Freitag, 14. Juni 1996

14. Juni

»Das ist eine Riesenschweinerei so was«, tobte Alfinger, als wir heute zum Sport kamen. Erst wußte keiner so richtig, was los war. Aber innerhalb von zwei Stunden wußte die ganze Schule, was passiert war. Alfinger hatte, kurz bevor wir Sport hatten, zwei Jungs erwischt, die zusammen unter der Dusche gewichst haben. Es gab wohl einen Riesenterz so mit Direktor und allem Blabla. Na toll, das schien sich ja richtig zur Wir-machen-mal-die-Schwulen-fertig-Woche zu entwickeln. Natürlich gab es jede Menge dummer Sprüche von den anderen, auch von Nils, was mich ziemlich ankotzt. Und als Krönung ging keiner nach der Stunde unter die Dusche.

Das wirklich Spannende an der Sache war, daß niemand wußte, wer die beiden denn nun eigentlich waren. Absolute Nachrichtensperre. Ich guckte in der Pause auf die Stundenpläne. Aber das brachte mich auch nicht weiter, zwei Neunte hatten vor uns Sport, also war es wohl einer von denen. Aber wer? Ansonsten wurde das Thema absolut totgeschwiegen. Zwar wußte jeder Bescheid, was passiert war, aber niemand redete mit dem anderen darüber. Ich fragte Doris nach der Schule, was sie glaubt, was mit den beiden passiert, aber sie sagte nur: »Wahrscheinlich nichts, man wird mit ihren Eltern reden, aber mehr auch nicht. Das will doch keiner hier an die große Glocke hängen.«

Wahrscheinlich hat sie recht. Shit, wie fühlen sich die beiden jetzt bloß? Ich glaube, ich würde sterben, würde mir eine andere Schule suchen, weit, weit weg, hinter den sieben Bergen, bei den sieben Zwergen.

Oh, Telefon. Na toll, diese Stefanie von Benjis Vereinsfest hat gerade angerufen. Und ich Idiot verabrede mich auch noch morgen mit ihr in der Tofa. Vielleicht sollte ich sie noch mal anrufen und absagen. Aber das sieht dann auch absolut blöd aus. Na gut, dann also morgen wieder eine Runde Dorfdisco. Und dann noch mit einem Mädel.

1 Kommentar:

  1. Huch,

    bis hierhin gelesen und mir fällt nur noch ein:

    Was für eine durch und durch kranke und gewalttätige Gesellschaft, die Kindern von kleinauf ihr Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung raubt, sie zwangsheterosexualisiert und in erheblichem Maße pathologisiert.

    Da hat sich leider seit 1996 nichts Wesentliches verbessert, sondern eher legen zahlreiche empirische Studien nahe, dass homophobe Einstellungen unter männlichen Jugendlichen sogar noch deutlich zugenommen haben.

    Weiterhin wird jedem Menschen vom ersten Atemzug an Heterosexualität unterstellt und faktisch aufgeherrscht. Und das, obwohl nicht erst seit Kinsey wieder bekannt sein sollte, dass die Mehrheit, nicht die Minderheit, der Menschen homosexuelle Gefühle haben. Interpretiert man die Ergebnisse Kinseys im Kontext der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse, liegt es auf der Hand, dass der Anteil homosexueller Menschen noch weitaus höher liegt als die vielzitierten 5% bis 10%. Weitaus höher!

    Wenn ich dieses Tagebuch lese, wundert es mich auch in keiner Weise, dass homosexuelle Jugendliche weiterhin - empirisch klar belegt und sogar von der deutschen Bundesregierung 2006 eingeräumt (ohne allerdings irgendeinen Handlungsbedarf zu sehen!) - einem viermal höheren Suizidrisiko ausgesetzt sind.

    Während in Ländern wie Großbritannien inzwischen ErzieherInnen in den Kindergärten und SchuleiterInnen und LehrerInnen in den Schulen dazu verpflichtet sind, JEDEN Akt der homophoben Gewalt, v.a. auch in der Kommunikation, in einem "Hassregister" zu erfassen, aktiv dagegen vorzugehen und hierüber Rechenschaft abzulegen, tut sich im deutschen Erziehungs- und Bildungswesen weiterhin nichts.

    Nur in wenigen Bundesländern kommt Homosexualität als verpflichtendes Unterrichtsthema in den Lehrplänen vor - von einer umfassenden Mainstreaming (und nur dieses wäre wirklich sinnvoll - nicht eine weitere Aussonderung und Ausgrenzung als "Sonderthema") von Themen sexueller Vielfalt und sexueller Gleichberechtigung ganz zu schweigen!

    Es ist ein Skandal, dass in diesem Lande mit dieser unserer beispiellosen Geschichte der Verfolgung, Unterdrückung und teilweise sogar gezielten Ermordung Homosexueller weiterhin eine völlige Straflosigkeit vor allem der ganz alltäglichen Hassrede und -verbreitung herrscht. Auch hier haben anderen EU-Ländern bereits explizite gesetzliche Maßnahmen ergriffen, die auch zunehmend rigoros angewendet werden (siehe u.a. die Verhaftung religiöser Hassprediger in Großbritannien).

    Es liegt an uns, den Betroffenen, endlich wieder wegzukommen von der verfehlten Schiene zwanghaften Hetero-Imitierens, auf das sich die Überreste der Homo-Bewegung in den letzten 20 Jahren weitgehend beschränkt haben (siehe "Homo-Ehe" als angeblich heiliger Gral der "Gleichberechtigung) und hin zu emanzipatorischen Ansätzen, die eine wahrhaftige sexuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung von kleinauf verfolgen!

    Nicht ein bloßes, möglichst angepasstes und geräuschloses Einordnen in die heteronormative Dominanzgesellschaft!

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