Samstag, 19. Oktober 1996

19. Oktober

"Partytime."
"Und wenn schon."
"Hey, was ist denn los?"
Wenn ich das wüßte. Obwohl, eigentlich weiß ich es ja. Ich fühlte mich wieder einmal total fehl am Platz. Große Party zusammen mit den Bottropern. An die 60 Leute feiern Party, haben Fun. Selbst Doris scheint sich prächtig zu amüsieren. Und ich, ich langweile mich und merke, wie ich zunehmend sauer werde. Also habe ich mich abgesetzt. Sitze am Strand und merke, wie die Kälte in mir hochsteigt. Doch diesmal geht es mir nicht mehr gut. Ich fühle mich allein. Ganz allein auf der Welt. Alle Leute können Spaß haben. Nur ich habe niemanden. Und ich merke, wie ich sauer werde. Sauer auf alle anderen, die sich amüsieren, für die das ganze Leben kein Problem ist. Oh, da sind niedliche Mädels im Nachbarhaus? Na klar, laß uns rübergehen und sie anbaggern. Und ein paar Tage später sitzt man knutschend in der Ecke. Es könnte alles so einfach sein. Doch warum ist es für mich nicht so einfach? Warum verdammt noch mal, bin ausgerechnet ich schwul? Was habe ich denn verbrochen? Irgendwann halte ich die Kälte nicht mehr aus. Mit Tränen in den Augen gehe ich zurück zum Haus. Zum Glück bemerkt mich niemand. Ich gehe auf's Zimmer und heule. Heule und merke überhaupt nicht, daß jemand reinkommt: "Hier steckst du. Was ist denn los mit dir?" Doris stand in der Tür. "Es geht mir einfach nur nicht besonders."
Sie schaltet das Licht an, sieht meine Tränen. "Du meine Güte, was ist denn passiert?"
"Es ist nichts passiert. Es ist einfach nur wie immer, das ist es."
"Ach komm, willst du hier im Zimmer bleiben und still vor dich hinheulen?"
"Soll ich vielleicht mit den anderen Party machen und mit irgendwelchen Mädels rumbaggern?"
"Du könntest ja mit Jungs rumbaggern."
"Sehr witzig. Du bist ja ne tolle Hilfe."
"Verdammt noch mal, du gehst mir langsam echt auf die Nerven mit deinem ewigen Selbstmitleid."
"Oh, entschuldige, daß ich überhaupt lebe."
"Denkst du denn, du bist die einzige Person auf der Welt, die Probleme hat?"
"Na ich glaube, DIE Probleme hat hier jedenfalls niemand anderes."
"Siehst du, genau das ist es. Es geht immer nur um dich. Deine Probleme, darum wie es dir geht, wie alleine du dich fühlst. Vielleicht fängst du mal an, etwas daran zu ändern."
"Oh ja, und wie?"
"Was weiß ich! Ich bin nicht dafür da, deine Probleme zu lösen!"
Eigentlich wollte ich was antworten, aber sie hatte schon die Tür zugeworfen. Da saß ich wie der absolute Depp. 'Denkst du denn, du bist die einzige Person auf der Welt, die Probleme hat?' Was hatte sie denn damit gemeint. Hat sie denn irgendwelche Probleme? Mir ist jedenfalls noch nie was in der Richtung aufgefallen.
So eine Scheiße. Ich gehe ihr hinterher aber sie ist nicht bei den anderen. Ich gucke draußen. Nichts zu sehen. Dann finde ich sie endlich am Watt. "Was ist denn los mit dir", will ich wissen
"Ach vergiß es. Du wirst es sowieso noch früh genug erfahren."
"Was denn? Hast du Streß mit Clemens?"
"Nein, wirklich nicht. Naja, eher im Gegenteil."
"Im Gegenteil?" Ich hasse es, wenn Leute in Rätseln und Andeutungen reden. Na toll, dann antwortet sie auch nicht mehr. Ich stelle mich direkt vor sie hin: "Also, du sagst mir jetzt sofort was los ist." Wow, das klingt wirklich dramatisch, fast wie im Film.
"Spätestens im April weiß du es."
"April, April, was ist im April?" Langsam vermutete ich was, doch das war eigentlich undenkbar. Doris grinste mich an: "Nicht nur schwul, sondern auch ein bißchen blind, was?"
"Borrh", was machte sie die Sache denn so spannend. Ich war wirklich nahe dran, sie hier stehenzulassen.
"Ich bin schwanger."
"Was bist du? Schwanger?" Ich mußte wieder mal gebrüllt haben, denn sie meinte: "Schrei' doch noch lauter, damit es gleich die ganze Insel weiß."
"Ich meine...", ich fing an zu stottern, "schwanger, wieso schwanger?" Eine unglaubliche Vorstellung. Weil schwanger wird man doch mit Mitte, Ende Zwanzig, wenn man mit der Schule oder dem Job fertig ist, aber doch nicht in der elften Klasse!
"Na wieso schwanger ist ja eine selten bekloppte Frage. So was solltest selbst du als Schwuler wissen, wie das funktioniert."
"Na klar weiß ich das, aber wieso, ich meine warum? Man kann doch die Pille nehmen."
"Du Chauvi. Man kann nicht die Pille nehmen...frau muß die Pille nehmen, oder auch nicht." Ach herrjeh, jetzt hatte ich ja was gesagt. Darauf wollte ich mich nicht einlassen und fragte sie: "Und wann ist es soweit?"
"Irgendwann Ende April." Irgendwie fand ich es toll, wie coll sie damit umgeht. "Weiß Clemens es schon? Und deine Eltern?"
"Ja, na klar."
Sie erzählte mir, daß ihre Eltern wohl total locker reagiert hätte. Sie würden sich wohl Sorgen wegen der Schule machen, aber nachdem Doris ihnen gesagt hat, daß sie auf jeden Fall ihr Abi zu Ende machen will, waren sie wohl beruhigt. Und Clemens freut sich wohl wie ein Schneekönig.
"Und wann willst du es in der Schule sagen?"
"Ich weiß noch nicht, ein, zwei Monate würde ich schon noch warten wollen." Ich wollte sie eigentlich noch so viel fragen, zum Beispiel, wie man sich so fühlt, aber irgendwie hätten alle Fragen total blöde geklungen. Doch, eine Frage konnte ich nir nicht verkneifen: "Weiß du schon, was es wird? Junge oder Mädchen?"
"In drei Wochen beim Ultraschall erfahre ich es, wenn ich es will."
"Und willst du?"
"Ich weiß noch nicht."
Irgendwie finde ich das Ganze total cool. Heee, Doris kriegt ein Baby. Es fällt mir schwer, mir sie mit Kinderwagen vorzustellen.
"Warum hast du denn vorhin von Problemen geredet? Es sieht so aus, als wenn du das alles ziemlich locker siehst."
"Ja eigentlich schon. Aber manchmal ist mir halt einfach nur kotzübel, ich hab Bauchschmerzen und so weiter. Und manchmal kriege ich richtig Depressionen und Panik."
Ich nahm sie in den Arm und drückte sie. Ganz vorsichtig, ich weiß ja nicht, ob man da das Baby eventuell mit eindrückt: "Tut mir leid, daß ich dich vorhin so angeschrien habe", flüsterte ich. "Schon ok", lächelte sie, "du darfst auch mal babysitten, wenn es da ist." Nun ja, ich gebe zu, die Aussicht, daß ICH mit einem Kinderwagen durch die Gegend schiebe finde ich nicht so aufregend.

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