Montag, 8. September 1997

8. September

"Gehen wir uns vielleicht manchmal gegenseitig auf die Nerven?"
"Vielleicht. Ich weiß es nicht."
"Ich will aber nicht, daß du mir auf die Nerven gehst. Tim, ich habe dich lieb."
"Ich dich doch auch."
Ich umarmte ihn ganz fest.
"Warum waren wir plötzlich so komisch?"
"Keine Ahnung. Ich weiß es echt nicht."
Wir hielten uns fest wie zwei Ertrinkende. Und dann fingen wir plötzlich an zu heulen. Einfach so, ohne Grund. Langsam strich ich ihm durch seine strubbeligen Haare, küßte seine Tränen weg.
"Nicht weinen. Bitte nicht weinen, Nils. Was ist denn los mit dir? Was ist denn los mit uns?"
Er schluckte und schluchzte: "Ich weiß es nicht. Ich weiß es doch auch nicht. Ich hab dich lieb. Das ist einfach alles."
Wir hielten uns eine halbe Ewigkeit fest. Und es tat gut. Ganz langsam beruhigten wir uns wieder. Es muß eine sehr seltsame Situation gewesen sein. Zwei Jungens stehen eine Ewigkeit mitten im Zimmer, umarmen sich und heulen.
"Alles wieder ok?"
Nils nickte und lächelte: "Wir sind ganz schön dumm, oder?"
"Ich weiß nicht. Ich habe die Gebrauchsanleitung noch nicht gelesen."
"Welche Gebrauchsanleitung?"
"Die von Nils und Tim."
"Vor Gebrauch schütteln?"
"Um Gottes Willen nicht schütteln!"
Wir prusteten beide los. Und auf einmal war dieser Schleier aus Blei weg. Plötzlich war alles wie immer. Nils und ich waren wieder wir beide.
Als ich unseren Wagen die Einfahrt rauskommen hörte, küßten wir uns heftig zum Abschied und guckten uns tief in die Augen. Nils, mein Nils!

Wir gingen runter. Dad trug die schlafende Lisa ins Haus und nickte Nils zu. Phil grinste mich unverschämt an und Mom war damit beschäftigt, den Wagen auszuräumen. Mein Nils schwang sich aufs Rad, drehte sich noch mal in der Kurve um und verschwand.
"War's schön?", flüsterte mir Phil grinsend zu.
Ich boxte ihm in die Seite. "Halt bloß den Mund", zischte ich.

Montagmorgen. Mom, Dad und Lisa gehen aus dem Haus. Phil und ich sitzen noch am Frühstückstisch.
"Willst du noch ein Brötchen?"
"Ja."
"Dann nimms dir doch und schneide es dir selber auf. Oder schaffst du das nicht mit deinem Gipsarm."
"Penner."
"Das ist die Rache für deine dumme Bemerkung gestern."
Phil grinste. "Ich hab's doch nicht böse gemeint."
"Schon klar. Aber so was fragt man nicht."
"'So was fragt man nicht'", äffte Phil mich nach, "du klingst schon fast so wie Mom. Und überhaupt. Wieso fragt man so was nicht?"
"Weil das intime Sachen sind, die niemanden was angehen."
"Du hast intime Geheimnisse? Erzähl!"
"Ich glaube nicht, daß DU die hören willst. Oder willst du etwa wissen, was Nils und ich im Bett so treiben?"
"Verschone mich, bitte", meinte Phil lachend.
"Du hast mir auch nie erzählt, was du mit deinen Mädels so im Bett anstellst."
"Das hätte dich doch gar nicht interessiert, oder?"
"Nee, nicht wirklich. Aber damals wußtest du ja noch gar nicht, daß mich das gar nicht interessiert."
Phil warf einen leeren Joghurt-Becher nach mir, doch ich wich zur Seite aus und er landete auf der Anrichte.
"Wer weiß", sagte ich, "vielleicht bin ich ja genau DESHALB schwul geworden? Du hast mir keine Sex-Stories erzählt."
"Du bist unmöglich."
"Ich weiß."
"Hast du dir schon mal Gedanken über AIDS gemacht? Ich meine, hast du mal einen Test gemacht?"
"Nein. Wieso?"
"Naja, man hört das doch so, ok ich will dir ja jetzt nicht zu nahe treten. Aber es ist doch noch so, daß AIDS bei Schwulen öfter vorkommt als in der normalen Bevölkerung."
Eigentlich sollte mich das ja mit der "normalen Bevölkerung" aufregen. Stattdessen antwortete ich: "Ich wüßte nicht, wo ich mir das geholt haben sollte."
"Hast du bisher immer Safer Sex gehabt?"
"Ja."
Was sollte ich ihm sagen? Sollte ich sagen, daß Nils und ich einmal ohne Gummi miteinander geschlafen haben? Was würde das ändern?
"Respekt. Ich habe einen verantwortungsvollen Bruder."
Ich kam mir mies vor. Mies und verlogen.
"Können wir das Thema wechseln?"
"Von mir aus. Gehst du heute wieder zum Training?"
"Na klar."
"Schon seltsam. Ich habe dich noch nie so begeistert von einer Sache gesehen. Du warst noch nie irgendwo so dabei wie jetzt beim Ringen. Ist das wegen Nils?"
"Ich weiß es nicht. Es macht mir eben Spaß."
"Ich finde, es sieht gefährlich aus."
"Nicht gefährlicher als zum Bund zu gehen", ich deutete auf seinen Arm. "Kriegst du wenigstens Rente? Oder Schmerzensgeld? Vielleicht kann man sie ja auf Schadensersatz verklagen? Eine Million Mark?"
Phil lachte: "Schön wär's. Wenn ich Glück habe, muß ich nicht nochmal zurück. Vielleicht sollten wir Dads alte Kontakte zum UKE wieder aktivieren."
"Ich dachte, du bist so begeistert vom Bund? Und jetzt willst du nicht mehr hin."
"Ich war nie begeistert von dem Haufen. Ich wußte bloß nicht, was ich sonst machen sollte."
Ich seufzte. Irgendwann würde meine Musterung kommen. Und ich weiß noch nicht einmal, was ich da machen muß. Ich muß mir dringend ein paar Informationen besorgen.
Ich räumte die Spülmaschine ein, während Phil mit seinem einem Arm die Reste in die Küche jonglierte. Dann noch ein bißchen Sonne. Nils ruft an. Wir treffen uns zwei Stunden vor dem Training in der Halle. Ok, soit-il, heißt das so? Ich weiß, was mich erwartet, aber ich will es ja.

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