Samstag, 3. Mai 1997

3. Mai

"Was machst DU denn hier?"
Ich war nicht mal verwundert über seine Reaktion. Eigentlich habe ich genau DIESE Reaktion erwartet. Aber er war einfach nur überrascht als er mich sah. Dann umarmte er mich plötzlich und sagte so etwas wie: "Hey, schön, daß du da bist." Ich erzählte ihm, daß Dad hier etwas in der Gegend zu tun hätte und daß ich eben einfach mitgefahren wäre, was ja alles überhaupt nicht gelogen ist. Er stellte mich den anderen Jungs aus der Gruppe vor. Die waren ganz passabel, also ich meine nicht atemberaubend, aber doch nicht so schlimm, wie ich mir die Leute in so einer schwulen Gruppe vorgestellt hätte. Dann setzten wir uns vor die Tür und Heiko schüttete mich mit Fragen zu: "Wie bist du denn überhaupt auf dieses Café gekommen?"
"Naja, ich habe ich eben erkundigt, wo man hingehen kann in Köln."
"Cool, daß du gerade in unserem Café gelandet bist. Ich dachte mir schon, daß du auch schwul bist. Eigentlich schon kurz nachdem wir uns gesehen haben."
Ich wurde panisch: "Wie? Sieht man mir das etwa an?"
Er lachte: "Nein, keine Angst. Wirklich nicht. Aber so wie du guckst. Wie du mich angeguckt hast. Irgendwie war es mir klar."
Ich blickte ihn an. Er hatte dieses total liebe, entwaffnenede Lächeln drauf, daß mich dahinschmelzen ließ. "Warum hast du mich nicht vorher angerufen, daß du nach Köln kommst?"
"Ich habe ja deine Nummer nicht." Oha, das klang eine Spur zu vorwurfsvoll.
"Nicht? Ich dachte, ich habe sie dir gegeben. Na wie auch immer. In welchem Hotel seid ihr denn?"
"Hotel?"
"Na irgendwo müßt ihr doch untergekommen sein hier. Du und dein Vater."
Shit, na toll, da hatte ich nun gar nicht dran gedacht an diese Frage. Ich kriegte gerade noch Novotel hin, weil ich wußte, daß Dad dort immer übernachtet, wenn er irgendwohin unterwegs ist.
"Ach so, sonst hättest du ja uach bei mir pennen können."
Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig: "Bei dir?"
"Na klar, überhaupt kein Problem. Meine Mutter weiß Bescheid, daß ich schwul bin."
"Echt? Und wie hat sie reagiert?"
"Total locker, ich habe es mihr erzählt, als ich 15 war."
"Wie? Da wußtest du schon, daß du schwul bist?"
"Natürlich, schon viel früher. Eine komische Frage. Seit wann weißt DU denn das?"
"Ich weiß nicht, ich habe keine Ahnung, irgendwie geahnt habe ich es schon ewig, aber ich weißt nicht...," ich stotterte tatsächlich vor mich hin. Zum Glück bekam ich irgendwann wieder Land unter den Füßen: "Und deine Eltern haben kein Problem, damit, wenn du jemanden mit nach Hause bringst?"
"Meine Mutter, ich wohne nur mit meiner Mutter. Nein, überhaupt keine Probleme. Mein Freund pennt ja auch regelmäßig bei mir."
"Dein Freund?" Shit, ich glaube das klang richtig hysterisch.
"Ja, ich habe einen Freund. Und du?"
Ich atmete tief. Es gab zwei Möglichkeiten. Ich sage ja oder nein. Innerhalb von ein paar Sekunden ging ich alle Möglichkeiten durch, die sich aus jeder der beiden Antworten ergeben können. Verbaue ich mir alle Chancen, wenn ich ja sage?
"Ja, ich habe auch einen Freund."
"Wow, bestimmt eine Leistung in so einer Kleinstadt. Aus der Schule oder woher?"
"Aus der Schule und bei uns aus dem Verein."
"Oh, dann habe ich ihn also gesehen, als wir da waren."
Ich grinste. Entwarnung. "Ja."
"Laß mich raten...dieser Typ, wie hieß er denn....Florian?"
"Nee, der nun ganz sicher nicht." Ich wollte dem Spiel ein Ende machen: "Nils."
Heiko guckte mich an, zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf: "Keine Ahnung, kann ich mich nicht erinnern."
"Nicht? Ihr ward doch noch zusammen in der Tofa."
"Ja, da war so ein Typ. Aber so richtig hat der keinen Eindruck hinterlassen. Und das ist dein Freund?"
Ich wußte nicht, ob ich beleidigt sein sollte oder erleichtert.
"Ja."
"Hast du es ihm erzählt?"
"Was?"
"Na was, wohl. Daß wir zusammen rumgemacht haben."
Ich war total überrascht, wie locker Heiko das alles zu sehen schien.
"Nein habe ich nicht. Hast du es deinem Freund erzählt?"
"Ja, habe ich."
"Und wie hat er reagiert?"
"Er hat kein Problem damit. Ich meine, so lange wir zusammenbleiben und nicht Liebe im Spiel ist, kann jeder machen, was er will."

