Montag, 10. Juni 1996

10. Juni

»Los, in die Mitte!«
Dimitris Finger zeigte auf den inneren Mattenkreis. Na toll, wieder so ein Showkampf. »Nils!« Shit, warum denn schon wieder Nils? Hätte er nicht irgend jemanden anderes nehmen können, Florian zum Beispiel. Wahrscheinlich wäre mir sogar dieser Schwergewichtsidiot Silvio lieber gewesen als Nils. Aber nein, Dimitri war unerbittlich. Ich versuchte, mir alles noch mal ins Gedächtnis zurückzuholen, was er mal gesagt hatte: Nicht in die Augen gucken, keine Angst zeigen. Ich versuchte es. Nur wie soll ich beobachten, was jemand macht, wenn ich ihn nicht richtig angucken kann? Jedenfalls schaffte ich es, unter Nils durchzutauchen und ihn von hinten auszuheben und auf die Matte zu befördern. Plötzlich war ich voll in meinem Element und ließ mich mit meinem ganzen Gewicht auf ihn rauffallen. Ich hörte, wie er schwer pustete, aber es war mir egal. Ich dachte nur: Ich krieg' dich, diesmal kriege ich dich und setze einen Seiteneinsteiger an. Ich hatte ihn fast auf den Schultern. Dummerweise lag mein eigener Arm im Weg, und als ich versuchte, ihn rauszuziehen, konterte Nils, umklammerte mich so fest, daß mir die Luft wegblieb und drehte mich wie ein Baby auf den Rücken.

»Nicht schlecht«, schnalzte Dimitri, aber mir war nicht so ganz klar, ob er damit Nils oder mich meinte. Nils grinste. »Du bist richtig gut geworden«, meinte er später in der Umkleide.
»Danke, ich hab auch einen guten Privattrainer.«
»Morgen wieder?!« Es war eher ein Befehl als eine Frage.
»Yo!«
»In zwei Monaten hab ich dich soweit, daß du deinen ersten Wettkampf machen kannst.«
»Ich weiß gar nicht, ob ich das überhaupt schon will.«
Nils hörte auf zu grinsen: »Paß mal auf ...!« Er zog mich am T-Shirt aus der Umkleide zurück in die Halle und schleuderte mich gegen die Wand: »Was glaubst du eigentlich, wofür du hier bist, hä?« Ich war so verdattert über seinen Gefühlsausbruch, daß ich mich überhaupt nicht wehren konnte.
»Du wirst in der Mannschaft ringen, und wenn es nur die Zweite ist. Aber ich krieg' dich schon dahin, und wenn ich es in dich reinprügeln muß.« Was war denn nun wieder mit ihm los? Und dann sagte er noch etwas ganz komisches: »Wenn du dich nur mit anderen Jungs auf dem Boden rumwälzen willst, dann such' dir was anderes, aber nicht diesen Verein hier!« Damit ließ er mich stehen und stapfte zurück in die Umkleide. Ich klebte immer noch an der Wand und überlegte, was er mit dem letzten Satz gemeint hatte. Oh Shit, weiß er irgendwas? Hat er irgendwas mitbekommen? Als ich zurück in die Umkleide kam, war er wieder ganz der alte: »Na? Wieder alles o.k. mit dir?«
Eigentlich hätte ich jetzt auf total sauer machen müssen, aber es ging einfach nicht, also sagte ich so was wie: »Ja, vielleicht hast du ja recht.«
»Ich habe immer recht«, grinste er.

Verdammt, was hat er mit seinem Satz bloß gemeint? Am liebsten würde ich ihn anrufen und fragen. Aber das würde absolut bekloppt aussehen. Shit, weiß er etwa, daß ich schwul bin? Aber woher sollte er es wissen? Vielleicht muß ich in Zukunft mehr aufpassen, was ich sage und wohin ich gucke.

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