Mittwoch, 27. August 1997

27. August

"Du schreibst immer noch Tagebuch?"
"Ja, aber das sind eigentlich mehr Notizen."
"Meinst du nicht, daß es langsam Zeit ist, mir was zu sagen?"
"Was zu sagen? Was meinst du?"
"Tim."
"Ja doch. Was ist denn los?"
Phil guckte mich lange an. Er guckte mir einfach nur in die Augen und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und schaute zu Boden.
"Ich kenne dich nun schon seit 17 Jahren. Ich weiß, daß mit dir etwas nicht stimmt. Wir waren nie viel zusammen, jeder hatte immer seine eigenen Freunde, seine Kumpels, aber ich kenne dich. Tim, und ich weiß, daß da was ist. Und ich will, daß du es mir endlich sagst. Ich will es von DIR hören. Von niemanden anders. Kannst du das nicht verstehen?"
Ich konnte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr lügen, nicht mehr eine Rolle spielen. Ich WOLLTE es nicht mehr.
"Ich bin schwul."
Mir wurde heiß. Ich merkte, wie sich in mir alles drehte. Was hatte ich getan? Ich hatte gerade meinem Bruder gesagt, daß ich schwul bin.
Phil nickte. Ich sah, wie er schluckte und tief Luft holte. Wir schwiegen. Ich weiß nicht wie lange. Es schien mir eine halbe Ewigkeit zu sein.
"Wie lange weißt du das schon?"
"Keine Ahnung, es ist nicht plötzlich gekommen. Ich habe es einfach immer mehr gemerkt, daß ich Jungs viel interessanter finde als Mädchen. Und du? Woher wußtest du es?"
"Du bist anders. Du triffst dich nicht mit Mädchen und das, obwohl du keiner von diesen verklemmten Strebern bist, die nie eine abkriegen. Nein, du gehst auf Parties, machst Action, kennst jede Menge Leute und trotzdem gehst du nicht mit Mädchen, hast keine Freundin. Tim, das MUSSTE mir auffallen."
"Seit wann hast du es gewußt?"
"Ich habe es schon länger geahnt. Vielleicht länger als du. Aber letztes Jahr zu Ostern, da war ich mir sicher. Als du länger in Hamburg geblieben bist. Kein Mensch bleibt länger in Hamburg, wenn er nicht muß, oder will."
"Wie jetzt?"
"Hast du einen Freund in Hamburg?"
Ich mußte lachen: "Nein, nein, wirklich nicht. Ich bin länger geblieben, weil ich nicht hierher zurück wollte. Jedenfalls wollte ich so lange wie möglich in Hamburg bleiben. Aber ich habe keinen Freund in Hamburg. Ich habe einen Freund hier."
Phil zuckte: "Also bist du dir wirklich sicher, daß du schwul bist?"
"Ja, verdammt noch mal ja."
"Und du meinst nicht, das geht mal vorbei?"
Mein großer Bruder. Auf einmal kam er mir so unwissend und naiv vor.
"Das geht nicht vorbei. Das geht NIE vorbei."
Phil seufzte. "Warum?"
"Wie? Warum?"
"Warum bist du schwul?"
"Was weiß ich denn? Die Gene, die Chromosomen, die Luft, die irgendwas. Keine Ahnung."
Phil stand auf und ging zum Fenster. "Ich habe es geahnt. Nein, ich habe es gewußt. Und trotzdem habe ich gehofft, daß es nicht so ist. Es ist so seltsam, so fremd für mich."
"Willkommen im Club. Denkst du, für mich ist es easy?"
"Wenn ich mir vorstelle, daß du mit einem Typen...das finde ich einfach nur ekelhaft. Bitte, nein, verstehe mich nicht falsch: Ich kann es mir nur einfach nicht vorstellen."
Jedem anderen wäre ich an den Hals gesprungen (nicht wirklich), aber Phil schaute ich einfach nur an.
"Mir geht es so, wenn ich an nackte Mädels denke."
"Du hast einen Freund? Kenne ich ihn?"
"Nicht wirklich. Du kennst doch hier eh niemanden."
"Laufen hier die Schwulen mit Schildern rum, oder wie hast du ihn gefunden?"
"Sei nicht so deppert. Wir haben uns eben gefunden. Das muß reichen."
Ich wollte ihm nicht die ganze Geschichte mit Nils erzählen. Und zum Glück bohrte er nicht nach.
"Was ist mit Mom und Dad?"
"Was soll mit ihnen sein? Sie wissen es natürlich nicht."
"Ich glaube, es ist auch besser so. Mom würde ausrasten."
"Ich denke auch."
Phil schaute wieder aus dem Fenster. "Wie ist es, wenn man schwul ist?"
"Was meinst du?"
"Wie fühlst du dich? Wie geht es dir damit?"
"Einsam, am Anfang habe ich mich unheimlich einsam gefühlt. Alle um mich herum machten mit irgendwelchen Mädels herum. Nur ich, ich konnte damit nichts anfangen. Ich war alleine, so verdammt allein. Inzwischen geht es besser. Ich habe meinen Freund. Aber wir müssen uns eben doch immer irgendwie verstecken. Während ihr, ihr Heteros händchenhaltend durch die Gegend marschieren könnt, müssen wir immer aufpassen, daß niemand was mitkriegt."
"Oh, Entschuldigung, daß wir normal sind."
"Super, ja, ihr seid normal und ich, ich bin dann also unnormal."
"Tim, sorry, so war das nicht gemeint." Phil kam auf mich zu und umarmte mich, so gut es mit seinem Gipsarm ging: "Du bist mein Bruder. Mein kleiner Bruder und du bleibst auch für immer mein kleiner Bruder. Egal, ob du nun Mädels magst oder eben Jungs. Es ist nur so ungewohnt für mich."
Ich schaute ihn an. Meinen großen Bruder. Und obwohl wir uns in diesem Moment so nahe waren wie wahrscheinlich lange nicht, obwohl er nun alles von mir wußte, so kam er mir plötzlich total fremd vor, als würde er nicht dazugehören. Er gehörte in die Welt der Heteros und ich in die schwule Welt. Schwule Welt, was war das überhaupt? Woraus besteht meine kleine schwule Welt? Aus Nils und mehr nicht. Aus einem schwulen Café und einem schwulen Sexshop in Stuttgart. Aus einem schwulen, gutmeinenden, scheißeaussehenden Robert, aus einem verklemmten Boris. Das war meine kleine schwule Welt. Irgendwie ganz schön armselig. Oder doch nicht. Denn da war Nils. Meine eigene, kleine große Welt. Mehr brauche ich doch eigentlich gar nicht.
"Wie ist denn das, wenn man schwul ist, werdet ihr, also du und dein Freund, zusammenziehen, wenn du ausziehst?"
"Ich weiß es nicht. Das ist ja auch das erste Mal für mich." Ich war selber überrascht, wie ich über die ganze Angelegenheit blödeln konnte.
"Paß auf dich auf, auch mit AIDS und so. Versprochen?"
"Na klar, was denkst du denn? Ich will doch noch eine Weile leben."
Er grinste, knuffte mich in die Seite und ging raus.

