Samstag, 7. Februar 1998

7. Februar

"Schön, daß du da bist."
Irgendwas hatte mich zum Bahnhof getrieben. Ich wußte, daß Nils' Zug ganz früh losfuhr. Ich brauchte keinen Wecker. Da stand er, mein Nils. Auf dem Weg nach Leipzig. Und er freute sich, mich zu sehen. Er zog mich in eine Ecke vom Bahnsteig, wo uns niemand sehen konnte und gab mir einen langen Kuß.
"Ich drücke dir die Daumen", hörte ich mich sagen. Und das war noch nicht mal gelogen. Was für ein Wahnsinn. An diesem Wochenende entscheidet es sich, ob Nils, mein Nils, irgendwo nach dem Abi in irgendeiner Liga ringt und ich drücke ihm die Daumen, daß er möglichst gut abschneidet und nicht hier bei mir bleibt. Ich muß ja reichlich bekloppt sein!
Der Zug fuhr ein. Ich sah, wie Benji den Bahnsteig langrannte.
"Jeez, der kommt auch mit? Da haben sich ja zwei Verrückte getroffen", lachte ich.
"Sieht ganz so aus", sagte Nils und stieg ein. Ein lange Blick zum Abschied ehe sich die Türen schlossen. Scheiß verspiegelte Scheiben. Der Zug rumpelte aus dem Bahnhof. Ich blickte ihm lange hinterher. Heiko würde nie einem Zug hinterher gucken, nicht mal eine Sekunde. Heiko! Und wie auf Bestellung rief er am Vormittag bei mir an.
"Hi, na du, was geht?"
"Nichts."
"Wieso?"
"Weil es mir scheiße geht. Deshalb."
"Hey, ich war in Stuttgart."
"Ja, ich weiß. Ich habe versucht, dich anzurufen und deine Mom hat gesagt, daß du hier unten bist. Was hast du denn hier gemacht?"
"Ist doch egal."
"Wie? Egal? Warum hast du dich nicht mal gemeldet?"
"Das wäre irgendwie doof gewesen. Ich habe ja keine Zeit gehabt, bei dir vorbeizukommen. außerdem hätte es auch nicht gepaßt."
Es hat nicht gepaßt? Ich frage mich echt, wer hier der Bekloppte ist. Ich hätte ihm eigentlich so viele Sachen an den Kopf werfen wollen, so von wegen, daß er sich ja bestimmt eine Stunde Zeit hätte nehmen können, wenn er schon den weiten Weg von Köln nach Stuttgart gekommen ist. Daß er sich wenigstens hätte melden können, wenn ich ihm irgendwas bedeuten würde. Nichts habe ich gesagt. Ich weiß nicht, warum ich es nie schaffe, Heiko zu sagen, warum ich sauer auf ihn bin. Es geht einfach nicht. Vielleicht liegt es ja da dran, daß ich Angst habe, daß ich ihn dann ganz verliere. Ich weiß es nicht.
"Tim?"
"Ja."
"Bist du noch da? Du sagst nichts."
"Sorry, ich war mit den Gedanken woanders."
"Warum hast du denn bei mir angerufen?"
Warum hatte ich damals bei ihm angerufen? Wegen Marcel und Nils und überhaupt. Aber ich hate keine Lust mehr, ihm das zu erklären: "Keine Ahnung, einfach so."
"Was machen deine Männer?"
"Nils ist in Leipzig, zum Talentscouting."
"Ach du Scheiße. Und du bist nicht dabei?"
"Ich glaube nicht, daß sich auch nur irgendein Trainer für MICH interessieren würde."
"Ich meine ja auch nicht zum Ringen, sondern vielleicht ja einfach um ihm die Daumen zu drücken."
"Vielleicht will ich ja gar nicht, daß er irgendwo anders hingeht?"
"Das ist ein Argument. Und was machst du heute noch? Ich meine, du hast ja jetzt fast sturmfreies Wochenende."
"Hallo? Hast du schon vergessen. Ich habe einen Freund."
"Na und, man kann doch trotzdem Sex haben."
"Mein Gott, kannst du nur an das Eine denken?"
"Was ist denn los mit dir? Bis du sauer?"
"Warum sollte ich sauer sein?"
"Du BIST sauer. Du bist sauer, weil ich nicht Bescheid gesagt habe, daß ich in Stuttgart bin."
"Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist das alles im Moment einfach zu viel für mich."
"Du ertrinkst ja wieder in Selbstmitleid."
"Du bist ja eine ganz tolle Hilfe.
"Wenn du mir nicht sagst, was los ist, kann ich dir auch nicht helfen."
Ich hatte einfach keine Lust mehr, mit Heiko zu sprechen. Es war ihm egal, was ich dachte, es war ihm egal, wie ich mich fühlte. Ich sagte ihm, daß ich mich wieder melden würde und legte auf. Was sollte das bringen? Vielleicht versteht mich ja wirklich keiner außer ich mich selber.
Auf jeden Fall mache ich mich jetzt fertig und gehe zum Training mit Marcel.

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