Mittwoch, 21. Mai 1997

21. Mai

"Willst du echt dafür das Training ausfallen lassen?"
"Ja, ich habe Tobias versprochen, ein paar Schulsachen mitzubringen. Und Kilian hat mir den Stoff für die nächsten zwei Monate kopiert."
Nils nickte: "Ich sage Dimitri Bescheid."
Manchmal kommt mir dieser Verein wie ein Gefängnis vor und Dimitri ist der Oberaufseher.
Zum Glück kam Doris mit, Tobias besuchen. So konnte ich mich wenigstens mit jemandem während der Fahrt unterhalten. Sie wollte natürlich wieder wissen, ob ich Heiko schon angerufen hätte. Ich habe ihr von dem Brief erzählt.
"Wie romantisch."
"Da war nichts romantisches dabei. Es war ein ganz normaler Brief. Und meine Antwort ebenso."
"So langsam frage ich mich, wer von euch am ehesten mit dem Klammerbeutel gepudert ist."
"Wieso?"
"Na er, weil er nicht merkt, was du für ihn empfindest oder du, weil du es nicht fertigbringst, es ihm zu sagen."
"Ich glaube, wenn er jetzt vor mir stehen würde, würde ich es ihm sagen."
"You tell! Das glaubst du doch selbst nicht."
"Ach was weiß ich denn." Die Diskussion brachte nichts und ich blicke aus dem Zugfenster.

Tobias hat sich riesig gefreut, uns zu sehen. Sie haben gestern richtig mit der Chemotherapie angefangen. Er meint, im Moment ist ihm nur kotzübel, aber das wäre auch alles. Am Samstag kommt er zurück. Aber er darf drei Monate nicht in die Schule, weil er sich wohl mit irgendwelchen Infektionen anstecken könnte. Ich bin überrascht, wie gut er das alles wegsteckt. Aber wahrscheinlich zeigt er es und nur nicht, wie es ihm wirklich geht.
"Ich bin ja wirklich froh, daß ich gar nicht weiß, was man alles so für Krankheiten bekommen kann. Ich meine ich habe ja schon tierisch Schiß dafür, was so alles mit Lena passieren kann, jetzt so in der ersten Zeit."
Wir waren auf dem Weg zum Bahnhof. Und ich nickte. Auf dem Bahnhof ist ja dann wieder was passiert, was mir zu denken gibt. Ich glaube, ich bin viel zu leicht zu durchschauen im Augenblick. Doris war nochmal zum Imbißstand getapert, weil sie sich eine von diesen ekligen Käseteilen holen wollte. Ich stand einfach nur da und studeirte den Fahrplan. Natürlich stand ich nicht einfach nur so da und studierte den Fahrplan. Aber egal.
"Wann geht der nächste ICE nach Köln?"
"19:48 Uhr mit Umsteigen in Mannheim", antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
"Nicht mal eine Mark für deine Gedanken", prustete Doris, "du bist so was von durchschaubar."
Es war mir peinlich. Aber Shit, ja, natürlich hatte ich geguckt, wann die Züge nach Köln gehen.
Doris ließ nicht locker. Als wir in unserem Regionalexpress nach Bergbach saßen, fragte sie mich doch allen Ernstes: "Eine kleine heimliche Affäre, wie würde dir das gefallen?"
"Doris, bitte, ich habe Nils und Heiko hat seinen Matthes. Wir beide sind Hunderte von Kilometern weit voneinander weg. Was also meinst du mit Affäre?"
"Ich frage mich nur, wie du es finden würdest, wenn ihr beide eine heimliche Affäre miteinander hättet."
"Da ist nichts heimlich. Meine Güte, Matthes weiß Bescheid und Nils doch auch. Mehr oder weniger."
"Gib es zu, du schwärmst von dem Gedanken, daß ihr euch beide heimlich trefft und eben doch irgendein Verhältnis habt."
"Wir sind doch hier nicht in irgendeiner Soap bei GZSZ."
"Das Leben ist manchmal schriller als jede Soap."
"Ich verstehe dich nicht, ich verstehe dich echt nicht. Was soll das denn jetzt? Erst versuchst du, mir Heiko auszureden und ganz plötzlich willst du ihn mir einreden. Willst mich sogar zu irgend etwas anstiften."
"Ich brauche dich zu nichts anzustiften. Ich brauche dich nur anzuschauen und schon weiß ich genau was du denkst."
Ich schwieg und drückte mein Nase gegen das Fenster. Ich schwieg und wollte die Gedanken vertreiben. Aber sie hatte verdammt noch mal so recht. Das war es was ich wollte. War es das tatsächlich? Ich glaube, ich hatte diesen Gedanken schon tausendmal vorher gehabt und ihn immer wieder weggewischt. Was war es denn nun? War es tatsächlich Liebe?
"Wie soll ich denn bitteschön eine Affäre mit ihm hinbekommen? Erstens, einfach ganz rein praktisch, wohnt er in Köln und ich in Bergbach. Sind ja nicht gerade die besten Voraussetzungen. Und dann...", ich hielt es nicht mehr aus auf dem Sitz und ging auf und ab. Zum Glück war niemand sonst in der Nähe. "Und dann, WEISS er es doch gar nicht, was ich für ihm empfinde. Wie soll denn daraus irgendwas entstehen?"
"Wenn ihr schon nicht miteinander reden könnt, dann kannst du es ihm ja schreiben."
"Toll, so einen richtig tollen Liebesbrief, mit Herz und Schmerz?"
"Warum nicht?"
Ich ließ mich wieder in meinen Sitz fallen und gab es auf. Was sollte ich ihr widersprechen, wenn sie sowieso in so vielen Sachen recht hatte? Den Rest der Zugfahrt starrte ich nach draußen. Und ich glaube, ich hatte Tränen in den Augen.

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