Freitag, 9. Mai 1997

9. Mai

"Wo ist denn Nils heute?" fragte mich Flo.
Ich wußte es nicht. Doch ich ahnte es. Und ich hatte ein miserables Gefühl. Jede Minute hoffte ich, daß er doch noch kommen würde. Aber nichts passierte. 

Als der Gong, das Ende der letzten Schulstunde markierte, sprang ich auf und raste los. Ich trat in die Pedale, wie noch nie. Vor Nils' Haus war ich das Rad auf den Rasen und klingelte, klingelte wie wild. Gottseidank, Nils machte auf.
"Du warst heute nicht in der Schule."
Wortlos drehte er sich um und taperte in Richtung seines Zimmers.
Da standen wir. Wortlos gegenüber.
"Ich habe nachgedacht."
Shit, das klang nach nichts Gutem, mir wurde heiß und kalt.
"Vielleicht brauchst du das ja wirklich, das mit den anderen Jungs. Verdammt, ich will dich nicht verlieren."
Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest.
"Es ist ok. Es ist ok, wenn du immer wieder zu mir zurückkommst."
Ich blickte ihn an. Vor mir stand mein Nils, mein Nils, der immer so stark war. Und auf einmal so zerbrechlich erschien. Was hatte er gesagt? Ich verstand es nicht, nein, ich konnte es nicht glauben. "Woher wußtest du es?"
"Du warst so anders. Entweder warst du mit deinen Gedanken so weit weg, oder du hast nur noch gestrahlt. Du hattest so ein komisches Lächeln auf dem Gesicht manchmal. Und außerdem, daß du auf einmal wie ein Bekloppter trainierst, alles was mit dem Ringen zu tun hat wie ein Schwamm aufsaugst und wie ein Wildgewordener ringst, das paßt alles nicht zu dir."
Ich nickte: "Ich will gegen ihn gewinnen. Irgendwann mal."
Nils blickte mich verwirrt an: "Gegen Heiko? Wieso? Wenn ich mich richtig erinnere, hast du doch im Trainingskampf gegen ihn gewonnen."
"Er hat mich gewinnen lassen. Ich bin mir absolut sicher, daß er mich hat gewinnen lassen."
"Und warum willst du gegen ihn gewinnen?"
"Ich weiß es nicht. Doch ich weiß es, um ihn zu beeindrucken."
"Um ihn zu beeindrucken? Was soll denn das für ein Unsinn sein?"
"Nils, ich weiß es nicht. In meinem Leben ist seit einiger Zeit so eine Menge Unsinn, den ich nicht erklären kann. Ja, um ihn zu beeindrucken, ihm zu imponieren, was weiß ich."
"Und was meinst du, erreichst du damit?"
"Ich weiß es nicht."
"Deswegen also die Sache mit dem Fritz-Hill-Turnier."
"Ja."
"Vergiß es. Wirklich, das ist griechisch-römisch. Das ist ein ganz andere Stil. Da würde ja sogar ich alt aussehen." Er lächelte. Und dieses Lächeln tat mir gut. Wir umarmten uns.
"Ich hab' dich lieb", flüsterte er in mein Ohr.
Ich drückte ihn so fest wie es ging als Antwort.
Wir haben den Rest des Nachmittags und des Abends zusammen verbracht. Wir haben nicht viel geredet. Wir brauchten nicht reden.

Ich glaube, im Moment geht es mir ganz gut.

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