Mittwoch, 29. Mai 1996

29. Mai

10:20
»Es sind Windpocken.«
Mom scheint sich ganz sicher zu sein. Ich muß zugeben, ich habe fast gar nichts gesehen, aber Lisa hat die letzten beiden Tage ständig geschnieft, und heute morgen hat sie ein paar kleine Pusteln im Gesicht. Jedenfalls meint Mom, sie muß im Bett bleiben, was Lisa nun überhaupt nicht versteht. Dann hat Mom mit ihrem Chef telefoniert und gesagt, daß sie die nächsten paar Tage nicht kommen kann. Na toll, die letzten Ferientage noch Mom im Haus. Na ja, was soll’s. Ich kann mich nicht erinnern, je Windpocken gehabt zu haben, aber Mom meint, ich hätte sie als kleines Kind ganz schlimm gehabt.


15:15
»Willst du nicht mal endlich dein Zimmer aufräumen?«
Na klar, das mußte ja passieren. Ich finde, es sieht o.k. aus. Aber ich habe ein bißchen die Sachen hin und her geräumt, damit es wenigstens so aussieht, als hätte ich was gemacht. Und nun? Ich könnte Doris anrufen und mir ein paar Stunden lang die neueste Story von ihrem Typen anhören. Nicht gerade so eine tolle Alternative. Ich glaube, ich gehe Nils beim Kadertraining zugucken.


22:10
Ich glaube, ich spinne! Als ich heute in die Halle kam, saß Benji auf der Bank und schaute zu. Ich habe ihn natürlich gefragt, was er hier macht. »Zugucken«. Ich bin stinksauer geworden. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du da bist?«
»Ich habe gedacht, du bist sowieso da. Aber wenn nicht hätte ich dich hinterher angerufen.« Eine blödere Ausrede habe ich schon ewig nicht mehr gehört. Ich war kurz davor, ihm eine Szene zu machen. Aber Nils hatte mich gesehen und kam rüber: »Na, willst du dir schon mal richtiges Training ansehen?« Ich war so sauer, daß ich gar nicht wußte, was ich antworten sollte. »Gehört der zu dir?« er zeigte auf Benji. Der plapperte gleich los, daß er sich überlegt, ob er den Verein wechselt, und sich einfach mal das Training angucken wollte usw. Nils wurde plötzlich ganz komisch: »Wir haben das nicht so gern, wenn Leute aus anderen Vereinen bei unserem Training zugucken.« Benji lief knallrot an. Ha, geschieht ihm ganz recht! Und ich Idiot helfe ihm noch: »Ist schon o.k., ich kenne ihn.«
»Willst du etwa auch den Verein wechseln und nach Degendorf gehen?«
»Hab ich nicht vor.« Nils nahm mich in einen Armgriff und zog mich von der Bank: »Das will ich dir auch nicht geraten haben«, zischte er lachend. Dann ließ er mich los und trabte wieder zu den anderen. Den Rest des Trainings saßen Benjamin und ich schweigend nebeneinander. Ich habe eigentlich gar nichts vom Training mitbekommen. Mir ging alles mögliche durch den Kopf. Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Aber ich wollte nicht, daß Benji alleine mit Nils ist. Also habe ich ihm hinterher vorgeschla-gen, ob er noch mit zu mir kommt. Es war komisch, eigentlich hätte ich mich freuen müssen, daß er mitkommt, aber mein Kopf war so voll, daß ich mich kaum unterhalten konnte. Dafür plapperte Benjamin ununterbrochen, wie toll doch unser Training ist und daß in Degendorf alles zwei Kreisklassen niedriger wäre und so weiter. Wenigstens schwärmte er mir nicht wieder von Nils vor. Ich glaube, dann hätte ich ihm eine gescheuert.

Mom empfing mich mit der Frage, ob Benjamin mitessen würde. Ich sagte ihr, daß wir(!) keinen Hunger hätten, und wir gingen in mein Zimmer. »Nett hast du es hier«, meinte er. Ich wollte irgendwas Nettes sagen, aber brachte nicht mehr als ein »Ja, geht so« hervor. Na ja, zum Schluß wurde es dann doch ganz witzig. Er erinnert mich wirklich total an Jost. Aber irgendwie ist das ein Scheißspiel. Und ich stecke mittendrin.

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