Sonntag, 1. Juni 1997

1. Juni

"Ihr Ringer seid wirklich durch die Bank weg gestört", stellte Doris fest.
"Ich bin nicht gestört", protestierte ich.
"Ich gehe jede Wette ein, daß du Nils ein bissele um sein blaues Auge beneidest."
"So ein Schwachsinn."
Nils prustete los vor Lachen. Wir waren auf dem Weg zu Tobias und eigentlich ganz guter Stimmung. Wieso nur mußte ICH mir jetzt irgendwelche Sticheleien wegen Nils' blau-lila-dick-Auge anhören?
Tobias' Kommentar war auch dementsprechend: "Heiligs Blechle" oder so ähnlich. Aber er hat sich gefreut, daß wir ihn besucht haben. Er hatte jede Menge Noten in seinem Zimmer verteilt. Ich glaube, er ist jetzt die ganze Zeit nur noch am Klavierspielen. Jedenfalls fangen jetzt seine Haare an auszufallen und er sieht wirklich ziemlich krank aus. Aber er meint ja immer noch, daß das Ganze wieder völlig geheilt werden kann.
Es ist schon seltsam. Wie lange ist es her, daß ich das erste Mal in seinem Zimmer stand? Meine Güte, und ich war so verknallt in ihn. Ich konnte nicht richtig schlafen, nicht richtig essen. Ich glaube, es war fast so wie bei Heiko jetzt. Ok, vielleicht nicht ganz so schlimm. Ich werde mal im Tagebuch nachlesen. Ja und heute ist Tobias eigentlich wirklich nur jemand aus meiner Klasse. Jemand, den ich ganz gerne habe, aber mehr auch nicht. Ich glaube nicht mal ein richtiger Freund. Wobei ich gar nicht weiß, wie ich das genau definieren würde. Bin ich mit Flo befreundet? Mit Max? Mit Doris, ja auf jeden Fall. Ist ja eigentlich auch egal, wie man das nennt.
Auf dem Rückweg setzten wir uns noch für ein Eis ins Venezia.
"Ist dir eigentlich klar, daß wir in zwei Monaten unser Eis auf Korsika schlabbern?"
"Das heißt aber auch, daß wir noch zwei Monate hier in diesem Nest braten müssen."
"Tim findet aber auch überall etwas negatives."
Nils und Doris guckten sich an und grinsten. Na toll, die beiden waren sich wieder mal einig und ich war das kleine Dummerchen.

Jedenfalls brachten wir Doris noch nach Hause und fuhren über den Kochertalweg zurück.
"Schon immer wieder komisch", meinte Nils, "wenn ich mir überlege, daß ich früher nie ein Wort mit Doris geredet habe und jetzt, wo ich sie näher kenne, finde ich sie total nett."
"Ja, ist schon seltsam, wie sich manche Leute verändern, wenn man sie näher kennenlernt."
"Naja, die Leute verändern sich ja nicht. Aber das was man von ihnen denkt."
Wir saßen wieder eine halbe Ewigkeit da, blickten hinunter auf's Tal, auf unsere Schule, auf unsere Häuser. Das sind Momente, die ich einfach nur festhalten möchte. Für immer irgendwo in eine Schachtel packen und sie wieder herausholen, wenn es mir schlecht geht. Diese Momente mit Nils, wenn wir einfach nicht zu reden brauchen.

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