Sonntag, 12. Oktober 1997

"Wo hast du denn bisher schon überall Sex gehabt?"
Wir saßen beim Chinesen und ich hatte gerade die zweite Portion gebackene Ente in mich reingeschaufelt, da traf mich Heikos Frage völlig unvorbereitet. Für eine Zehntelsekunde wollte ich sagen 'Was geht dich denn das an?' aber das wäre natürlich Unsinn. Das war wieder Heiko pur. Einfach so locker, easy und selbstverständlich. Und ich erzählte es ihm. Ich weiß nicht, ob es an dem Bier, an dem Pflaumenwein oder an meiner allgemeinen Stimmung lag. Ich war rundum glücklich und zufrieden. Da saß ich also mit Heiko und wir redeten, redeten über Sex und alles andere mögliche und unmögliche.
"Läufst du eigentlich noch immer vor den unangenehmen Sachen weg?"
"Was meinst du damit?"
"Das weißt du."
"Ich will eigentlich nur eines wissen."
"Und was? Mein Gott, nun laß dir doch nicht alles aus der Nase ziehen."
"Warum hast du mich damals, als ich dich angerufen habe, nicht die Sache zu Ende bringen lassen? Warum wolltest du nicht, daß ich den Kontakt abbreche? Wäre das nicht einfacher gewesen?"
"Siehst du, das habe ich dir damals schon gesagt. Natürlich wäre es einfacher gewesen. Aber WOLLTEST du das wirklich? Ich meine, willst du das immer noch?"
"Nein."
"Na siehst du. Außerdem wollte ICH es auch nicht. Und das zählt schließlich auch."
Ich gebe mich geschlagen.
"So, und was machen wir jetzt, wo wir richtig schön vollgefressen sind?"
"Keine Ahnung, ich kenne mich hier nicht aus."
"Wir könnten noch die Reste der Turnier-Party mitnehmen."
Ach ja, das stand auf den Plakaten in der Halle. Es gab ja tatsächlich eine große Party für alle Turnierteilnehmer. Ich weiß auch nicht, warum ich nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, dorthin zu gehen.
"Ich glaube aber nicht", meinte Heiko, "daß da etwas Nettes rumläuft. Ringer sind meist sowieso ziemlich häßlich."
"Wie bitte?!"
"Ok, es gibt einige Ausnahmen. Aber im Allgemeinen mußt du doch zugeben, daß die meisten nicht besonders geil aussehen."
"Ich gehe nicht zum Ringen, weil da so viele geile Jungs rumlaufen."
"Und Nils?"
"Halt Nils da raus. Bitte!"
"Ok, ok. Womit wir noch immer nicht die Frage geklärt haben, was wir jetzt machen."
"Ich weiß es doch auch nicht."
Ich guckte ihn an, blickte ihm in die Augen. Mindestens fünf Minuten saßen wir dort und ich bekam alleine von diesem Blick einen Ständer. Wir brauchten nichts zu sagen. Wir wußten beide ganz genau, was wir wollten.
"Nein Heiko. Das geht nicht. Und überhaupt...wo denn?"
"Laß mich machen."
Ich sagte nichts. Ich trottete wie ein kleines Hündchen neben ihm her. Wieso, wieso nur. Er sagt, laß uns Sex haben und ich springe darauf an. Warum klappt das bei ihm? Woher nimmt er diese Sicherheit, diese Selbstverständlichkeit? Ich bin mir 1000%ig sicher, daß wenn es umgekehrt gekommen wäre, er irgendwas von wegen 'dich hatte ich schon mal' gesagt hätte und das wäre es dann gewesen. Und ich? Ich mache es mit. "Wie Wachs in deiner Hand." Und ich hasse mich dafür. Ich hasse mich dafür, daß ich so leicht zu durchschauen bin, was ich will und dafür, daß es Heiko so einfach bekommen kann. Wir landen im JGH.
"Wir können nicht in mein Zimmer gehen. Wenn Nils zurück kommt. Und Leon ist auch noch da."
Heiko legt seinen Finger auf meinen Mund: "Ganz ruhig, mein Kleiner. Wir gehen nicht in dein Zimmer. Und in meines auch nicht."
Er verschwand für einen Augenblick und kam dann mit seinem Rucksack wieder. Ich merkte, wie mich der Pflaumenwein immer wuschiger im Kopf machte.
"Wo gehen wir hin?" fragte ich ihn noch mal.
"Warte einfach ab und rede nicht so viel."
Er zog mich wieder raus auf die Straße. Und ich, ich trottete wie ein kleines Hündchen mehr hinter als neben ihm her. Mir wurde immer mulmiger. Was mache ich hier, ging mir durch den Kopf. Irgendwie scheinen sich alle Beteiligten darüber einig zu sein, daß Heiko und ich jetzt Sex haben werden. Alle wissen genau Bescheid: Heiko, Matthes, Nils und ich. Was geht hier ab? Für einen Moment kam mir der Gedanke, daß das alles eine abgesprochene Sache ist. Aber das war natürlich Unsinn. Ich weiß den Weg nicht mehr, den wir gelaufen sind. Ich weiß nur, daß wir auf einmal vor der Halle standen.
"Und jetzt?"
Heiko zog mich auf die Rückseite und zeigte mir ein offenes Fenster: "Dann mal rein."
"Wieso is dieses Fenster offen?"
"Du sollst da rein klettern und nicht so viel reden."
Für einen winzigen Moment wurde ich wieder nüchtern: "Wieso ist das Fenster offen?" fragte ich ihn scharf.
"Mein Gott, ich habe es vorhin ausgehakt, bevor ich gegangen bin."
Ich fragte nicht weiter. Ich fragte ihn nicht, WIESO er bereits heute Nachmittag gewußt hat, daß wir am Abend hier landen werden. Ich fragte nicht sondern kletterte durch das Fenster und sprang hinunter. Wir waren in der Umkleide und Heiko zog mich in die Halle. Es war eine total eigenartige Stimmung. Es war dunkel und von draußen schien nur ganz wenig Licht von den Straßenlaternen durch die Glasbausteine. Es war still, die Matten dämpften jeden unserer Schritte. Mein Herz klopfte, ich zitterte und ich weiß nicht, ob es meine Geilheit oder die Angst war, daß wir entdeckt werden. Das war alles so unwirklich, daß war wie in irgendeinem Film. Ich wußte nicht, ob das alles wahr ist oder nur geträumt. Doch es mußte stimmen. Da war Heiko, vor mir. Heiko auf den ich so geil war und für den ich meine Beziehung zu Nils auf's Spiel gesetzt hatte. Heiko griff meinen Arm, zog mich nach unten und setzte zu einem Kopfschwung an. Ich landete schmerzhaft auf der Matte, versuchte mich zu drehen, schaffte es sogar in die Bank doch da war Heiko wieder auf mir drauf. Er fegte meinen Arm weg und nun lag ich ganz unten. Über mir Heiko, ich spürte seinen Atem in meinem Nacken und ich spürte, wie seine Hand langsam unter mein Sweatshirt glitt. Ich weiß nicht wieso, doch ich wehrte mich. Ich wand mich unter ihm. Es war nicht so, als wenn ich ihn nicht wollte in dem Moment. Aber da war es plötzlich wieder dieses Gefühl von Hilflosigkeit ihm gegenüber. Er durfte alles, er konnte alles, er bekam alles. Er bekam mich und das wollte ich so nicht akzeptieren. Ich bockte, versuchte aufzustehen, warf mich auf ihn. Jetzt hatte ich ihn, doch sein verfluchtes Grinsen machte ihn wieder zum Sieger. Ich glaube in dem Moment wäre ich am liebsten aufgestanden und weggerannt. Ich bin nicht weggerannt. Heiko griff um meine Hüfte und drehte mich durch, so daß ich wieder auf dem Rücken landete.
"So leicht mein Kleiner, mache ich dir das nicht", flüsterte er mir zu. Ich versuchte mich zu wehen, doch ich wehrte mich nicht mehr richtig. Ich war einfach viel zu geil auf ihn und mein Sichwehren war entweder nur ein Spiel oder mein Versuch, mir selbst das nicht zuzugeben.
Als wir schließlich fertig waren, unsere Klamotten in der halben Halle verteilt waren und wir atemlos nebeneinander lagen, war mir, als wenn ich schwebte. Heiko stand vorsichtig auf und holte ein Handtuch aus seinem Rucksack. Es war alles geplant, es war alles von Anfang an so geplant schoß es mir durch den Kopf. Doch dann war es mir egal und es machte mich ein klein wenig stolz, daß sich Heiko so viel Mühe mit mir gegeben hatte. Das Fenster auszuhaken, an alles mögliche zu denken. Und jetzt lag ich in dieser Halle, in der ich noch vor ein paar Stunden Heiko besiegt hatte. Ich lag da und Heiko lag neben mir.
"Und?"
"Was und?"
"Wie war es?"
"Geil."
"Schön. Ich fand es auch geil." Er kuschelte sich in meinen Arm. Ich genoß den Augenblick und ich war glücklich. Und ich merkte, wie ich schon wieder Lust auf ihn bekam.
"Ich glaube", sagte Heiko, "wir werden noch viel Spaß zusammen haben."

