Dienstag, 8. Juli 1997

"Das kann doch nicht wahr sein. Willst du etwa immer noch weitermachen?"
Flo guckte mich beinahe flehend an.
"Eine Runde noch, ok?"
"Na gut!"
Wir hatten nach dem Training noch zusammengesessen und ich meinte, daß ich eigentlich noch weiter trainieren könnte. Irgendwie glaubte er wohl, daß ich Witze mache und willigte ein. Nach zwei Stunden war er total fertig. Ok, ich auch, aber eigentlich ist ja Flo immer der, der mit der Kondition am besten von uns allen drauf ist.
"Kommst du jetzt zu deiner alten Form zurück?" fragte er
"Mal sehen, ich weiß noch nicht. Aber mich hat mal wieder das Ringerfieber gepackt."
Flo runzelte die Stirn: "Du bist komisch Tim, nein, nicht komisch, seltsam."
"Seltsam? Wieso?"
"'Wieso' ist in diesem Zusammenhang die falsche Frage. Korrekt wäre 'inwiefern'."
"Ok, ok, ich weiß, Deutsch als LK, aber ich habe jetzt echt keinen Bock auf solchen Unsinn, also wieso oder inwiefern von mir aus?"
"Ich kann es nicht richtig sagen. Mal bist du echt gut drauf und dann bist du plötzlich so reizbar, überempfindlich, unausstehlich und aggressiv."
Ich schaute ihn einfach nur an. Was sollte ich darauf denn auch schon sagen?
"Und du willst wirklich nicht mit mir darüber reden?"
"Flo, bitte, nein, drängele mich nicht. Vielleicht erzähle ich es dir irgendwann mal. Aber im Moment geht das einfach nicht."
"Ich sehe doch, was los ist. Du hast dich mit Nils gezofft, warum auch immer. Das geht mich ja vielleicht wirklich nichts an. Aber ihr habt heute beim Training kein Wort miteinander geredet. Und vorhin hast du dich sogar geweigert, einen Trainingskampf gegen ihn zu machen. Im Endeffekt leidet die ganze Mannschaft darunter."
Im Endeffekt, im Endeffekt ... Flo wird bestimmt mal Journalist. Oder Deutschlehrer.
"Geht es dir um die Mannschaft oder um etwas anderes?" Ich war richtig stolz, auf diese Antwort. Aber er ließ sich nicht so leicht abwimmeln: "Es geht mir um die Leute, die dahinter stecken. Es geht mir um Nils und es geht mir um dich. Ihr seid beide meine Freunde und ich kriege das echt nicht auf die Reihe, was hier im Augenblick abgeht. Du prügelst auf Nils ein. Redest kein Wort mehr mit ihm. Und du verschwindest von meiner Party. Ganz plötzlich, nachdem Nils angefangen hat, mit Sarah zu knutschen."
Ich schwieg. Und ich kämpfte mit mir. Soll ich es ihm sagen? Was würde passieren? Wie würde er reagieren? Würde er es verstehen oder würde es innerhalb von kürzester Zeit überall rum sein? Tim Berger ist schwul und hat sich mit seinem Freund verkracht. Tolle Aussichten. Ich könnte mich einsargen lassen. Im Verein, in der Schule. Zu Hause. Warum fragt Flo so intensiv nach? Warum interessiert ihn da so? Ich bin mir 100% sicher, daß er nicht schwul ist, so sicher, wie ich mir bei jedem anderen aus unserem Verein bin. Also, warum? Ist es wirklich so, daß es ihm um Nils und mich geht? Bin ich einfach zu mißtrauisch? Vielleicht leide ich ja echt unter Verfolgungswahn.

Tassi hatte ich es gesagt. Aber Tassi war weit, weit weg. Meine alten Kumpels waren weit, weit weg. Ich wünschte mich zurück an die Zeit, wo ich noch im GySue war. Da war alles klar. Niemand wußte was und niemand brauchte was zu wissen. Und hier, hier in diesem Kaff, wo jeder jeden kennt, fange ich an, mich richtig zu verlieben. Das ist alles nicht fair.
Und dann habe ich etwas seltsames gemacht. Ich weiß nicht wieso, aber es überkam mich einfach: ich habe Florian in den Arm genommen, ihn fest gedrückt und gesagt: "Sobald ich wieder etwas klarer bin, sage ich es dir als Ersten, versprochen." Ich merkte, wie er für den Bruchteil einer Sekunde zurückzuckte, als ich ihn umarmte. Dann sah er mich an, grinste, nein er lächelte: "Ich glaube, du machst es dir selber viel schwerer als es sein muß. Aber ok, wenn du es so willst. Und jetzt laß uns endlich abhauen, bevor sie uns noch einsperren, wegen Extrem-Training."

Weiß er Bescheid oder nicht? Ich habe keine Ahnung. Auf der einen Seite sind seine Andeutungen ja schon ziemlich eindeutig. Auf der anderen Seite klingt es so, als wenn er wirklich glaubt, ich habe mich mit Nils wegen dieses Mädels gezofft. Jedenfalls bin ich nach unserem Training noch eine halbe Ewigkeit durch die Stadt gelaufen. Habe wieder mal am Brunnen gesessen. Die Stadt schlief. Schlief tatsächlich schon um halb zwölf Uhr in der Nacht. Hier habe ich ganz am Anfang gesessen, die ersten Wochen und immer daran gedacht, wie toll es wäre, einen Freund zu haben. Und jetzt, jetzt hatte ich einen Freund. Tatsächlich einen Freund in diesem Nest, und ich habe ihn verloren. Für immer verloren. Ich werde zurück nach Hamburg gehen, gleich nach dem Abi werde ich nach Hamburg gehen. Irgendwo da Zivildienst machen und dann entweder da bleiben oder einfach abhauen, nach London, oder New York. Irgendwohin, nur raus, raus aus diesen bescheuerten Regeln, raus aus diesem Nettsein und Rücksichtnehmen, raus aus diesem Theaterspielen und Frustriertwerden.

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