Mittwoch, 1. Januar 1997

1. Januar

"Hey, du hast Glück. Da ist sogar jemand für dich da", flüsterte Tassi und grinste spöttisch. Ich guckte ihn nur fragend an: "Was meinst du?"
"Siehst du den Typ da hinten mit den dunklen Haaren? Das ist irgendein Kumpel von Varis Schwester. Und der ist garantiert schwul!"
"Woher willst du denn das wissen? Hast du jetzt den Sechsten Sinn für Schwule entwickelt?"
"Bei DEM merkt man das sofort", Tassi lachte und machte sich davon. Als ich diesen Typ dann das erste Mal reden hörte, wurde mir klar, was Tassi gemeint hatte. Himmel, wie kann man nur so tuntig reden? Das Dumme war nur, daß ich aus welchen Gründen auch immer, permanent zu ihm rübergucken mußte. Das schien er bemerkt zu haben, denn irgendwann setzte er sich neben mich: "Hi, ich bin Maik."
"Und ich Tim."
"Wo gehörst du denn hin?"
"Ich war in einer Klasse mit Tassi, Dommes und Vari."
"Wieso warst? Jetzt nicht mehr?"
"Nein, ich bin nach Schwaben gezogen", maulte ich mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
"Igitt", kreischte er, "das ist ja abartig." Da wäre ich zum ersten Mal am liebsten unter den Teppich gekrochen.
"Also ich komme ja aus Berlin." Während er das sagte, legte er mir seine Hand auf den Arm. "Naja, eigentlich aus Brandenburg, aber zum Weggehen ist Berlin ja optimal."
Ich nickte und wollte nur weg. Wie konnte man denn nur so tuntig sein? Ich meine der Typ ist genauso alt wie ich und benimmt sich total affig. Ich guckte mich um, ob ich irgendjemanden sah, der mich retten könnte. Doch in dem Gewühle entdeckte ich niemanden. Ich entschuldigte mich und sagte, ich würde mir noch ein Bier holen wollen. Das war ein ziemlicher Fehler, denn er fragte, ob ich ihm eins mitbringen könnte. Shit, also verbrachte ich die nächste halbe Stunde in seinem Redeschwall und hörte mir geduldig an, daß er ja DER begnadete Maler wäre und überhaupt und bla, bla. Endlich schaffte ich es, mich nach draußen abzusetzen. Der eiskalte Wind brachte mir ein bißchen meinen Verstand zurück. Tassi kam mir hinterher. "Na wie gefällt's dir?"
"Ganz nett, aber dieser Typ ist ja grauenhaft."
"Aber der ist doch auch schwul, oder?"
"Meine Güte, nur weil der zufällig auch schwul ist, heißt das doch noch lange nicht, daß ich ihn gut finden muß."
Tassi zuckte mit den Schultern und verschwand wieder nach drinnen. Ich blickte in das schwarze Wasser vom Fleet.
"Ach hier bist du!" Das war Maiks Stimme. Plötzlich fühlte ich seine Arme um meine Hüfte: "Ich habe dich schon gesucht."
Ich war so verblüfft, daß ich stocksteif dastand und mich nicht rührte. Dann drückte er sich an mich: "Ich finde dich süß."
Endlich kam ich wieder zur Besinnung und drehte mich um: "Hey, was soll denn das?"
"Oh, sorry, ich hätte wissen müssen, daß du einer von diesen verklemmten Heteros bist."
"Ich bin kein verklemmter Hetero. Ich bin, ich bin...", ich beganng zu stottern, "Ich bin, wenn du es genau wissen willst, wahrscheinlich genauso schwul wie du." Das war der erste Augenblick an diesem Abend, wo er schweigend und sprachlos war. Doch dieser Zustand dauerte nicht lange: "Und warum hast du dich dann so zickig?"
"Zickig?"
"Du tust ja gerade so, als würde ich dich vergewaltigen wollen."
"Das ist es nicht. Es ist nur, es ist, ach ich weiß nicht, ich war vielleicht einfach nur überrascht. Und außerdem habe ich einen Freund."
"Oh, wo ist er denn?"
"Nicht hier, er ist mit seinen Eltern zum Skifahren."
"Oh, und dann läßt er so ein Goldstück wie dich ganz alleine nach Hamburg fahren? Einfach unverantwortlich." Sein Spott war unüberhörbar. "Ach dir geht's gut, ich habe keinen Freund."
Kein Wunder, dachte ich, doch tatsächlich sagte ich: "Es hat auch lange gedauert, bis ich jemanden gefunden habe. Aber in Berlin ist es doch bestimmt leicht jemanden kennenzulernen."
"Oh, jemanden kennenzulernen ist total einfach. Ich lerne jedesmal jemanden kennen, wenn ich am Wochenende in der Busche bin."
"Wo?"
"In der Busche. Das ist die größte schwule Disco in Berlin."
"Eine schwule Disco?"