Ich guckte ihn an und verstand nichts. Er hat einen Freund und erzählt ihm, daß er mit anderen Jungs rummacht und der findet es auch noch ok? Ich überlegte, ob ich seltsam bin oder Heiko. Ich schwieg. Das schien ihn aufzufordern, einfach mehr zu erzählen: "Ich fange doch nicht jetzt schon an, mich nur auf einen Typen festzulegen. Ich will Spaß haben, will was erleben."
"Ich glaube, Nils würde mich umbringen."
"Hast du ihm gesagt, daß du hier in die schwule Szene gehst?"
"Nein, ich gehe ja auch nicht in die schwule Szene."
"Nicht? Hey, du sitzt hier vor einem schwulen Café und ich nehme mal an nicht so ganz zufällig."
"Muß man eigentlich immer alles erklären im Leben?"
Heiko schaute mich an. Sein Blick traf mich, aber es war nicht das gleiche, wie bei Nils. Es war ein interessiertes Forschen.
"Und du meinst, du willst heute wirklich noch zum Novotel zurück?"

SHIT! Dieser Arsch, er wußte genau, daß er mich in der Hand hatte. Und er tat so, wie die Unschuld vom Lande. Und ich, was machte ich Idiot? Ich ging ihm voll in die Falle. Aber wieso IHM in die Falle. War es nicht eigentlich meine eigene Falle, die ich mir gestellt hatte? Und war es nicht, wenn ich es ganz genau sehe, gar keine Falle, sondern das, was ich eigentlich wollte, aber nie gehofft hatte?
"Naja, ich meine, wenn das Angebot mit dem Pennen bei dir noch gilt..."
"Klar, überhaupt kein Problem. Meine Mutter hat heute eh Nachtdienst, dann machen wir uns einen gemütlichen Abend."
Mein Herz machte einen Sprung. Heiko ging rein, um sich von den anderen zu verabschieden. Eine Frage lag mir auf der Zunge: "Was ist denn mit deinem Freund?"
"Matthes hat ein Auswärtsspiel und kommt erst morgen zurück."
Ich nickte. Niemand, niemand da, der uns stören würde.
"Willst du nicht noch deinen Vater anrufen?"
"Wieso?"
"Na daß du nicht kommst!"
"Ach so, ja." Shit, jetzt weiß ich, was mit diesem Sprichwort "Lügen haben kurze Beine" gemeint ist.
Ich taperte in die nächste Telefonzelle und tat so, als würde ich mit Dad telefonieren.