Der Weg zurück zum JGH. Schweigend. Glücklich nicht. Aber auch nicht unglücklich. Es ist kalt. Und es wird langsam hell. Ich möchte so gerne seine Hand nehmen, doch das geht nicht. Ich kann es nicht und er würde es nicht wollen. Es war ein Wahnsinn, was wir da gemacht haben. Wir sind sogar so verrückt gewesen, daß wir dort hinterher unter die Dusche gegangen sind. Ein komischer Abschied auf dem Weg zu meinem Zimmer.
"Alles klar?" fragte Heiko. Ich nicke. Er tapert davon, ohne sich nur einmal umzudrehen. Ich glaube, wenn es irgendwann mal etwas gibt, wofür ich ihn hasse, ist es das. Ich schleiche mich in mein Zimmer. Nils schläft, Leon schläft. Krieche mit Klamotten ins Bett und kann nicht einschlafen. Greife mein Tagebuch und beginne zu schreiben. Mein Leben, mein verrücktes kleines Leben. Wie soll das weitergehen? Ich merke, daß diese ganz große Verliebheit weg ist. Aber da ist immer noch dieses Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins. Und dann ist da diese Geilheit. Diese Lust auf ihn. Ich weiß auch nicht wieso. Wenn ich mit Nils Sex habe ist es schön und bestimmt ebenso geil. Aber mit Heiko ist es etwas anderes. Vielleicht gerade deshalb weil wir nicht zusammen sind.

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