Sonntag, 16. März 1997

"Wir müssen reden."
Shit, nun ist es passiert, schoß es mir durch den Kopf. Irgendwas ist passiert. Ich schwang mich aufs Rad und raste zum Kochertalweg. Tausende von Gedankenfetzen schwirrten in meinem Gehirn umher. Fragen, Antworten, Aktionen, Reaktionen. Ich hatte Angst, so entsetzliche Angst, ihn zu verlieren.
Er war schon da. Saß auf einem Baumstamm und blickte ins Tal. Ich wollte zu ihm gehen, ihn in den Arm nehmen. Doch irgendetwas hielt mich zurück. "Hi", brachte ich gerade noch heiser hervor.
Keine Antwort. Er drehte sich nicht einmal zu mir um. Da packte mich die Wut. Ich baute mich vor ihm auf und wollte ihn anschreien. Da sah ich, daß ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er senkte den Kopf. In dem Moment war ich total hilflos. Ich wußte überhaupt nicht, was ich machen sollte, machen konnte. Keine Ahnung, wie lang ich da so vor ihm stand. Plötzlich stand er auf und kam auf mich zu. Alles war wie in Zeitlupe. Ich nahm ihn einfach in den Arm und drückte ihn ganz fest. "Es tut mir leid", flüsterte er in mein Ohr. "Immer tue ich dir weh. Dabei habe ich dich doch so lieb."
Nils, mein Nils. Ich nahm alles wahr. Für ein paar Minuten spürte ich nicht nur Nils, roch nicht nur ihn, ich hörte auch jeden Vogel, nahm jeden Duft aus der Umgebung wahr. Er löste sich aus meiner Umarmung: "Ich weiß nicht, was mit mir ist. Ich weiß es wirklich nicht." Er hatte wieder Tränen in den Augen. "Manchmal", fuhr er fort und blickte dabei ins Tal, "manchmal habe ich richtig Angst, totale Panik. Daß uns jemand erwischt. Daß jemand mitkriegt, daß wir, wir schwul sind."
Das 'schwul' hatte er fast geflüstert. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Verdammt noch mal, für alles gibt es irgendwelche Ratgeber und Fernsehsendungen. Warum denn nicht, was man machen kann, wenn man schwul ist? Ich wollte ihm so gerne helfen, doch ich hatte keine Ahnung wie. Ich nahm ihn einfach wieder in den Arm: "Wir passen auf. Wir beide. Ok?"
Nils drückte mich und dann küßten wir uns. Es war wieder einer dieser Küsse, bei denen ich abhob und davon schwebte. Eine halbe Ewigkeit standen wir so da. Dann setzten wir uns auf unsere Räder und fuhren wieder nach unten. Wir eierten ziemlich den Weg entlang, Hand in Hand zu fahren ist ganz schön heftig und als wir schließlich wieder auf einem vernünftigen Weg waren, wären wir vor Lachen beinahe vom Rad gefallen. Unsere Kreuzung. Diesmal ein richtiger Abschied.

Was kann ich nur machen, um ihm zu helfen? Ich weiß es nicht. Mir selbst geht es ja wahrscheinlich nicht wesentlich anders als ihm. Ich habe aber einfach nur Angst, wenn er wieder so eine von seinen Panikattacken hat.

Gerade hat er noch mal angerufen und mir eine gute Nacht gewünscht. Ich frage mich, ob das in einer Beziehung mit einem Mädel auch so schwierig ist. Ich glaube nicht. Vielleicht, wenn irgendein türkisches Mädchen jemand liebt, der gar nicht von der Familie akzeptiert wird und sie sich nur heimlich sehen können. Vielleicht ist das ja so ähnlich? Blöder Vergleich. Ich habe eine Idee.

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