Freitag, 4. Oktober 1996

4. Oktober

"Ich habe überhaupt keine Lust, auf diese Fahrt." Ich guckte Doris entgeistert an: "Wieso denn nicht?"
"Es ist bestimmt total kalt und windig und total versnobt."
"Warst du etwa schon mal da?"
"Nein."
"Na also, was meckerst du denn da? Du sagst doch selber immer, daß man sich sein eigenes Bild machen soll."
"Ich sage immer, daß frau sich ein eigenes Bild machen soll", grinste sie. "Ja, ja, jetzt geht das wieder los."
Wir taperten durch die Stadt und wollten eigentlich einkaufen. Doch wir fanden nichts Interessantes. Also setzten wir uns schließlich ins Tofa-Café und philosophierten wieder mal rum. "Und außerdem", nahm ich das Gespräch wieder auf, "außerdem habe ich immerhin da zum ersten Mal mit einem Typen rumgemacht?"
"Und wie ist es dazu gekommen?"
Ich erzählte ihr die Geschichte von dem Typen, den ich bei meinen Streifzügen durch die Dünen getroffen hatte. "Wie? Hattet ihr denn keine Angst, erwischt zu werden?"
"Ich glaube in dem Augenblick nicht. Erst viel später hinterher kam ich auf die Idee, daß ja jemand hätte vorbeikommen können."
"Aber du wußtest doch schon vorher, daß du schwul bist oder?"
"Naja, eigentlich schon. Ich meine, ich habe es irgendwie geahnt oder vermutet. Aber ich habe es eigentlich immer wieder weggeschoben. Wenn der Gedanke kam, dan habe ich mich immer damit getröstet, daß ich gesagt habe, das geht vorbei. Ich habe damals nie richtig darüber nachgedacht."
"Aber ist es dir denn nicht aufgefallen?"
"Was?"
"Na daß du eben anders bist."
"Ach, was verstehst du denn unter 'anders sein'"?
"Ich weiß auch nicht so recht. Ich meine, du mußt doch irgendwann gemerkt haben, daß du auf Typen stehst."
"Ja, aber das ist irgendwie schon ewig so?"
"Du meinst schon immer?"
"Na ob schon immer weiß ich nicht. Aber wenn ich so überlege. Pff, ich weiß nicht, aber eigentlich habe ich mich immer eher für andere Jungs interessiert. Wenigstens körperlich."
"Das stelle ich mir aber total schockierend vor, wenn man das merkt."
"Das merkst du doch nicht von einer Sekunde auf die andere. Das geht so Stück für Stück, ganz unbemerkt und allmählich. Naja und wenn man sich dann zum ersten Mal die Frage stellt, dann schiebt man das einfach wieder beiseite. Das Blöde ist nur, es kommt immer wieder."
"Und du meinst wirklich nicht, daß das nur so eine Phase ist?"
"Eine Phase?" ich wurde laut. Doris gab mir ein Zeichen, daß ich doch bitte leiser reden sollte. "Eine Phase ist das ganz sicher nicht. Was soll denn das für eine Phase sein? Eine Phase, die schon zig Jahre geht? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich meine, wenn du fast an nichts anderes mehr denken kannst als an Jungs. Wenn du fast bei jedem, der dir über den Weg läuft, durch den Kopf schießt: 'Ist der vielleicht auch schwul?' Wenn du nachts davon träumst, wie es ist, mit einem Jungen im Arm einzuschlafen. Denkst du das ist nur eine Phase?"
Ich hatte mich richtig aufgeregt. Doris seufzte: "Nein, ich glaube nicht. Es ist nur, es ist halt nur so schwer zu verstehen."
"Was ist denn um Gottes Willen daran so schwer zu verstehen? Ich meine gerade du als Mädel mußt es doch eigentlich wunderbar verstehen können, warum jemand auf Typen abfährt." Ich weiß gar nicht woher ich dieses Argument hatte, mir war es gerade so eingefallen und ich finde es immer noch richtig gut. Doris offenbar auch, denn sie prustete los: "Naja, wenn du es so siehst. Eigentlich hast du Recht." Wir grinsten uns an. Ich habe den Einruck, daß wir irgendwie eine verschworene Gemeinschaft sind und das tut mir gut. Als wir uns verabschiedeten, drückte ich sie ganz doll. Es ist schön, daß es sie gibt.

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