Montag, 27. Oktober 1997

27. Oktober

"Du bist verrückt. Du bist ein kleiner verrückter Tim. Und ich liebe dich."
Wir standen auf dem Fernsehturm, haben den Sonnenuntergang beobachtet, Sekt getrunken und einfach nur geträumt. Als ich nach dem Wettkampf (unser Mannschaft hat gewonnen, Tim hat verloren) Nils sagte, daß wir uns von den anderen absetzen, hat er erst etwas komisch geguckt. Vor allem, bis wir beim Fernsehturm waren. Dann dämmerte ihm aber was: "Sylt?" fragte er.
Ich grinste und nickte.
"Verdammt, warum hast du nichts gesagt?"
"Wieso denn. Ich habe ja daran gedacht, das reicht doch."
Und so standen wir hoch über Stuttgart, der Herbstwind pustete uns ziemlich durch, aber dafür wärmten uns die zwei Flaschen Sekt auf. Wir sahen die Sonne untergehen, Arm in Arm und es war uns völlig egal, ob uns jemand sieht oder nicht. Natürlich sahen uns die anderen Leute, aber es kümmerte sich niemand um uns. Und es war einfach nur schön. So eine tolle Stimmung hatte ich schon lange nicht mehr. Wir schwebten einfach nur. Das ist verrückt. Die Welt liegt uns zu Füßen, heißt das. Und genauso war es. Nicht nur symbolisch sondern da war es ganz real.
"Ich hätte nie gedacht, daß mir so was mal passiert, wie mit dir. Da muß erst so jemand aus Hamburg kommen, damit ich mich richtig toll verliebe."
Ich lächelte und drückte ihn ganz fest an mich. Seit einem Jahr sind wir zusammen. Heute vor einem Jahr haben wir das erste mal miteinander geschlafen. Und es ist so verdammt viel passiert in dem Jahr. So viel verrückte Sachen. Ich habe einen Freund gefunden. Wir haben uns gestritten, gezofft und alles mögliche durchgemacht. Ich habe ihn betrogen, er hat mich betrogen. Ich habe mich in Heiko verknallt. Nils und ich haben uns wieder zusammengefunden. Ich habe Wettkämpfe gewonnen, Turniere. DEN EINEN Kampf habe ich gewonnen. Ich habe den geilsten und coolsten Sex gehabt in dem Jahr.
Ich frage mich, was passiert wäre, wenn Sophie damals nicht die Ketschup-Flasche geschüttelt hätte, ich mich nicht mit der ganzen Soße eingesaut hätte, wenn ich nicht Nils mit diesem Typen entdeckt hätte. Dann hätte ich Nils nicht diese Szene gemacht und es wäre nie so weit gekommen. Es ist ein komisches Gefühl, wie das Leben von Zufällen abhängt. Manche Leute reden von Schicksal oder von irgendwelchen Göttern. Ich glaube, daß es in Wirklichkeit Zufälle sind, die das Leben weiterbringen. Das wäre doch alles nie passiert, wenn es nicht SO abgelaufen wäre. Nils und ich würden weiter nebenher trainieren, er würde mit irgendwelchen Mädels ausgehen und ich würde mit irgendwelchen Typen im Schwimmbad oder auf dem Klo im X1 rummachen.

Wir redeten nicht viel und wir brauchten auch nicht viel zu reden. Wir wissen, was der andere fühlt. Irgendwann kam die Ansage, daß der Turm geschlossen wird und wir fuhren nach unten.
"Hunger?" fragte ich.
"So ziemlich."
Wir fuhren ins Mulino. Und Doris hatte recht. Oder Tara. Es war richtig nett da. Keine von diesen künstlichen Rauhputz-Pizzerien. Innen war ein total gemütlicher roher Backsteinraum mit einem Pizzaofen drin. Es war ein ganz tolle Stimmung und Atmosphäre da. Wir haben gegessen und obwohl wir jede Menge Rotwein in uns reingesüffelt hatten, ging es uns hinterher noch erstaunlich gut. Es war halb zwei, als wir aus dem Laden rauskamen. Und ich hatte total verschwitzt, daß natürlich kein Zug mehr zurückfuhr.
"Und was machen wir jetzt?"
"Doch noch X1?"
"Irgendwie nicht. Irgendwie habe ich keine richtige Lust auf Party."
"Laß uns mal gucken, ob im Ipanema noch was los ist."
"Was ist das?"
"Ein kleiner Club. So ein bißchen angejazzt. Vielleicht ganz gut zum Chillen."
Ich wunderte mich, daß Nils einen Jazzclub in Stuttgart kennt. Aber der Vorschlag war echt toll. Es war ein richtig cooler Club, mit total coolen Leuten. Kein schwuler Club. Es waren zwar alle älter als wir, aber die Stimmung war total relaxt. Und die Musik auch. Wir saßen in einer Ecke, hörten der komischen Musik aus den 50ern oder von irgendwann zu und begannen irgendwann tatsächlich zu tanzen. Eng umklammert tanzten wir in irgendeinem verräucherten Club in Stuttgart und es kümmerte niemand. Irgendwann machten wir uns auf in Richtung Bahnhof. Langsam ging die Sonne auf. Ein Jahr mit Nils. Und ich glaube, es ist wirklich ein Jahr Glücklichsein.

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