Donnerstag, 6. November 1997

6. November

"Und? Haben Mom und Dad mit dir gestern Abend gesprochen?"
"Ja. Ach und du hast davon gewußt?"
"Na klar. Sie haben mich ja gefragt, ob ich weiß, was du so machst, wenn du weg bist. Ob ich deine Freunde kenne, ob du trinkst oder Drogen nimmst und so weiter."
"Jeeez! Das ist doch alles nicht wahr! Was MACHE ich denn besonderes? Wieso muß ich unbedingt Drogen nehmen, nur weil ich keine Lust haben, am Sonntagmorgen mit der ganzen Familie den Frühstückstoast zu schmieren?"
"Hey, reg dich nicht bei mir auf. Ich hab dich ja verteidigt. Habe gesagt, daß du eben so viel mit dem Ringen beschäftigt bist und trainierst. Und daß sie sich keine Sorgen wegen Drogen zu machen brauchen, weil das ja nicht zusammengeht."
Ich fand es natürlich toll, daß Phil mich so in Schutz genommen hat. Aber auf der anderen Seite finde ich es gar nicht toll, daß das überhaupt erst nötig ist. Ob ich Drogen nehme...so ein Wahnsinn!
Phil meint, daß ich vielleicht einfach mehr erzählen soll, wo ich hingehe und was ich mache. Na toll. Soll ich etwas sagen, daß ich schwul bin und daß ich bei meinem Freund bin? Ok, naja, ich weiß ja was er meint. Das Blöde ist echt, daß Phil so ein totaler Mustersohn war. Er hat eigentlich fast immer gesagt, wo er hingeht, mit wem und wann er zurück kommt. Aber ich bin eben nicht Phil und ich will auch gar nicht so sein.
"Wie soll das erst werden, wenn ich ihnen irgendwann erzähle, daß ich schwul bin?"
"Um Gottes Willen bloß nicht. Das wäre das totale Desaster. Tim, laß das. Das bringt überhaupt nicht. Ich glaube, Mom und Dad rasten dann aus."
"Ich will aber nicht immer lügen müssen, ich will mich nicht immer für irgendwas entschuldigen müssen oder schämen. Verdammt noch mal, ich liebe einen Jungen. Ja und? Bin ich deswegen schlecht oder weniger wert?"
"Darum geht es doch nicht. Sie haben eben ein Bild von dir. Und zu diesem Bild gehört eben, daß du ein lieber netter Junge bist, der irgendwann eine kleine Freundin heiratet und Kinder kriegt."
"Für's Kinderkriegen bist du doch da."
Phil lachte. Dann wurde er wieder ernst: "Aber ich glaube nicht, daß es in ihrem Plan paßt, daß du schwul bist."
"Was soll denn das heißen...nicht in den Plan paßt? Ich habe meinen eigenen Plan. Das heißt, eigentlich hab' ich ihn nicht. Aber mich kotzt es echt an, daß alle Welt immer glaubt irgendwelche Pläne für mich machen zu wollen. Verdammt noch mal ICH will entscheiden, was ICH mache."
"Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, was du für Nachteile hast, wenn die Leute erfahren, daß du schwul bist? Du kriegst doch keinen Job, wenn das jemand mitkriegt."
"Bis ich einen Job kriege, dauert das noch ewig. Da denke ich doch nicht jetzt dran."
Ich finde es ja wirklich nett, wenn sich Phil über solche Sachen Gedanken macht. Aber das ist doch auch MEIN Ding. Ich muß damit klarkommen. Es ist doch wirklich so, als wenn alle Welt mich an die Hand nehmen will und mir sagen will, wo ich lang gehen soll. Alle haben einen Plan, was mit mir passiert, passieren muß oder passieren könnte. Shit und es sind nicht nur Mom und Dad oder Phil. Es ist auch Nils, der glaubt, genau zu wissen, was für mich richtig ist. Ich frage mich echt, ob ich das noch bin, der hier die Entscheidungen trifft oder ob nicht schon längst alle möglichen anderen Leute sich was für mich ausgedacht haben. Mom und Dad wollen den lieben kleinen Tim, verheiratet und mit Kindern. Phil will das wahrscheinlich auch. Nils träumt immer noch davon, aus mir den großen, toll motivierten Ringer zu machen oder zumindest das ER es war, der es aus mir gemacht hat. Doris träumt davon, daß ich der liebe kleine schwule Tim bin, der immer nur für Nils da ist und nie fremdgeht. Und Heiko...Shit. Selbst Heiko hat Pläne für mich. Hatte Pläne für mich. Die Aktion in der Halle, total geplant. Aber das, verdammt noch mal, das ist endlich mal ein Plan, der total ok war. Der genau DAS war, was ich wollte. Na toll, und schon habe ich wieder Heiko im Kopf. Es ist echt kein Tag, wo ich nicht an ihn denken muß. Zwar nicht mehr so schlimm wie am Anfang, aber denken muß ich immer noch an ihn.

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