Samstag, 24. Januar 1998

24. Januar

"Laß ihm Zeit", meinte Doris.
"Ich lasse ihm alle Zeit der Welt. Er hat davon angefangen, daß er nicht mehr Versteck spielen will."
"Ja, aber du hast ihn bestimmt wieder überfahren."
"Überfahren?"
"Für dich sind bestimmte Sachen ganz klar. Du hast dir dazu schon deine eigenen Gedanken gemacht und deine Meinung steht fest. Aber du kannst doch nicht davon ausgehen, daß alle so schnell sind wie du. Und vor allem, daß alle zu den gleichen Schlußfolgerungen kommen wie du, oder die gleiche Meinung haben."
"Aha."
"Tim, du bist wieder mal unmöglich."
"Ich bin nicht unmöglich, ich bin nur irgendwie, irgendwie, ich weiß auch nicht."
"Unzufrieden?"
"Keine Ahnung. Nein, auch nicht richtig."
"WAS WILLST du denn dann?"
"Keine Ahnung. Ich glaube, ich will zurück nach Hamburg. Mit Nils zusammen nach Hamburg und nicht mehr verstecken."
"Ja, ja."
"Siehst du. Nicht mal du nimmst mich ernst."
"Ich nehme dich ernst, aber sei doch mal realistisch."
"Realistisch. Ist das SO abartig, was ich will?"
"Nein", seufzte sie.
"Na also. Ach, ich weiß auch nicht."
Nach dem Auflegen gingen mir wieder mal so viele Sachen durch den Kopf. Irgendwie weiß ich ja wirklich schon, was ich will. Aber was ist denn da dran so schlimm? Ich glaube, Nils macht sich gar keine Gedanken, wie es mit uns weitergeht. Wie es überhaupt weitergeht. Für ihn ist nur wichtig, was mit seinem Ringen passiert. Mehr nicht. Ich glaube, wenn morgen einer von den Talentscouts kommt und ihn nach Leipzig mitnimmt, würde er sogar dahin gehen. Und ich wäre ihm völlig egal. Hauptsache, das Ringen stimmt.

Flo verlor gegen Benji. Das war aber auch die einzige Niederlage unserer Mannschaft. Ansonsten haben wir haushoch gewonnen. "Ich dachte, ich trete endlich mal wieder gegen dich an", meinte Benji.
"Tja, wird wohl erst mal nichts draus. Ich hätte sowieso keine Chance."
"Stimmt", meinte er grinsend. Und ich nahm es ihm nicht mal übel.
"Wer ist denn das Mädchen, was die ganze Zeit mit dir zusammengehockt hat. Deine Freundin?"
"Nein. Das ist", ich drehte mich in Richtung Ausgang, "die Freundin von deinem unterlegenen Gegner."
"Oh, die ist aber niedlich."
"Na, vorsicht. Ich glaube, das würde Flo SEHR übel nehmen und dann hast du kein so leichtes Spiel wie heute beim Wettkampf."
"Schon gut, schon gut. Ich habe sowieso keine Zeit für eine Freudin. So mit Training und meiner Internetseite und den ganzen Sachen."
"Aha."
Benji hat immer genau das gleiche Leuchten in den Augen wie Nils, wenn es ums Ringen geht. Was mich dann immer ganz automatisch in eine Art Abwehrhaltung bringt.

Zum Pizzabuffet waren die Jungs von Degendorf gleich mit eingeladen. Was Benji gleich dazu nutzte, mit Ina zu baggern. Hatte er nicht gerade noch eine Stunde zuvor etwas davon erzählt, daß er keine Zeit für Mädchen hat? Ich bin ja auch irgendwie gemein, aber ich ging zu Flo, der sich lautstark mit einem Degendorfer Schwergewicht über Fußball (FUSSBALL!!!) stritt und meinte, er soll mal mehr auf Ina aufpassen. Was er dann auch gleich machte. Ok, vielleicht war das ja auch gar nicht gemein, sondern genau richtig. Es wäre ja auch total daneben, wenn Ina jetzt mit Benji rummachen würde. Dann müßte ich mir schon wieder eine neue Kombination merken... und überhaupt.

