Montag, 30. Dezember 1996

30. Dezember

"Du bist WAS?"
Tassi starrte mich an, als hätte er einen Geist gesehen. Ich hatte den Mut gefunden. Wir saßen im Fliegenpilz und hatten die vierte Runde Flens hinter uns.
"Ich bin schwul", wiederholte ich trocken.
Er schüttelte den Kopf: "Das glaube ich nicht. Du bist vielleicht höchstens bi, aber doch nicht schwul." Ich mußte lachen, mit DER Reaktion hatte ich nicht gerechnet: "Wie kommst du denn da drauf, daß ich bi sein könnte?"
"Na da war doch diese Sache mit Gabi."
"Pfff, das war nun überhaupt nichts."
Tassi schüttelte wieder den Kopf: "Wie hast du denn das gemerkt, ich meine, woran merkt man denn so was?"
"Das merkst du einfach. Wenn du nur noch anderen Jungs hinterherguckst, wenn du an nichts anderes mehr denken kannst als an Jungs, dann wird dir eines Tages klar, daß du schwul bist."
"Mir wird das garantiert nicht passieren", protestierte er.
"Schon klar, daß du nicht schwul bist."
"Aha, also bist du nicht in mich verknallt."
Ich prustete los: "Nein, ganz bestimmt nicht!" Auf diese Idee wäre ich nie im Leben gekommen. Ich kenne Tassi schon seit dem Kindergarten. Aber verknallt war ich nie in ihn. Er war immer einfach nur ein guter, mein bester Kumpel gewesen. Meine prompte und bestimmte Antwort schien ihn aber dann doch etwas zu treffen: "Wie, wirklich nicht?"
"Nein!" versicherte ich ihm. Ich weiß wirklich nicht, ob ihn das beruhigte oder beleidigte.
"Und wie ist das? Ich meine, was sagen deine Eltern dazu?"
"Sie wissen es nicht. Du bist fast der Erste, dem ich es erzähle."
"Fast?"
"Es gibt ein Mädchen in Bergbach, der ich es erzählt habe. Und naja, meinen Freund."
"Oh, du hast einen Freund? Einen schwulen Freund?" Er erschreckte vor sich selber, weil er den letzten Satz so laut ausgerufen hatte, daß die Mädchen vom Nachbartisch zu uns rüberguckten.
"Yo, einen ganz lieben Freund", seufzte ich. Ich merkte wie irritiert er war. "Aber das ist ein ganz anderes Thema."
"Warum erzählst du mir das eigentlich?"
"Ich denke, es ist an der Zeit, daß ich anfange, ehrlich zu den Leuten zu sein." Das klang unheimlich erwachsen und ich wußte, daß ich es gar nicht so ehrlich meinte. Tassi nickte und grinste: "Na dann nimmst du mir wenigstens nicht die Mädels morgen weg."
"Nee, ganz bestimmt nicht. Hauptsache es kommen genug niedliche Jungs."
"Du hast doch gesagt, daß du einen Freund hast."
"Ja." seufzte ich und mußte wieder an Nils denken.

Wir blödelten noch ein bißchen herum und taperten dann los. Wenn ich mir das jetzt überlege, war es überhaupt nicht schlimm. Ok, ich gebe zu, daß ich wirklich nichts zu verlieren hatte. Außerdem kenne ich Tassi nun schon. Trotzdem bin ich irgendwie erleichtert, daß er es so locker aufgenommen hat.

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