Montag, 17. Februar 1997

17. Februar

"Was wünschst du dir eigentlich zum Geburtstag?" fragte mich Mom beim Frühstück. Ich guckte sie gequält an. "Keine Ahnung", meinte ich, "das ist ja noch so lange hin." "Lange? Noch nicht mal zwei Wochen." Ich habe echt keine Ahnung. Und überhaupt finde ich es ziemlich unspannend 17 zu werden. Ich meine 18 wäre ja was anderes, aber so. Naja und deshalb habe ich das natürlich aus meinem Kopf verdrängt.

Beim Training war heute Videoanalyse vom Wettkampf vom Samstag angesagt. Was eine ziemliche Blamage war, weil Dimitri überhaupt nichts zu meinem Kampf gesagt hat sondern nur einfach wortlos vorgespult hat. Als das Training zu Ende war, saß ich auf der Matte und war in Gedanken irgendwo. Ich kann gar nicht sagen, wo ich wirklich war, es ging mir eigentlich gar nichts durch den Kopf. Plötzlich sprach mich jemand von hinten an: "Na, wie ist es dir ergangen in den letzten Monaten?" "Nicht sonderlich gut. Ich verliere." "Was hast du erwartet?" "Gar nichts. Ich wollte schließlich nicht in die Mannschaft. Anscheinend sind aber alle anderen Leute der Meinung, daß ich da reingehöre." "Und warum gehst du dann nicht einfach? Ich meine, warum bist du noch hier, warum ringst du überhaupt noch?" Ich guckte ihn verblüfft an. Ich konnte nichts in seinem Gesicht lesen. War das ein Scherz? War das eine Aufforderung, tatsächlich zu gehen? "Ich habe keine Ahnung." "Warum?" fragte er mit unbewegten Gesichtsausdruck. "Ich weiß es echt nicht. Ich meine, es macht Spaß, ja, es macht Spaß, mehr aber auch nicht", ich redete mich richtig in Wut, "es kann doch verdammt nochmal nicht jeder ein Olympiaringer werden!" "Sicherlich nicht. Aber wenn man so eine Sportart wie Ringen betreibt, dann sollte man sie auch mit Leib und Seele machen. Oder willst du vielleicht nur jemanden damit beeindrucken, daß du ringst?" Na toll, wie auf Stichwort kam Nils aus der Umkleide: "Tim, wo bleibst du denn?" Dann sah er Werner, grinste und verschwand. "Wen soll ich den bitteschön beeindrucken? Meine Familie findet diesen Sport total abartig." "Ich weiß nicht, vielleicht gibt es ja ein Mädchen bei dir in der Schule." "Es gibt verdammt nochmal kein Mädchen, das ich beeindrucken will, damit das klar ist!" Ich schrie und Werner grinste nur: "Schon gut, schon gut." Ich kam mir so albern vor. Wie ein kleiner Schuljunge, der wegen irgendeiner Sache verhört wurde. Warum muß ich mich denn überhaupt rechtfertigen? "Zeige mir mal, was du gelernt hast", mit diesem Worten kam er auf mich zu. Nein, nicht schon wieder. Das hatten wir doch schon mal. Er griff an und ich hatte natürlich nicht die Spur einer Chance. Aber ich kämpfte. So ganz ohne Gegenwehr wollte ich nicht aufgeben. Ich blockte, klemmte ab, duckte mich, machte mich so flach wie es ging. Ich weiß nicht wie sehr er mit mir spielte, aber es dauerte eine ganze Weile, bis er mich schließlich geschultert hatte. Ich war völlig fertig und außer Atem, er war frisch als käme er gerade von sonstwo. "Nun ja, immerhin besser als noch vor einem halben Jahr. Aber was dir fehlt ist der Wille, zu gewinnen. Du kannst doch so toll explodieren und rumschreien. Warum kannst du diese Energie nicht zum Kämpfen einsetzen? Ich denke mal, du hast immer noch Angst." Was wußte dieser Typ schon von meiner Angst? Ich habe keine Angst mehr, ich habe allen möglichen Leuten erzählt, daß ich schwul bin, ich habe einen Freund. Ich habe keine Angst. Vor gar nichts. Mit einem "Denke mal darüber nach", entließ er mich und ich taperte zur Umkleide. Dort saß Nils und fummelte an seinem Walkman rum, die anderen waren alle schon weg. "Na? Einzelstunde bekommen?" "Ach vergiß es. Eine Runde Psychotraining für den armen, kleinen, dummen Tim." "Manchmal braucht man so was." Ich finde es ja irgendwie ganz toll, daß anscheinend alle Welt so um mein Wohlergehen besorgt ist, aber ich bin sicher, ich schaffe es ganz alleine. So wie ich bisher auch alles ganz alleine geschafft habe. "Gehen wir noch zu McDonald's?" fragte ich, um das Thema zu wechseln. "Oh, du weißt doch, das ist ein absolutes No-No", antworte Nils grinsend, "wenn das Dimitri mitkriegt." "Das ist mir so was schon scheißegal!" Und das war noch nicht mal gelogen. Also stopften wir uns mit Cheeseburger, Pommes und Milchshakes zu, bis wir pappsatt waren. Der Weg nach Hause war eine einzige Schneeballschlacht bis wir uns schließlich an unsere Kreuzung in den Armen lagen. Nils' Gesicht glühte. "Bis morgen, mein Schatz", ich küßte ihn auf die Stirn und sah ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war. Ich ging ein paar Schritte, als mir plötzlich so war, als hätte ich was gehört. Ich drehte mich um. War das ein Schatten, der hinter mir im Torbogen verschwand? Ich ging zurück aber ich sah niemanden. Ich beschloß, daß ich wahrscheinlich unter Verfolgungswahn leide. Der Schatten tauchte jedenfalls nicht mehr auf.

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