"Ich finde", meinte Nils auf dem Heimweg, "ich finde, es sollte doch wenigstens Bier geben auf unseren Nachwettkampfmeetings."
"Ich finde, es sollte nicht so viel Pizza geben. Ich bin pappsatt und kann mich nur noch sehr rudimentär bewegen."
"Rudimentär? Rudimentär? Was kennst du denn für komische Wörter?"
"Worte, in diesem Falle Worte."
"Du bist zu viel mit Flo zusammen. Du bist eindeutig zu viel mit diesem Hetero Florian zusammen."
"Du bist ja tatsächlich besoffen. Wo hattest du denn den Alk her? Und vor allem, warum hast du mir nichts abgegeben?"
"Das war Lippenzeller Hüttengeist. Gab es vorne an der Theke."
"Ich kriege 'ne Krise. Du bist ja echt total verrallert."
"So schlimm ist es ja auch nicht. Und überhaupt, dafür bist du verfressen. So viel Pizza, wie du in dich reingestopft hast."
"Das merke ich auch. Ich kann mich kaum bewegen."
"Dann los", meinte er und begann zu laufen. "Laß uns zum Kochertalweg joggen."
"Bischt bekloppt? Jetzt? Mitten in der Nacht? Es schneit. Es ist kalt."
"Ja und? Hascht Angst?" Damit lief er los. Er lief einfach los in Richtung Kochertalweg. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm hinterherzulaufen. Und irgendwie bewunderte ich ihn, wie er es schaffte, doch noch so gleichmäßig zu laufen, obwohl er doch bestimmt total angesoffen war.
Er kam vor mir an und war auch noch kaum außer Atem. Unter uns lag Bergbach und der Schnee dämpfte jedes Geräusch um uns herum.
"Ich will dich haben. Ich will dich jetzt sofort haben", meinte Nils und umarmte mich.
"Es ist arschkalt. Nils, es schneit. Hallo!"
"Verflucht, ich bin geil auf dich."
Mir ging es genau so, doch es war wirklich einfach zu kalt. Es klappte nichts. Wir froren und bibberten. Arm in Arm taperten wir wieder ins Tal. Mir war es egal, ob uns jemand sah und Nils war in dem Zustand wohl sowieso alles egal. Aber natürlich sah uns niemand. Wer sollte auch nachts um elf im Schneetreiben den Römerberg hochkommen? Wir taperten zu mir. Es war viel weiter als zu ihm, aber irgendwie wollte ich ihn nicht einfach so zu Hause bei ihm 'abliefern'. So, und jetzt liegt er auf meinem Bett und pennt. Einfach nur so, mein Nils, besoffen und pennt. Und ich sitze hier und schreibe Tagebuch. Es ist schon alles ganz schön strange, was hier so abgeht. Ich schließe die Tür ab. Nicht, daß Lisa morgen früh hineinstürmt. Ich mache das Fenster auf. Es schneit immer noch. Ich hasse Schnee. Schnee bedeutet Matsch, Dreck und bedeutet Rumeiern, bis man die Straße runtergegangen ist. Nils schnarcht. Ich liebe Nils. So wie er ist. Einfach nur so. So kompliziert wie er ist. So schwierig, so seltsam, ich liebe ihn einfach.

1 Kommentar:

  1. Tja, Wörter wäre in dem Fall die richtige Mehrzahl gewesen. Wörter sind zusammenhanglose einzelne Wörter. Wie in einem Wörterbuch - und kein Wortebuch.
    Worte hingegen stehen im Zusammenhang und bilden zum Beispiel einen Satz. Große Worte von berühmten Persönlichkeiten sind üblicherweise ganze Sätze mit einer Aussage darin.

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