Freitag, 12. September 1997

12. September

"Nein, laß mal. Ich mache nicht mehr mit."
Max war bei mir und bastelte an meinem Computer rum. Ich hatte ihn gefragt, ob er nicht einfach mal wieder mitkommen will zum Training. Es wäre schön gewesen, wenn er wieder mal dabei gewesen wäre, weil er nicht alles so tierisch ernst nimmt wie die anderen. Aber er wollte nicht. Jedenfalls hat er irgendwelche neuen Chips in meinen Computer eingebaut und das Ding funktioniert jetzt schneller. Wobei ich gar nicht weiß, wieso eigentlich. Aber vielleicht wäre es ja echt eine Idee, mein Tagebuch am Computer zu schreiben. Aber das würde wahrscheinlich ewig dauern, bis ich das getippt hätte. Max scheint es jedenfalls ganz gut zu gehen. Er ist eigentlich wie immer nur noch ein bißchen mehr abgedreht und läßt sich jetzt die Haare lang wachsen. Na, ich finde es ja ein bissele komisch, aber was soll's.
Am Nachmittag Extra-Training mit Nils. "Hast du schon gehört", fragte er mich, "wir bekommen wahrscheinlich einen neuen Trainer?"
"Nein, noch nichts von gehört. Wieso denn? Und wen?"
"Ich weiß es noch nicht, aber es wird schon so erzählt."
"Wer erzählt was?"
"Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht. In der nächsten Woche werden wir es schon noch erfahren."
"Vielleicht wird's ja Werner. Fände ich ganz gut. Auf jeden Fall ist alles besser als Dimitri."
"Ach komm, so schlecht ist er doch nicht. Nur weil du so ein Sensibelchen bist."
"Ich bin kein Sensibelchen", protestierte ich, duckte mich unter ihn und zog ihm die Beine weg.
"Ein Sensibelchen und unfair noch dazu", keuchte er unter mir.
Ich hielt ihn fest und ließ nicht los. Er strampelte mit den Füßen, doch ich hielt ihn nur noch fester.
"Herrgott, ist ja gut", schrie er. Ich ließ ihn los.
"Was soll denn das?"
"Wie? Was das soll? Ich denke, ich bin zu langsam, sagst du doch immer."
"Ich habe das Training noch nicht eröffnet."
"Ich habe das Training noch nicht eröffnet", äffte ich ihn nach. Das hätte ich lieber nicht machen sollen, denn er stürzte sich auf mich und schleuderte mich herum. Ich schaffte es gerade noch mit letzter Kraft, auf den Bauch zu kommen.
"Du wirst mir ein bißchen zu übermütig", sagte er, während er meinen Kopf auf die Matte drückte. Ich hatte Schwierigkeiten, Luft zu kriegen. Gleichzeitig spürte ich seinen Schwanz, der sich an mir rieb. Das war eine total komische Situation. Einerseits haßte ich diese hilflose Lage, daß ich kaum Luft bekam. Und auf der anderen Seite lag da mein Nils über mir, ich spürte ihn, seinen ganzen Körper. Mit einem Ruck drehte er mich um und ich lag auf der Schulter.
"Na, endlich zufrieden?", fragte ich bockig.
"Ja, so ist's schon besser. Du sollst Heiko besiegen. Nicht mich."
"Langsam glaube ich, daß dir das wichtiger ist als mir."
"Mir ist es so wichtig, weil es dir wichtig ist."
"Ach komm, das ist doch albern."
"Das ist nicht albern. Habe ich denn irgendeine andere Chance?"
"Was meinst du denn mit Chance?"
Nils guckte sich um, doch in unsere Nähe war niemand: "Gib es doch zu. Er spukt immer noch in deinem Kopf herum. Und welche Chance habe ich, gegen ihn anzukommen?"
"Nils, du brauchst nicht gegen ihn anzukommen. Du bist mein Freund. Verdammt noch mal, verstehst du das nicht?"
"Natürlich verstehe ich das. Und ich glaube dir auch. Aber ich glaube auch, daß du mit Heiko noch nicht fertig bist."
"Was meinst du mit 'noch nicht fertig'?"
"Da kommt noch was. Irgend etwas kommt da noch."
"Na toll, ganz toll." Ich stand auf und begann auf und ab zu laufen. "Weißt du, daß ich ihn schon fast vergessen hatte, bis du mit diesem Scheiß-Video angekommen bist?"
"Das glaube ich dir nicht, Tim. Du hast ihn nicht vergessen. Du hast ihn nie vergessen."
Ich schwieg, drehte mich um, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Was sollte ich ihm denn sagen? Daß es nicht einen einzigen Tag gegeben hat, an dem ich nicht an Heiko gedacht habe? Plötzlich hörte ich Nils Stimme ganz dicht hinter mir: "Du hast es nicht anders gewollt. Da mußt du jetzt durch. Wie soll es denn sonst mit uns weitergehen, wenn du ihn nicht aus deinem Kopf rauskriegst?"
"Wer sagt denn, daß ich ihn dadurch aus meinem Kopf rauskriege?" Ich drehte mich um und sah in Nils' ernsthaftes Gesicht.
"Du sagst das, du glaubst das."
Shit, bin ich ein so offenes Buch? Kann man mir meine Gefühle so deutlich ansehen?
Unser Training war beendet, noch ehe es richtig angefangen hatte. Wir saßen einfach nur da.
"Du redest im Schlaf. Und du redest von Heiko. Denkst du denn, ich mache mir keine Gedanken darüber?"
So eine Scheiße, was sollte ich denn DAGEGEN machen? Ich wollte ihn so gerne in den Arm nehmen, ihm sagen, daß es nur ihn für mich gibt. Aber das ging natürlich nicht in der Halle. Und ich weiß auch nicht, ob er mir das glauben würde.
"Du bist mein Freund", sagte er, "mein erster Freund, mein einziger Freund. Und ich will dich nicht verlieren. Und ich werde alles tun, damit wir zusammenbleiben. Aber so lange da noch Heiko in deinem Kopf rumspukt, bist du eben nicht ganz frei."
Es ist seltsam, daß Nils plötzlich solche Dinge sagt. Es scheint so, als wenn er plötzlich so unheimlich erwachsen geworden ist. Die Stimmung war gekippt. Nein, wir waren nicht böse aufeinander, wir waren nur beide total nachdenklich geworden und zottelten schweigend nach Hause. "Ich hab dich lieb", flüsterte er mir zum Abschied zu. Ich drückte ihn.
Er hat recht. Heiko war nie ganz raus aus meinem Kopf. Und ich glaube, das wird er auch nie. Irgendwo wird er immer einen Platz darin haben.

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