Donnerstag, 11. September 1997

11. September

"Was machst du gerade?"
"Nichts, ich gucke aus dem Fenster."
Das war gelogen. Das war absolut gelogen. Ich saß vor dem Fernseher und guckte mir das Video mit Heiko an. Immer und immer wieder. Warum hatte ich mich nur so in ihn verknallt? Natürlich sieht er niedlich aus. Natürlich sieht er geil aus. Aber es gibt Jungs, die sehen viel niedlicher aus als er, viel geiler und in die habe ich mich nicht verknallt. Ich weiß es nicht, was es ist. Es muß irgendwas geben, eine merkwürdige, magische Ausstrahlung, die daran schuld ist, daß man sich in jemanden verknallt. Wieso hat sich Doris in Clemens verknallt? Der Typ ist doch nun so was von uninteressant. Und trotzdem hat sie sich in ihn verliebt? Wieso hatte sich Max in Melanie verknallt? Wieso ich mich in Nils? Wieso in Heiko?
Warum verliebt man sich in jemanden? Ich weiß es nicht.
Ich sah Heiko auf dem Video und auf eine komische Art kam mir alles vertraut vor, was er machte, wie er sich bewegte. Nicht beim Ringen, das andere dazwischen. Ich kenne ihn kaum. Nur ein paar Mal haben wir uns bisher gesehen, ein paar Mal miteinander gesprochen. Es ist seltsam. Ich zwinge mich, den Videorecorder auszuschalten. Nein, nicht noch mal in Heiko verknallen. Nicht noch mal das alles durchmachen. Weiß Nils eigentlich, was er da macht mit dem Video? Hat er das absichtlich gemacht, um mich zu testen? Oder macht er das tatsächlich nur, um mir beim Training zu helfen?

Na klar. Ab sofort sind Beinangriffe angesagt. Als wenn wir das nicht sowieso schon bis zum Umfallen geübt hätten. Aber ich merke, wie ich besser werde. Zweimal habe ich es geschafft, schneller als Nils zu sein. Dann holte er Flo und ich war wirklich gut. "Respekt", sagte er, "wenn man nicht damit rechnet, dann hat man keine Chance."
"Dann hoffe ich mal, daß hier niemand ein Video dreht."
"Ein Video?" Flo guckte mich fragend an.
"Vergiß es, Insidertalk."
"Du hast ein, vielleicht zwei Chancen, das durchzuziehen. Danach wird er damit rechnen", sagte Nils.
"Oder vielleicht ja auch nicht, weil er glaubt, ich mache das nicht noch ein drittes Mal."
"Oder vielleicht ja doch, weil er glaubt, daß du glaubst, daß er glaubt..."
"Ja, danke. Und was mache ich jetzt?"
"Beinangriffe. Und Hebel. So offen, wie er die Arme anbietet."
"Und er?"
"Er macht aus allen Situationen was. Er macht die Griffe total korrekt. Wenn er erstmal einen angesetzt hat, hast du wenig Chancen. Also mußt du das verhindern."
"Jaaaaaa."
Ich schloß die Augen und legte mich lang auf die Matte. Ich sog die Geräusche um mich herum auf. Den Geruch, die Atmosphäre. Das war meine kleine Welt. Seit über einem Jahr war das wirklich meine Welt. Oder wenigstens ein Teil davon. Ich erwische mich dabei, daß ich ernsthaft mit dem Gedanken spiele, die Sache mit Leipzig sausen zu lassen. Was soll dieser Unsinn überhaupt? Habe ich das nötig? Gewinnen gegen Heiko? Warum? So eine blöde Idee. Was ist, wenn ich es schaffe? Was, wenn nicht? Es wäre schön, wenn ich so einfach sagen könnte, ich fahre nicht. Doch jetzt ist es zu spät. Und natürlich will ich Heiko wiedersehen. Ich würde lügen, mich selber anlügen, wenn sich sage, daß ich das nicht will. Nur irgendwie ist das mit dem Gewinnen nicht mehr so stark. Jedenfalls im Augenblick nicht.
"Was will DER denn hier?"
Ich öffnete die Augen und setzte mich hin. Benji kam auf uns zu gehüpft.
"Na? Wie geht's? Sieht so das Bergbacher Training für Leipzig aus? Faul auf der Matte rumliegen?"
"Ich zeige dir gleich, wie das aussieht bei uns", sagte ich, sprang auf, erwischte seinen Arm und zog ihn nach unten. Ich schaffte es, seinen Knöchel zu packen und kippte den ganzen Benji vornüber, so daß er fast einen Kopfstand machte und hielt ihn in dieser Stellung fest: "Noch Fragen, Hauser?"
Er kicherte: "Ja Kienzle! Werden Sie das auch im Wettkampf so machen?"
Ich ließ ihn los. Er boxte mich in die Seite: "Nicht schlecht. Hat er dir das gezeigt?"
"Oh, wir verraten nie unsere Geheimnisse."
Nils schien das alles nicht lustig zu finden: "Was machst du denn hier?"
"Wir wollen uns eine von euren Ringerpuppen ausleihen, weil unsere große kaputt ist. Kalle hat schon mit Werner gesprochen."
"Wofür braucht Degendorf einen Ringerpuppe? Ihr schafft es doch nicht mal in die Bezirksliga. Außerdem haben sie dich ja."
"Witzbold", sagte Benji und zottelte davon.
"Warum bist du so gemein zu ihm?"
"Ich kann ihn nicht leiden. Er ist so ein Dauergrinser."
"Ich finde ihn ganz nett."
"Aha."
"Mein Gott. Nur nett. Mehr nicht. Echt nicht. Er ist absolut nicht mein Typ. Und außerdem ist er nicht schwul."
"Woher weißt du das? Schon mal ausprobiert?"
Ich weiß echt nicht, was Nils hat, wenn es um Benji geht.
"Natürlich nicht. Ich weiß es einfach. Manche Sachen kriegt man eben mit. Ok?"
"Ok. Und jetzt los, Kevin wartet auf dich."
"Kevin?"
"Na klar. Muß ich noch was sagen?"
Mußte er nicht. Warum auch. Na klar, Kevin eben. Wenn es nicht Silvio ist, geht es ja noch.
Es ist aber wirklich so. Benji finde ich nett. So wie Flo, wie Max. Einfach nur so. Ohne daß ich mich in einen von ihnen verknallen würde. Ohne daß ich mit einem von ihnen ins Bett hüpfen würde. Vielleicht glaubt ja Nils, daß ich was mit Benji gehabt habe. Oder vielleicht gerne haben würde. Ich weiß nicht, wie ich ihm wirklich beweisen kann, daß da nichts war, nichts ist. Und jetzt habe ich ihn nicht einmal gefragt, ob er auch nach Leipzig kommt, ob er wirklich antritt. Gegen Benji, das ist mir klar, habe ich keine Chance. Nicht mal mit Kraft.

Nils und ich radelten nach Hause und quatschten noch ein halbe Ewigkeit an unserer Kreuzung. Was spannend war: Nichts über Ringen. Wir quatschten einfach nur so, irgendwelche Sachen. Auf dem Restweg nach Hause begann ich zu frieren. Es ist Herbst. Samstag kaufen wir Winterklamotten.

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