Montag, 23. Juni 1997

23. Juni

"Du hast Streß mit Nils."
Das war keine Frage, das war eine Feststellung. Ich war mit Doris auf dem Vorplatz zusammengestoßen und nach ein paar Sekunden, ohne daß wir etwas gesagt hätten, hatte sie das gesagt.
"Laß mich in Ruhe, bitte!"
Und sie ließ mich in Ruhe. Fragte mich den ganzen Tag nicht ein einziges Mal. Wir redeten nur nach Notwendigste miteinander und ansonsten war Funkstille. Nils, Nils war auch da. Ich vermied es, ihn anzusehen. Nein, ich vermied es nicht nur, ich sah ihn nicht, ich sah ihn wirklich nicht. Ich schaute automatisch in eine andere Richtung. Ich wollte nicht seinem Blick begegnen. In den Pausen stellte ich mich zu Max und den anderen Leuten, so daß er gar nicht erst auf die Idee kommen konnte, mit mir reden zu wollen. Reden! Was wollte er denn mit mir reden? Was könnte er mir schon sagen? 'Tim, es tut mir leid, aber ich habe rausgefunden, daß ich doch nicht schwul bin und doch auf Mädchen stehe' Auf solchen Scheiß kann ich sehr gut verzichten. Ich könnte mich ohrfeigen, wie konnte ich nur auf diesen Typen so reinfallen? Wie konnte ich auf dieses Theater reinfallen? Die Schulstunden rauschten an mir vorbei. Ich bin sogar zum Training gegangen. Auch das rauschte an mir vorbei. Gottseidank teilte Dimitri Nils und mich nicht als Kampfpaarung ein.

Nach dem Training bin ich noch vor allen anderen losgerauscht. Ich bin sogar einen Umweg gefahren, um nicht an unseren Kreuzung vorbeizukommen. Warum gehe ich überhaupt noch zum Training? Warum mache ich diesen ganzen Unsinn überhaupt noch mit? Es hat doch sowieso alles keinen Sinn mehr. Nils. Ringen. Warum habe ich das alles überhaupt gemacht? Wollte ich Nils etwas beweisen? Wollte ich ihn beeindrucken? Wollte ich im einen Gefallen tun? Ich weiß es nicht mehr. Warum habe ich alle die Schmerzen ertragen? Die blauen Flecken, diese endlosen Trainingssessions? Weil verdammt noch mal ich sowieso nichts besseres zu tun hatte hier! Es ist doch nur noch alles zum Kotzen! Die einzigen Leute, die ich kenne, die einzigen Freunde, die ich habe sind alle vom Verein. Und da läuft mir Nils über den Weg. Immer. Ich will nicht mehr. Ich will gar nichts mehr. Ich will nur noch zu Hause bleiben. Nie wieder raus gehen. Nie wieder irgend jemanden sehen.

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