Sonntag, 30. März 1997

30. März

"Meine Güte, das ist ja ein richtiges Verhör."
Robert lachte und holte Luft. Ich saß im Café in Stuttgart und mir gegenüber Robert. Der hatte mich nach einer ganzen Weile angesprochen, nachdem ich mich mit den drei verfügbaren Kuchensorten vollgestopft hatte und reichlich lustlos im Spiegel blätterte. Irgendwann kam er einfach an meinen Tisch und fragte mich, ob ich Lust hätte, mich zu unterhalten. Ich war erst mal ziemlich verwirrt, daß mich jemand so direkt anspricht, aber auf der anderen Seite war ich auch dankbar, jemanden zum quatschen zu haben. Also setzte er sich an meinen Tisch und er fragte erst mal, woher ich so komme und was ich mache. Er sieht ja insgesamt ziemlich uninteressant aus, auch wieder jemand aus der "Ich-sehe-Scheiße-aus-und-bin-auch-noch-stolz-drauf-Fraktion" aber man konnte sich wirklich ganz nett mit ihm unterhalten. Und ich habe ihn alles Mögliche und Unmögliche gefragt. Er ist 24 und "geoutet" so wie er es nennt. Das heißt alle seine Freunde und Bekannte und seine gesamte Family weiß daß er schwul ist. "Am Anfang war es schon komisch, den Leuten das zu sagen", meinte er, "aber inzwischen ist es für mich selbstverständlich. Naja, und die Leute, die damit ein Problem haben, daß ich schwul bin, die habe ich eben abgeschrieben. Solche Freunde brauche ich nicht."
Das beeindruckte mich schon in dem Moment, als er das so sagte. Aber jetzt, wo ich genauer darüber nachdenke, dann hat er es ja auch ziemlich leicht. Die meisten Leute hatten wohl sowieso kein Problem damit und er kennt eben genügend Menschen. Wenn ich mir aber das für mich überlege, dann wäre das ja die absolute Katastrophe wenn ich mit allen Leuten in meiner Schule und im Verein den Kontakt abbrechen müßte. Na ok, er studiert und hat eine eigene Wohnung, also da ist es sowieso viel einfacher, weil er von niemandem abhängig ist.
"Ich gehe eigentlich nicht viel in die Szene", meinte er. "Die Szene, also alle möglichen schwulen Läden, Cafés, Bars, Diskos, Clubs."
"Wieso nicht?" wollte ich wissen.
"Das ist mir zu oberflächlich. Außerdem ist da eh nur Fleischbeschau angesagt."
"Wieso denn zu oberflächlich?"
Er seufzte und zuckte mit den Schultern. Ok, wenn man so aussieht wie er, dann kann ich verstehen, daß er nicht in irgendwelche Clubs geht. Aber ich hätte es schon praktisch gefunden, wenn er mir noch ein paar Tips gegeben hätte, wohin man als Schwuler so gehen kann. Aber außer dem Tip mit der schwulen Jugendgruppe und irgendwelchen Treffs im Stuttgarter Stadtpark hat er mir nicht sonderlich viel sagen können. Überhaupt gibt es einige ganz komische Begriffe und Rituale. Also das gehen schwule Typen nachts in den Stadtpark, um mit anderen Sex zu haben. Das nennt sich dann Cruising und ist, so wie Robert sagte: "Total geil."
Mir lag ja auf der Zunge, ihn zu fragen, ob er das nicht total oberflächlich findet, so einfach, um ihn zu provozieren. Aber das habe ich dann doch lieber nicht gemacht. Aber ich finde das total abartig und unpraktisch. Wieso soll ich nachts in den Park gehen und in irgendeinem Gebüsch Sex haben? Nein, ich will kuscheln und einfach alles in Ruhe genießen und nicht so was...das ist doch total daneben. "Wie lernst du denn sonst Leute kennen, ich meine aber nicht im Stadtpark", wollte ich wissen.
"Einfach so, in der Uni oder eben durch Bekannte und Freunde. Es ist ja einfach so, daß je größer dein Bekanntenkreis ist, desto mehr Leute kennst du auch."
"Naja aber die sind noch nicht alle schwul."
"Oh doch, bei mir die meisten schon."
"Hast du einen Freund?" wollte ich wissen.
"Nein, wir haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Hast du einen?"
"Ja!"
