Mittwoch, 1. Mai 1996

1. Mai

11:10
»Was machen wir eigentlich dieses Jahr im Urlaub?«
Oh Shit! Diese Frage hatte ich früher oder später erwartet. Und natürlich ging die Diskussion vom letzten Jahr wieder los. O.k., ich gebe zu, ich wüßte nicht, mit wem ich hier aus der Schule überhaupt in die Ferien fahren würde. Mom und Dad versprachen, es wäre das letzte Jahr, in dem ich mit ihnen mitfahren »muß«. Na, ich bin ja mal gespannt, ob sie sich daran im nächsten Jahr noch erinnern. Dad hat vorgeschlagen, nach Italien zu fahren, in das Haus eines ehemaligen Kollegen aus Hamburg. Da niemand einen anderen Vorschlag machte, wird es wohl also Italien sein, irgend ein kleiner Ort, von dem ich den Namen schon wieder vergessen habe, südlich von Venedig. Na ja, wenn’s sein muß.


23:15
Ich weiß nicht, ob es gut ist oder schlecht. Ich weiß eigentlich gar nichts im Moment. Irgendwie bin ich erleichtert, aber irgendwie hab ich auch tierischen Schiß. Es war am Anfang eigentlich mit Doris wie immer. Wir quatschten über die Schule, die Leute. Irgendwann platzte sie dann heraus: »Sag mal, was läuft eigentlich zwischen dir und Tobi?«
»Wieso? Was soll da laufen? Er nervt mich einfach nur tierisch im Moment.«
»Weil er mit Meike zusammen ist, stimmt's?«
In mir läuteten alle Alarmglocken. Ich versuchte, eine witzige oder wenigstens kluge Antwort zu geben, doch ich konnte nicht mehr klar denken, und so stotterte ich nur irgendwas wie: »Nein, wieso, was hat denn das mit ihr zu tun?«
»Ach komm Tim, wir kennen uns zwar noch nicht so lange, aber ich bin nicht blind. Ich sehe doch was mit dir los ist.«
»Wieso, was ist los?« Shit, warum habe ich das Gespräch nicht einfach an dieser Stelle abgebrochen? Doris Stimme blieb ruhig, fast sanft: »Ich glaube, du bist in Tobias verknallt, Tim. Und ich glaube, du bist schwul.«
In mir drehte sich alles. Ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoß. Mir wurde schwindelig, und ich konnte nicht mehr klar denken: »So ein Blödsinn«, mehr brachte ich nicht heraus. Doch Doris sprach weiter: »Ich wußte es in dem Augenblick, als ihr zusammen bei mir auf der Party gewesen seid. So wie ihr zusammengesessen habt, so wie du ihn angeguckt hast.«
Ich weiß nicht, wieso, vielleicht war es die Erinnerung an diesen Abend, ich habe plötzlich angefangen zu heulen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal, während jemand dabei war, geheult habe. Ich konnte irgendwie gar nicht mehr aufhören.
Doris nahm mich in den Arm, und ich habe alles rausgelassen, ihr alles erzählt. Wie sehr ich mich in Tobi, meinen Tobi verliebt habe oder vielleicht auch noch bin. Wie weh es tut, ihn zusammen mit dieser Ziege zu sehen. Wie alleine ich mich so oft fühle.
»Vielleicht hast du dir zum Start einfach den falschen Jungen ausgesucht«, meinte sie.
»Wen hätte ich mir denn aussuchen sollen?« Überhaupt, was heißt den aussuchen? Das ist ja leider nicht so wie im Kaufhaus, wo man hingeht und sich einen Typen aussucht. Wenn es einen erwischt, kann man nicht dagegen machen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ehrlich gesagt, bist du erst der zweite Schwule, den ich in meinem Leben treffe. Und ich glaube nicht, daß du den ersten kennenlernen willst, das ist nämlich mein Onkel, und der wohnt in Karlsruhe.«
»Und Tobias?« fragte ich.
»Ich glaube nicht, daß er schwul ist. Er ist verklemmt, ein bissele schüchtern, aber bestimmt nicht schwul.«
Für eine Sekunde habe ich gehofft sie würde sagen: ›Ja, er ist auch schwul‹, oder wenigstens jemand anderes aus der Klasse. Ich habe ihr erzählt, daß Tobi mir diesen Zettel geschrieben hat und daß er mit mir reden möchte. Doris meint, ich soll mit ihm reden, ihm aber nichts von meinem Schwulsein erzählen.
»Ich kann ihn nicht einschätzen«, sagte sie, »aber ich weiß, wie die anderen hier reagieren würden.«
»Du mußt mir versprechen, niemandem etwas zu erzählen.« In dem Moment, als ich das gesagt hatte, war mir klar, wie dumm das klingen mußte. Doch ich war beruhigt, als sie meinte: »Großes Ehrenwort.«
Wir haben noch ewig weitergeredet. Darüber, wie ich es zum ersten Mal selber gemerkt habe, wie es ist, andere Jungs nur für ein paar kurze Minuten zu haben. Als ich mich irgendwann verabschiedete, meinte sie: »Ich bin mir sicher, daß du jemanden finden wirst. Du darfst nur nicht krampfhaft danach suchen. Und bis dahin kannst du jederzeit zu mir kommen, wenn du mit jemandem reden willst.«
Auf dem Weg hierher ist meine Stimmung ständig hin und her geschwankt, irgendwas zwischen Erleichterung und panischer Angst. Jetzt, wo ich das hier schreibe, denke ich aber, daß es so, wie es ist, gut ist. Ich habe jetzt jedenfalls jemanden, mit dem ich reden kann, auch wenn es nur ein Mädchen ist.

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