, 2. Mai 1996

2. Mai

14:30
»Na los, geh' schon rüber!«
Doris stieß mich in die Seite. Tobias stand auf der anderen Seite vom Hof.
»Hi«, sagte ich, »ich hab deinen Zettel bekommen.« Er nickte, sagte aber nichts. »Was ist denn los?«
»Mir geht’s nicht so gut.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich weiß nicht, ob du das überhaupt noch hören willst, du bist in der letzten Zeit so komisch.«
Ach ja? Ich bin komisch, meint er. Na toll. Aber ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu streiten, außerdem ahnte ich was. »Komm, lassen wir Englisch ausfallen und gehen ein Stück raus.« Wir waren schon halb im Park, als er endlich anfing zu reden: »Meike und ich sind nicht mehr zusammen.« Wow, irgendwie hatte ich so was schon geahnt. Ich muß zugeben, daß ich mich sogar einige Sekunden lang darüber gefreut habe. Ich guckte ihn an und sah, wie traurig er aussah. Ich hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und getröstet, so wie Doris mich gestern. Doch ich traute es mich nicht. Statt dessen ließ ich ihn einfach erzählen und fragte nur zwischendurch mal etwas. Jedenfalls hat diese Ziege sich von ihm getrennt. Und ich hasse sie eigentlich noch mehr dafür, weil sie ihm so weh getan hat. Eigentlich müßte ich mich doch tatsächlich freuen, daß sie nicht mehr an ihm dran hängt. Doch irgendwie ist er plötzlich ein Stück weiter weg. Ich gucke ihn an, und mein Herz klopft immer noch. Ich möchte ihn immer noch in den Arm nehmen, ja, und dann? Und ich merke, mein Verstand kommt langsam wieder zurück. Tobias ist nicht schwul, und ich werde ihn nie bekommen.
»Warum bist du in der letzten Zeit so komisch gewesen?« fragte er plötzlich. Ich habe ihm irgendwas von Problemen zu Hause erzählt. Er nickte nur. Dann schwiegen wir beide. Ich wußte nicht mehr, über was ich mit ihm reden sollte. Erst, als wir wieder an der Schule waren, sagte er: »Danke, daß du mir zugehört hast.«
Englisch war gerade vorbei, und Doris guckte mich mit großen Augen an. Ich habe ihr nichts erzählt, ich habe ihr nur gesagt, daß zwischen Tobias und mir wieder alles klar ist.


21:45
Training wird immer besser. Dimitri holt mich immer öfter von den Anfängern zu den anderen. Meine Probekämpfe mit Florian dauern inzwischen wenigstens ein bißchen länger.
Ich liege und denke an Tobias. Lasse jeden Moment noch mal ablaufen. Jedes Wort, das er gesagt hat. Warum denke ich immer noch an ihn? Ich weiß, daß ich ihn nicht bekommen werde. Wenn er doch aber so niedlich ist.
Mist, ich rufe Doris an.


23:20
Ewig mit Doris gequatscht. Es tut gut, mit jemandem darüber zu reden. Doris meint, das geht vorbei. Was soll sie auch anderes sagen. Ich werde versuchen zu schlafen.

Mittwoch, 1. Mai 1996

1. Mai

11:10
»Was machen wir eigentlich dieses Jahr im Urlaub?«
Oh Shit! Diese Frage hatte ich früher oder später erwartet. Und natürlich ging die Diskussion vom letzten Jahr wieder los. O.k., ich gebe zu, ich wüßte nicht, mit wem ich hier aus der Schule überhaupt in die Ferien fahren würde. Mom und Dad versprachen, es wäre das letzte Jahr, in dem ich mit ihnen mitfahren »muß«. Na, ich bin ja mal gespannt, ob sie sich daran im nächsten Jahr noch erinnern. Dad hat vorgeschlagen, nach Italien zu fahren, in das Haus eines ehemaligen Kollegen aus Hamburg. Da niemand einen anderen Vorschlag machte, wird es wohl also Italien sein, irgend ein kleiner Ort, von dem ich den Namen schon wieder vergessen habe, südlich von Venedig. Na ja, wenn’s sein muß.


