Sonntag, 27. Oktober 1996

27. Oktober

"Ich glaube, du hättest es mir gar nicht sagen brauchen. Wenn man dich so anguckt, dann sieht man es sofort."
Doris und ich blickten aus dem hinteren Ende des Zuges und sahen wie die Schienen sich in der Ferne trafen.
"Was sieht man? Daß ich schwul bin?"
"Daß du verliebt bist, mein Lieber."
"Das sieht man? Woran?"
"Du strahlst so. Du strahlst, als wenn du eine Woche in 'nem Atomkraftwerk zugebracht hast. Nee, aber im Ernst, ich kann es gar nicht genau sagen. Aber ich sehe jedenfalls, daß du glücklich bist."
Ich nickte.
"Bist du dir sicher, daß er wirklich auch schwul ist?"
"Was soll denn diese Frage?"
"Naja, hat er es dir gesagt?"
"Meine Güte, sowas muß man doch nicht sagen. Das merkt man."
"Das merkt man? Nun ja, da hättest du mir vor einer Woche aber noch ganz was anderes zu Nils erzählt."
"Nein, ich meine, wir haben, nun ja, wir haben es miteinander gemacht." Shit, kam ich mir blöd vor. Doris schaute mich verdattert an. "Du bist aber ein ganz Schneller."
"Hey, was willst du, es ist eben passiert. Es ist passiert, weil wir beide es wollten. Und ich glaube, dabei merkt man doch ganz genau, ob jemand schwul ist oder nicht."
"Nun ja, wenn du meinst. Ich kenne mich da nicht so aus."
Ich mußte lachen: "Ich auch nicht." Dann wurde ich wieder ernst: "Es ist halt nur Scheiße, daß wir so höllisch aufpassen müssen, daß uns niemand so sieht. Das ist auch ein komisches Gefühl. Weil ich habe immer den Einruck daß uns alle Leute beobachten. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr richtig, wie wir miteinander umgehen sollen, wenn andere dabei sind."
"Ihr habt Probleme. Genieße es doch einfach."
"Ich genieße es doch auch, ach mir geht es einfach nur gut."
Sie lächelte. Es geht mir wirklich gut. Ich habe einen Freund, ich habe Nils. Ich habe endlich einen Jungen, den ich liebe und der mich auch liebt. Scheiß drauf, daß wir es nicht zeigen können, wenn andere dabei sind. Wir haben uns. Und das ist alles was ich brauche!

Wieder zu Hause in Bergbach. Mein Zimmer erscheint mir so groß und hoch. Post von Phil und Mattteo. An meiner Tür ein Bild von Lisa mit Häusern, Bäumen und einer lachenden Sonne. Mom meint, die Fahrt hätte mir gut getan, ich würde so erholt aussehen und wäre nicht mehr so mürrisch. Mürrisch? War ich mal mürrisch. Na gut, wenn sie meint. Kurz bevor ich ins Bett gehe noch ein Anruf von Nils. Wir konnten uns auf dem Bahnhof nur einen kurzen Blick zum Abschied zu werfen. Wir sehen uns morgen Vormittag bei ihm. Ich bin sicher, daß ich träumen werde. Träumen von Nils.

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