Phil weiß jetzt, daß ich schwul bin. Ein seltsames Gefühl.


"Du bist ganz schön leichtsinnig."
"Wieso bin ich leichtsinnig? Soll ich meinen Bruder etwa anlügen?"
"Machen wir jetzt hier ein privates Kaffeekränzchen oder würden uns die Herren Berger und Salig vielleicht auch bei diesem Training mit ihrer ungeteilten Anwesenheit beehren?" Ich schaute an die Decke. Manchmal ist auch Werner unausstehlich.
Wir hatten erst wieder nach dem Training Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden. Wir standen vor der Halle und ich taperte zum Kocher, warf Steine in dieser bräunliche Rinnsal. "Und du meinst, er hält dicht?"
"Ach komm, wem soll er das denn erzählen?"
"Deinen Eltern, oder was weiß ich denn."
"Mensch Nils! Hast DU mir nicht gestern was über Angst erzählt? Was ist denn los mit dir?"
"Angst ist etwas anderes als sozialer Selbstmord."
"Sozialer Selbstmord, was ist denn das für ein Wort? Irgendwann, früher oder später, werden es alle wissen, werden es alle wissen MÜSSEN."
Nils zuckte. "Aber doch nicht jetzt, jetzt doch nicht." Ich sah, daß er tatsächlich Angst hatte. Nils, mein Nils hatte Angst.
"Es ist halt passiert. Ich lüge meinen Bruder nicht an. Und er erzählt es nicht weiter, da bin ich ganz sicher."
"Ok, ich glaube dir. Wir müssen nur aufpassen, daß wir nicht langsam die Übersicht verlieren."
"Die Übersicht?"
"Doris, Heiko, Robert und jetzt Phil."
Ich schüttelte nur den Kopf. Was für eine verrückte Welt.

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