Samstag, 10. Januar 1998

10. Januar

"Tim, kann ich dich mal sprechen?"
"Meine Güte, ja doch, was ist denn?"
"Nicht hier, laß uns mal rausgehen."
"Du machst das aber auch wat geheimnisvoll, was ist denn los?" Ich griff meine Jacke und wir gingen in den Garten. Es hatte in den letzten Stunden heftig geschneit und alles sah wieder total kitschig aus. Der Schnee dämpfte alle Geräusche und ich hätte mich nicht gewundert, wenn jetzt noch irgendwo Weihnachtsbäume gestanden hätten.
"Also, was ist denn?"
Flo druckste rum: "Du mußt mir aber versprechen, daß du nicht sauer bist, wenn ich dich jetzt was frage."
"Meine Güte, ich werde gleich sauer, wenn du noch weiter rumeierst. Also, was ist los?"
Flo schaute mich an und mir wurde auf einmal ziemlich mulmig. Dann holte er tief Luft und fragte: "Kann es sein, daß du schwul bist? Ich meine du und Nils, seid ihr schwul?"
Bin ich eigentlich für alle auf dieser Welt ein offenes Buch? Wie kommt Flo darauf, daß ich schwul bin? Daß Nils und ich schwul sind? Ich will irgendeine dumme Gegenfrage stellen. Irgend etwas nach dem Motto: Wieso willst du das wissen? Aber ich weiß, daß das alles nur hinauszögern würde. Ich könnte es abstreiten. Ich könnte sagen, daß er sich irrt. Daß Nils und ich nicht schwul sind sondern nur gute Freunde. Ich könnte sehr glaubwürdig ausrasten, ihm an den Kopf werfen, daß er spinnt und ihn einfach stehen lassen. Alles das ging mir durch den Kopf. Aber es war irgendwie klar, daß ich das alles NICHT machen konnte. Flo war so was wie mein bester Freund. Mein bester Hetero-Freund. Verdammt, was sollte ich machen. Ich versuchte innerhalb von zwei Sekunden zu entscheiden, was richtig war. Ich beschloß, daß es nicht ohne Gegenfrage ging. Einen Augenblick mehr Zeit, nur einen Moment noch: "Wie kommst du da drauf?"
"Ich weiß nicht. Wenn man euch beide anguckt. Wie ihr miteinander umgeht, redet, wie ihr euch anguckt. Da kommt man ganz automatisch auf die Idee, daß ihr schwul seid."
"Du scheinst dich ja da super auszukennen." Ich weiß nicht, wieso ich so aggressiv antwortete.
"Ich kenne mich da nicht aus, wenn du das meinst. ICH bin nicht schwul. Ich dachte mir ja schon, daß du sauer reagierst." Er drehte sich um und ging wieder ins Haus. Verdammt, was sollte ich machen? Warum nur bin ich so feige? Warum sage ich es nicht einfach?
"Warte! Flo, es tut mir leid, ich wollte nicht sauer reagieren. Echt nicht." Ich guckte ihm in die Augen. Flo, gar nicht mehr so flippig, wie ich ihn kennengelernt habe. Ich habe in den fast zwei Jahren gar nicht gemerkt, wie ernsthaft, wie erwachsen er geworden ist. Ich nicke: "Du hast recht, ich bin schwul."
Flos Gesicht bleibt unbewegt, als er fragt: "War das nun so schwer?"
"Was?"
"War das wirklich so schwer, mir das zu sagen?"
"Ja doch, verdammt noch mal ja."
"Wieso?"
"Wieso? Ich verstehe deine Frage nicht? Wieso das schwer ist? Ja was glaubst du denn? Glaubst du, man kann hier so einfach rumlaufen, hier in der Schule, im Verein und allen Leuten erzählen, daß man schwul ist? Glaubst du das echt? Du bist wirklich ein Hetero. Ein Hetero mit null Plan."
"Aber wir sind befreundet. Du hättest es mir sagen können. Du hättest es mir sagen MÜSSEN. Wenn du ehrlich gewesen wärest. Diese ganzen Sachen mit den Mädels und das alles."
Ina kam raus und umarmte Flo: "Hier bist du. Hast du was zu rauchen?"
Flo schüttelte den Kopf: "Nada. Sorry, ich habe hier gerade eine wichtige Sache mit Tim zu klären. Ich komme bald wieder rein zu dir, ok?"
Ina zog ab. Ich war beeindruckt. Vielleicht sogar etwas geschmeichelt.
"Sorry, aber du hast vielleicht wirklich keine Ahnung, als Hetero. Das ist nicht so easy, so locker. Du erzählst mal eben allen Leuten, daß du schwul bist."
"Und Nils? Ist er dein Freund? Ist er auch schwul?"