"Oha!" Ich sah das Erstaunen in seinem Blick. "Mit 16 oder 17 schon einen Freund? Hier in Schwaben? Das ist schon eine echte Leistung."
"Ich bin auch total glücklich."
"Halte ihn fest, aber nicht zu fest", sagte er fast verschwörerisch und kam näher. Er flüsterte: "Laß ihm Luft zum Atmen, aber sei für ihn da, wenn er dich braucht. Und setze nicht nur deinen Kopf durch."
Der letzte Satz verwirrte mich: "Was meinst du damit?"
"Nun, ich habe den Eindruck, daß du so ziemlich DEIN Ding durchziehst, was du willst. Du setzt deinen Kopf durch und fertig. Ich wette du bist ein Einzelkind."
"Falsch gewettet. Ich habe einen Bruder und eine Schwester."
"Oha!"
Ich liebe es, Leute zu überraschen.
"Aber ich denke, du weißt, was ich meine."
"Ich denke schon, aber ich bin nicht so", sagte ich. Verdammt, was hatte er gemacht? Jetzt sitze ich hier und mache mir Gedanken darüber, ob ich meinen Kopf immer durchsetze oder nicht. Ich beschließe, daß er mich gar nicht so kennen kann und daß das bestimmt so eine typische Floskel war.
"Wie war denn das, als du mit deinem damaligen Freund zusammengezogen bist?" wollte ich wissen.
"Oh, das war einfach toll. Wir hatten jede Menge Zeit füreinander."
"Und die anderen Leute haben keine Probleme damit gehabt?"
"Welche anderen Leute? Die im Haus? Nein, da wohnen bei uns ja sowieso alles Studenten und so. Da hat keiner ein Problem damit."
Ich gebe zu, in einem studentenverwalteten Haus zu wohnen, finde ich nicht besonders spannend.
"Aber wie war das, bevor du dahin gezogen bist, ich meine, hast du deinen Freund dann mit nach Hause gebracht?"
"Nein, als ich noch zu Hause gewohnt habe, wußte ich zwar, daß ich schwul bin aber ich hatte keinen Freund."
"Wie denn das? Wie hast du dann gewußt, daß du schwul bist?"
"Muß ich dir das echt erklären?"
"Nein, nicht wirklich. Aber ich meine, wieso hast du es denn dann deinen Eltern gesagt, wenn du sowieso keinen Freund hattest."
Robert schaute mich an, als würde ich vom Mars kommen. "Na, ich kann doch nicht die ganze Zeit Theater spielen."
Na toll, er scheint ja wirklich mit fast allem Glück zu haben. Aber das ist ja nun so nicht mein Ding. Ich meine, ich habe ja schon ein Problem damit, es irgend jemandem zu sagen und dabei habe ich sogar einen Freund. Ok, obwohl ich nicht alles so sehe wie er, fand ich den Nachmittag oder es war ja schon Abend mit ihm echt nett. Es war sehr angenehm mal mit jemandem zu quatschen, der auch Sachen beantworten kann. Ich fühle mich jetzt irgendwie ein klein bißchen lockerer. Nein, ich werde es jetzt niemandem aus meiner Family oder aus der Schule oder gar im Verein sagen. Aber ich weiß, daß es irgendwann mal vielleicht so weit sein kann. Wenn ich vielleicht auf bestimmte Sachen nicht mehr angewiesen bin oder einfach auch nur sicherer bin. Ich weiß, daß man es machen kann, mit seinem Freund zusammen zu ziehen. Und vielleicht ist es ja wirklich so, daß einem die anderen Leute, mit Ausnahme der Family und des ganz engen Kreises der Clique, so ziemlich egal sein können. Ich meine, mir war es ja auch egal, was unsere Nachbarn in Hamburg gesagt haben. Mom hat nur immer gesagt: ‚Psst, nicht so laut' oder ‚Wir müssen das Laub endlich zusammenharken, wer weiß, was die Nachbarn sonst sagen.' Scheiß drauf. Was interessieren mich wildfremde Leute? Was habe ich für Vorteile oder Nachteile, wenn ich sie ignoriere?
Naja, jedenfalls war ich von dem Reden so fertig, daß ich nicht noch weiter ins X1 gezogen bin sondern mich in den Zug zurück nach Bergbach gesetzt habe. Mir ist, als wäre ich ein kleines Stück mehr erwachsen geworden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen