Donnerstag, 9. Oktober 1997

9. Oktober

"Schon gehört? Sie haben Max beim Sprayen erwischt."
"Ja und?"
"Jetzt wird überlegt, ob er vielleicht von der Schule fliegt."
"Wie? Nur weil er gesprayt hat? Das ist doch beknackt. Ich habe in Hamburg die halbe Köhlbrandbrücke zugetagged und bin auch nicht von der Schule geflogen."
"Erzähl doch keinen Scheiß, als wenn DU irgendwas in Hamburg getagged hättest. Außerdem ist das was anderes. HIER ist es anders."
"Den Eindruck habe ich auch. Wo hat er denn überhaupt gesprayt?"
"Unten, die Rampe am Bahnhof."
Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Daß sich das überhaupt jemand in diesem kleinen Kaff traut.

Ich weiß nicht, warum alle Leute so einen Schiß vor der Oberstufe hatten. Ich finde das eigentlich ganz erträglich und nicht schlimmer als vorher. Mathe geht, Physik und Franze gehen, sogar Deutsch ist ganz erträglich. Na und den Rest kann man ja eh vergessen. Aber ich bin jetzt in der Oberstufe. Ich bin einer von den großen. Ich stehe auf dem Schulhof mit den anderen "Erwachsenen". Ich weiß noch genau, wie das auf dem GySue war, die Leute in der Oberstufe waren unerreichbar weit weg, schwebten über allem, waren so cool, so erwachsen. Und jetzt gehöre ich selber dazu und fühle mich gar nicht so cool oder erwachsen. Eigentlich habe ich nur noch mehr Probleme, die mir durch den Kopf gehen als früher. Ich denke über viel mehr Dinge nach, drehe alles zigmal herum, bevor ich überhaupt eine Entscheidung treffe und dann glaube ich hinterher auch noch, daß sie falsch ist. Ständig habe ich Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun und damit Nils oder Heiko zu verärgern. Und bei anderen bin ich wieder total unverschämt und rotzig.

Das letzte Training vor Leipzig. Nur noch ganz leichte und lockere Sachen. "Damit du dich nicht verletzt", meinte Mahmout. Er ließ sich meine Lieblingsgriffe zeigen, gab hier und da ein paar Verbesserungsvorschläge aber meinte, ich wäre gar nicht schlecht. Er macht ein total anderes Training als Dimitri. Es ist nicht leichter oder weniger anstrengend, aber es ist meilenweit angenehmer. Ein komisches Gefühl, aus der Halle heute zu gehen. Wenn ich zurückkomme, am Montag, wird alles vorbei sein. Egal, wie es ausgeht, es wird vorbei sein und ich werde Heiko wiedergesehen haben.

"Schlaf schön", meinte Nils, "ist schließlich deine letzte Nacht vor Leipzig hier. Morgen schlafen wir schon dort."
"Ja, in einem entsetzlich stinkigen Jugendgästehaus mit irgendwelchen Prolls im Zimmer."
"Wer weiß? Vielleicht haben wir ja auch ein nettes schnuckeliges Doppelzimmer?"
"Träum weiter, mein Schatz." Ich küßte ihn zum Abschied.
"Das werde ich. Ich werde von dir träumen."

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