Ich schwieg. Ich weiß, wie Nils über das Coming Out denkt. Ich weiß, wie er ausrasten würde, wenn noch mehr Leute wüßten, daß er schwul ist. Also schwieg ich.
"Was ist los."
"Ich will nicht darüber reden."
"Also ja. Oder doch nicht und du bist nur unglücklich in ihn verknallt?"
Ich wollte es nicht, aber ich wurde wieder aggressiv: "Verdammt noch mal, Florian, denkst du denn, das alles ist wirklich so einfach?"
"Mein Gott, jetzt wo ich sowieso schon weiß, daß du schwul bist, kannst du mir auch sagen, was mit Nils ist."
Ich wollte nicht mehr Widerstand leisten. Ich konnte nicht mehr. Theater zu spielen machte keinen Sinn mehr. "Ich werde es dir sagen. Aber du behältst es für dich. Du behältst es für dich auch Nils gegenüber, ist das klar?! Kein Wort zu Nils!"
"Ok."
"Ja, Nils und ich sind befreundet. Er ist MEIN Freund."
"Und warum ist das jetzt so ein Problem."
"Weil Nils damit ein Problem hat."
"Nicht nur Nils, wie mir scheint."
"Das ist total was anderes, total. Nils hätte dir das nicht gesagt, so wie ich, er hätte dir gar nichts erzählt."
"Vielleicht weiß ich ja wirklich nicht Bescheid. Aber ich hätte mich gefreut, wenn du es mir von dir aus erzählt hättest."
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das war Florian. Mein bester Hetero-Freund. Und er ist enttäuscht, daß ich ihm nicht gesagt habe, daß ich schwul bin. Manchmal verstehe ich die Welt nicht.
"Wird man sehr mißtrauisch, wenn man schwul ist?"
"Uff, keine Ahnung. Mißtrauisch? Wachsam vielleicht eher. Man paßt auf, daß es die anderen nicht mitkriegen."
"Also ein Versteckspiel"
"Ja, irgendwie schon. Nein, nicht nur irgendwie."
"Aber wie habt ihr euch denn gefunden? Ich meine, bevor du zu uns in die Klasse kamst, hätte ich nie gedacht, daß Nils schwul ist. Auch als ich dich gesehen habe, wäre ich nie auf die Idee gekommen. Nur nach ein paar Monaten, nachdem ich gesehen habe, wie ihr miteinander umgeht, da war es mir ziemlich klar. Also, wie habt ihr euch denn gefunden? Gibt es irgendwelche geheimen Erkennungszeichen?"
"Nein, ich weiß nicht, ich glaube nicht. Es ist passiert, einfach so passiert. Ich bin ausgerastet, er hat mich gegen einen Schrank geworfen und da ist es dann eben passiert."
"Klingt ja höchst spannend."
"Es war vor allem... es war schön. Diese Sekunde, diese erste Sekunde, in der alles so klar war, als sich alles plötzlich auflöste. Ich glaube, daß war bisher der schönste Moment in meinem Leben."
"Wow, du kannst ja richtig romantisch sein."
Ich mußte lachen, Flos Humor ist manchmal einfach nur zum Brüllen. "Und, war es nun so schlimm, mir das zu erzählen?"
"Natürlich nicht schlimm, aber das ändert doch insgesamt nichts da dran, daß ich mich bestimmt nicht vor die Schule stelle und allen erzähle, daß ich schwul bin."
"Du kannst jedenfalls beruhigt sein, ich erzähle es niemandem."
"Und Nils bitte auch nicht."
"Schon verstanden. Irgendwie finde ich das ganz cool. Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen wirst."
"Garantiert nicht. Und jetzt geh wieder rein, sonst schnappt dir noch irgendein anderer Ina weg."
Flo hat irgendwie recht. Es hat nicht wehgetan. Aber es ist halt Flo, ich weiß nicht, wie andere Leute reagieren würden. Aber es ist schon Wahnsinn, wie viele Leute es inzwischen wissen, wie vielen Leuten ich es inzwischen erzählt habe, daß ich schwul bin. Und alle haben eigentlich super reagiert. 'Jetzt weiß ich, daß du mir kein Mädchen wegschnappen wirst.' Ich muß grinsen. Es ist schon verrückt.
"Hier bist du. Was machst du denn hier draußen?"
"Ich hatte was mit Flo zu besprechen."
"Was denn?"
"Wir haben geklärt, daß ich ihm Ina NICHT wegschnappen werde."
"Haha, sehr witzig."
"Nee echt mal. Naja, jedenfalls so ähnlich."
"Obwohl, niedlich ist sie ja doch irgendwie."
"Nils! Wenn ich da was mitkriege..."
Er kicherte: "Ganz bestimmt nicht."

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