23:15
Ich weiß nicht, ob es gut ist oder schlecht. Ich weiß eigentlich gar nichts im Moment. Irgendwie bin ich erleichtert, aber irgendwie hab ich auch tierischen Schiß. Es war am Anfang eigentlich mit Doris wie immer. Wir quatschten über die Schule, die Leute. Irgendwann platzte sie dann heraus: »Sag mal, was läuft eigentlich zwischen dir und Tobi?«
»Wieso? Was soll da laufen? Er nervt mich einfach nur tierisch im Moment.«
»Weil er mit Meike zusammen ist, stimmt's?«
In mir läuteten alle Alarmglocken. Ich versuchte, eine witzige oder wenigstens kluge Antwort zu geben, doch ich konnte nicht mehr klar denken, und so stotterte ich nur irgendwas wie: »Nein, wieso, was hat denn das mit ihr zu tun?«
»Ach komm Tim, wir kennen uns zwar noch nicht so lange, aber ich bin nicht blind. Ich sehe doch was mit dir los ist.«
»Wieso, was ist los?« Shit, warum habe ich das Gespräch nicht einfach an dieser Stelle abgebrochen? Doris Stimme blieb ruhig, fast sanft: »Ich glaube, du bist in Tobias verknallt, Tim. Und ich glaube, du bist schwul.«
In mir drehte sich alles. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoß. Mir wurde schwindelig, und ich konnte nicht mehr klar denken: »So ein Blödsinn«, mehr brachte ich nicht heraus. Doch Doris sprach weiter: »Ich wußte es in dem Augenblick, als ihr zusammen bei mir auf der Party gewesen seid. So wie ihr zusammengesessen habt, so wie du ihn angeguckt hast.«
Ich weiß nicht, wieso, vielleicht war es die Erinnerung an diesen Abend, ich habe plötzlich angefangen zu heulen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal, während jemand dabei war, geheult habe. Ich konnte irgendwie gar nicht mehr aufhören.
Doris nahm mich in den Arm, und ich habe alles rausgelassen, ihr alles erzählt. Wie sehr ich mich in Tobi, meinen Tobi verliebt habe oder vielleicht auch noch bin. Wie weh es tut, ihn zusammen mit dieser Ziege zu sehen. Wie alleine ich mich so oft fühle.
»Vielleicht hast du dir zum Start einfach den falschen Jungen ausgesucht«, meinte sie.
»Wen hätte ich mir denn aussuchen sollen?« Überhaupt, was heißt den aussuchen? Das ist ja leider nicht so wie im Kaufhaus, wo man hingeht und sich einen Typen aussucht. Wenn es einen erwischt, kann man nicht dagegen machen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ehrlich gesagt, bist du erst der zweite Schwule, den ich in meinem Leben treffe. Und ich glaube nicht, daß du den ersten kennenlernen willst, das ist nämlich mein Onkel, und der wohnt in Karlsruhe.«
»Und Tobias?« fragte ich.
»Ich glaube nicht, daß er schwul ist. Er ist verklemmt, ein bissele schüchtern, aber bestimmt nicht schwul.«
Für eine Sekunde habe ich gehofft sie würde sagen: ›Ja, er ist auch schwul‹, oder wenigstens jemand anderes aus der Klasse. Ich habe ihr erzählt, daß Tobi mir diesen Zettel geschrieben hat und daß er mit mir reden möchte. Doris meint, ich soll mit ihm reden, ihm aber nichts von meinem Schwulsein erzählen.
»Ich kann ihn nicht einschätzen«, sagte sie, »aber ich weiß, wie die anderen hier reagieren würden.«
»Du mußt mir versprechen, niemandem etwas zu erzählen.« In dem Moment, als ich das gesagt hatte, war mir klar, wie dumm das klingen mußte. Doch ich war beruhigt, als sie meinte: »Großes Ehrenwort.«
Wir haben noch ewig weitergeredet. Darüber, wie ich es zum ersten Mal selber gemerkt habe, wie es ist, andere Jungs nur für ein paar kurze Minuten zu haben. Als ich mich irgendwann verabschiedete, meinte sie: »Ich bin mir sicher, daß du jemanden finden wirst. Du darfst nur nicht krampfhaft danach suchen. Und bis dahin kannst du jederzeit zu mir kommen, wenn du mit jemandem reden willst.«
Auf dem Weg hierher ist meine Stimmung ständig hin und her geschwankt, irgendwas zwischen Erleichterung und panischer Angst. Jetzt, wo ich das hier schreibe, denke ich aber, daß es so, wie es ist, gut ist. Ich habe jetzt jedenfalls jemanden, mit dem ich reden kann, auch wenn es nur ein Mädchen ist.