Donnerstag, 19. Dezember 1996

19. Dezember

"Ist dein Knie wieder in Ordnung? Kannst du am Samstag antreten?"
Ich nickte und wunderte mich gleichzeitig, daß Dimitri offenbar so großen Wert darauf legte, daß ich wieder antrat. Ansonsten war das Training heute ebenso wie gestern. Für Nils war ich weniger als Luft und alles schien mir wie von einer fremden Welt zu sein. Doch Doris' Worte geisterten noch durch meinen Kopf. So konnte es nicht weitergehen. Ich glaube ich werde noch wahnsinnig, wenn das so weitergeht. Also habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und habe auf ihn gewartet. An "unserer" Kreuzung. Ich wußte, er muß hier vorbeikommen, auch wenn er viel später vom Training losgeht als ich. Irgendwann würde er kommen. Und tatsächlich sah ich ihn schon von weitem. Eine Sekunde lang sah ich die Verwirrung in seinen Augen, als er merkte, daß ich hier auf ihn gewartet hatte. "Nils, bitte, ich möchte mit dir reden. Ich kann so nicht weiterleben, bitte!"
Er blickte mich an und gleichzeitig wieder nicht. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. "Soll das jetzt so weitergehen mit uns?" fragte ich.
Er schwieg eine halbe Ewigkeit, dann sagte er: "Sag du mir, wie es weitergehen soll."
Ich kam mir so hilflos vor. Ich wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen, doch ich traute mich nicht, zu weit schien er von mir entfernt. "Verdammt, ich will dich einfach nicht verlieren. Mensch, ich liebe dich!"
Plötzlich sah ich Tränen in seinen Augen. Er drehte sich um und begann zu schluchzen. Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an mich. In diesem Moment war es mir total egal, daß wir einfach so auf der Straße standen. Sein Körper bebte: "Es ist alles so neu. Es ist alles so anders. Hilf mir, bitte", flehte er. Ich hielt ihn einfach nur fest, wiegte ihn hin und her wie ein kleines Kind: "Ich bin doch da, ich bin immer bei dir", flüsterte ich. Ich weiß nicht, wie lange wir so da standen. Irgendwann drehte er sich um. Ich sah die Tränen in seinem Gesicht und küßte ihn sanft auf den Mund. Es war mir egal, ob uns jemand sieht. Aber da war niemand weit und breit. Nur Nils und ich. Allmählich beruhigte er sich. "Es ist so schwer zu verstehen."
"Ich weiß." Verdammt noch mal, irgendwie kann ich ihn so gut verstehen. Wir taperten wortlos in Richtung Einkaufszentrum. Niemand kam uns entgegen und sah, daß wir Hand in Hand die Straße hinunterliefen. Irgendwann waren wir an der Bundesstraße und hielten an.
"Ich will dich nicht verlieren", sagte ich
Nils drückte mich: "Ich dich doch auch nicht."
"Ich bin für dich da, wann immer du willst, ok?"
Er nickte und hatte wieder Tränen in den Augen: "Warum ist das alles nur so kompliziert?"

Ich wünschte ich könnte ihm eine Erklärung geben. Doch eigentlich bin ich genauso hilflos wie er. Wir gingen zurück zu unserer Kreuzung. Wir mußten nicht sprechen. Wir wußen genau, was der andere dachte. Ein langer Kuß zum Abschied. Es ist so herrlich, ihn wieder im Arm zu halten, seine Lippen, seinen Atem zu spüren.
Auf dem Weg nach Hause war es mir als wenn ich ein großes Stück älter geworden wäre. Ich fühle mich wieder gut, aber gleichzeitig auch ein bißchen ernsthafter, ach ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Gerade eben hat er noch mal angerufen und mit eine gute Nacht gewünscht. Und jetzt, jetzt habe auch ich Tränen in den Augen.

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