Dienstag, 29. Oktober 1996

29. Oktober

"Was erwartest du denn? Soll ich dich vielleicht vor allen Leuten abknutschen?" Nils' Ausbruch erwischte mich eiskalt. Ich hatte ihn eigentlich nur gefragt, warum er beim Training so komisch war und so getan hat, als wenn wir uns nicht kennen.
"Du sollst mich doch nicht abknutschen, darum geht es doch nicht, aber...naja, wenn du so tust, als wenn wir uns nicht kennen. Das ist schon komisch."
Er blickte betroffen zu Boden. Zum allerersten Mal, sah ich, daß Nils etwas einzusehen schien. "Wir müssen einfach nur aufpassen", flüsterte er. Ich nahm ihn in den Arm. Er drückte mich und ich schrie auf vor Schmerz. "Mein Gott, ist es so schlimm?"
"Ach nein, es geht schon." Ich spielte den Tapferen. Aber er drückte mich sanft aufs Bett und zog mein Sweatshirt hoch. "Also zu sehen ist nichts." Dann tastete er sanft meine Rippen ab, bis er schließlich die Stelle erreichte, an der es am meisten wehtat. Ich zuckte. "Naja, ich glaube, daß das nur eine Prellung ist." Er küßte mich sanft an der Stelle. Dann schmiegte er sich dicht an mich und flüsterte mir ins Ohr: "Es tut mir leid, daß ich gestern beim Training so komisch war. Aber ich habe einfach Angst daß jemand etwas merkt." Shit, ich kann ihn so gut verstehen. "Es ist schon ok. Du hast ja recht, wenn das hier irgend jemand mitbekommt, daß wir schwul sind, dann Gute Nacht." Er starrte mich an: "Wie du das sagst."
"Was?"
"Du meinst, du bist schwul?"
Ich war verwirrt: "Ja doch, du doch auch, oder was?"
"Ja, nein, ich weiß nicht."
In meinem Kopf begann es sich zu drehen: "Wie? Du weißt es nicht?"
"Mein Gott, ich habe noch nie darüber nachgedacht."
"Wie, was heißt das?"
"Ich meine, naja, heißt das denn gleich, daß man schwul ist, wenn man, wenn man...", er stotterte und ich merkte, wie ich langsam sauer wurde. "Heißt das etwa, daß du dir doch nie darüber Gedanken gemacht hast, WAS du bist? WIE du bist?"
"Doch schon, aber ich denke, das geht vielleicht auch einfach mal vorbei."
"WAS?! Na schönen Dank auch!" schrie ich ihn an. Er zuckte zusammen und ich sah zum allerersten Mal so etwas wie Angst in seinem Gesicht: "Es ist halt einfach nur, es ist so, so neu, es ist alles so neu." Ich blickte ihm in die Augen. Und er schaute zurück. Und ich versank, versank wieder in den Tiefen seiner Augen. Er küßte mich: "Es tut mir leid. Wirklich. Ich habe es nicht so gemeint. Ich hab dich doch wirklich lieb. Und ich will, daß wir zusammenbleiben." Auf einmal schien er mir wie ein kleines Kind, das man trösten muß. Ich nahme seinen Kopf in meine Hände und küßte ihn auf die Stirn: "Ich hab' dich auch lieb." Wenn ich das jetzt so schreibe, dann kommt es mir so kitschig vor. Aber verdammt noch mal, ich liebe ihn wirklich. Jedesmal wenn ich ihn sehe, wenn ich nur an ihn denke, wir mir total heiß.
Wir schliefen in dieser Nacht nicht miteinander. Wir lagen einfach nur da, Arm in Arm und waren glücklich.

Es wurde gerade hell, als ich aufwachte. Ich sah zu Nils wie er friedlich in seinem Bett lag. Das ist mein Junge, dachte ich. Mein Junge, den ich liebe. Und ich bin glücklich. Ich schaute mich in seinem Zimmer um und nahm jedes Detail in mich auf. Ich bemerkte Dinge, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Pokale und Medaillen, ein paar Modell-Lokomotiven, die kleine Sammlung exotischer Cola-Büchsen. Wie, wie nur um alles in der Welt wird es jetzt weitergehen? Werden wir uns weiter verstecken und nur heimlich zusammen sein können. Shit, ich weiß es nicht und wenn ich ehrlich bin, will ich mir im Moment auch keine Gedanken darüber machen. Doch spätestens als ich nach Hause kam, mußte ich mir Gedanken darüber machen. Irgendwann war Nils aufgewacht und wir haben den halben Kühlschrank leer gefrühstückt. Dann mußte ich mich schweren Herzens nach Hause aufmachen. Shit, naja ich wußte, daß Mom heute frei hat. Und dementsprechend nerviges Gerede gab es auch: "Warum hast du nicht Bescheid gesagt, daß du die Nacht über bei deiner Freundin wegbleibst." Rumms, na toll. Am liebsten hätte ich ihr entgegengeschrien, nix von wegen Freundin. Aber ich hielt meinen Mund. Wieso kommt sie überhaupt auf die Idee, daß ich eine Freundin habe? Ich meinte nur, daß es ja wohl nicht so toll ist, wenn ich nachts um Eins zu Hause anrufe und daß ich schließlich Ferien habe. Naja, Mom war jedenfalls den ganzen Tag über sauer. Aber wenn ich ehrlich bin ist es mir ziemlich egal.

Obwohl mir meine rechte Seite immer noch tierisch wehtut, bin ich doch zum Krafttraining gegangen. Aber ich konnte nicht viel machen, nur ein bißchen Beinarbeit. Nils war traurig, daß ich nicht wieder mit zu ihm gekommen bin, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich heute Nacht zu Hause schlafe. Ein langer Kuß voller Angst in einer Toreinfahrt. Schlaf schön, mein Nils. Bis morgen.

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