"Ja Mann, echt cool. Das Problem ist nur, die Typen, die du da kennenlernst, kannst du nach einer Nacht schon in die Tonne treten." Ich stellte mir vor, wie das wohl ist, eine ganze Disco nur mit schwulen Typen. Irgendwie total unvorstellbar. Mir wurde kalt und ich ging rein. Maik taperte mir hinter. "Habt ihr bei euch keine schwulen Läden?"
"Wie, was meinst du. Schwule Discos? Nein. Es gibt 'nen ganz guten Techno und House Laden in Stuttgart, da gibt es ein paar, aber das ist auch alles."
"Kein Wunder, daß du so verklemmt bist."
"Ich bin nicht verklemmt!" schrie ich ihn an. Die Party stieg eigentlich im ersten Stock des Speichers. Aber wir waren einfach einen Stock höher gegangen und hatten eine stillte Ecke gefunden und so hallte meine Stimme durch den Raum. "Dann beweise mir doch das Gegenteil", flüsterte er kaum hörbar und plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen. Und was dann passierte...Shit, es war so geil...aber ich wünschte, es wäre nie passiert. Wir küßten uns und er küßte wirklich so toll, daß ich ganz hin und weg war, vielleicht war es auch der Alk, ich weiß nicht. Und es blieb es nicht dabei, verdammte Scheiße, nein! Irgendwann ging er mir an die Hose und begann, mir einen runterzuholen und zu blasen. Ich wollte ihn wegstoßen, doch gleichzeitig war es so geil, war ich so geil, daß ich mich einfach fallenließ und mitmachte. Ja, auch ich fing an, ihn einen runterzuholen. Erst als ich gekommen war, kam ich wieder richtig zu mir. Shit, was hatte ich gemacht? Draußen flogen die Sylvesterraketen durch die Hamburger Nacht und ich, ich habe in einem stinkigen Speicher mit einem anderen Jungen rumgemacht. Ich wollte einfach nur aufspringen und losrennen. Doch irgendetwas hielt mich zurück. Maik grinste: "Na, wie war es?"
"Es war ok", log ich und am liebsten wäre ich im Boden versunken. Ich ekelte mich vor mir selber. Was hatte ich getan? Ich hatte Nils, meinen liebsten Nils betrogen. Endlich schaffte ich es, mich aufzuraffen. "Ich muß etwas an die frische Luft", sagte ich. Ich fand meine Jacke und ging nach unten wo die ganze Crowd stand. Ich sagte Tassi, daß ich ein bißchen spazieren gehen würde und setzte mich ab. Ich begann zu laufen. Einfach drauflos. Die Zöllner guckten mich ganz schön komisch an, aber das war mir egal. Überall Feuerwerk, fröhliche Menschen auf den Straßen. Ein neues Jahr. Und dazwischen ich. Mir war, als würde es mir jeder ansehen. Schaut her, dieser Junge hat gerade eben seinen Freund betrogen. Ich begann zu rennen, wollte die Gedanken loswerden, den Geschmack von Maiks Küssen vertreiben. An den Landungsbrücken hielt ich völlig außer Atem an. "Nils, mein liebster Nils, das wollte ich nicht! Ich wollte dich nicht betrügen!" Ich schrie, ich schrie es in die Nacht. Die Tränen schossen mir in die Augen. Verdammt nochmal, was würde er sagen, wenn er davon erfährt? Ich bin ein Idiot, Ich hasse mich dafür, daß ich für diesen Moment so schwach geworden bin. Irgendwie schaffte ich es, zurückzukommen. Das heißt zu Oma nach Hause. Alles schlief zum Glück schon. Meine Family war nie groß darin, Sylvester zu feiern. Nur Phil schien noch weg zu sein. Es ist kurz nach zwei. Ich sitze hier, heule und fühle mich so was von elend. Ich hasse mich, was habe ich getan?


16:00
"Deine Feier war wohl nicht so toll gestern, was?"
"Wieso?"
"Du bist ja schon so früh zurückgekommen."
"Ja, es war ziemlich öde."
Ich glaube, das war das Einzigste was ich den ganzen Tag gesagt habe. Meine Gedanken kreisten die ganze Zeit nur um die Szene mit Maik und wie wohl Nils darauf reagieren würde. Ich will ihn doch nicht verlieren. Was ist das nur für ein Leben?


18:30
Gerade hat Tassi angerufen und gefragt, warum ich verschwunden bin, Es war wohl noch eine ziemlich geile Party. Ich habe ihm gesagt, daß ich es nicht einfach so am Telefon erklären kann. Wir haben uns für morgen verabredet.


23:45
Ich kann nicht schlafen, ich bin schon zum zweiten Mal aufgestanden und unter die Dusche gesprungen. Ich fühle mich so dreckig, will alles abwaschen, was mich an diesen Maik erinnert. Doch die Gedanken kann ich nicht abwaschen. Sie bleiben in meinem Kopf eingebrannt.

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