Dann fuhren wir zu Heiko, erstanden an der Tankstelle noch eine Flasche Bailey's und plötzlich stand ich bei ihm im Zimmer. Eine kleine Wohnung, aber ganz nett eingerichtet. An der Wand ein großes Poster von Eloy. Auf seinem Bett das gleiche Belami-Buch, das mir dieser Typ in Stuttgart besorgt hatte. Ich beneidete Heiko darum, wie easy das alles bei ihm ist. Kein Versteckspielen, kein Wegschließen, keine Heimlichtuerei. Sogar sein Freund kann bei (und mit?) ihm pennen, ohne, daß seine Mutter was sagt. Wir quatschten eine halbe Ewigkeit. Er erzählte mir, was ihn an Matthes alles nervt und ich hörte verwundet zu. Warum erzählt er mir das, dachte ich immer wieder? Irgendwann waren wir aber so mit diesem klebrigen Zeugs abgefüllt, daß sich alles zu drehen begann. Heiko warf mir ein Kissen und eine Decke zu.
"Falls du gleich einschläfst," sagte er grinsend.
Ich blickte ihn an. Dieser Idiot, dieser Penner, dieser arrogante und doch so liebe lächelnde Arschloch. Merkte er denn nicht, was ich wollte. Bekam er denn absolut nicht mir WARUM ich durch die halbe Republik gefahren war? WOLLTE er es nicht mitbekommen? Plötzlich fragte er: "Du sagst wohl nie, was du willst oder fühlst, oder?"
Ich war verwirrt: "Was meinst du?"
"Du hast mich schon gut verstanden. Tu nicht so, als wenn das bißchen Bailey's dich völlig meschugge gemacht hat."
Ich guckte ihn an, sein Lächeln war verschwunden, ich sah Heiko pur. Nach einer endlos erscheinenden Zeit fiel mir der richtige Satz ein: "Ich mache nie den ersten Schritt."
Er verdrehte die Augen: "Oh Gott, noch so eine Prinzessin."
Ich war kurz davor, sauer zu werden. Doch dann sagte er: "Nun komm schon her und zieh' dich aus."
Und ich tat es. Ich dachte nicht mehr nach, mein Kopf war von einer auf die andere Sekunde ausgeschaltet. Wir wälzten uns auf seinem Bett und es war einfach toll, zu kurz, zu schnell vorbei, aber es war geil.
"Alles ok, Kleiner?"
Ich nickte und war glücklich. "Dich hatte ich schon mal", flüsterte ich. Heiko sah mich erstaunt an und dann grinste er: "Sag bloß, den Satz hast du dir gemerkt."
"Muß ich ja wohl."
"Und er hat dich gewurmt?"
"Ich fand ihn total zum Kotzen."
"Und deshalb hast du die erste beste Gelegenheit ergriffen und bist nach Köln gedüst, um es mir zu zeigen." Er lächelte sein schönstes Lächeln.
Ich war fassungslos. Wie kann ein Mensch nur so selbstbewußt sein?
"Hey, paß mal auf...," fing ich an.
"Ok, ok, ist ja schon gut. Sorry, ich wollte dich nicht ärgern. Bleib einfach ganz locker, ok?"
Er umarmte mich kurz und heftig, dann drehte er sich auf die andere Seite und pennte ein.

Und ich? Ich lag die ganze Nacht wach. Ich glaube, ich habe nur minutenweise geschlafen. Neben mir schlummerte Heiko sanft vor sich hin, ich war wieder geil wie sonstwas, mir gingen tausende Sachen durch den Kopf. Ich konnte nicht schlafen. Was MACHE ich hier? Was mache ich in diesem fremden Zimmer, in dieser fremden Stadt? Ich gehöre nicht hierher. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper.

Irgendwann muß ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich wachte auf, als Heiko mich sanft am Arm rüttelte.
"Aufstehen, magst du mit uns frühstücken?"
Ich taperte ins Bad. Es war mir total peinlich, seiner Mutter zu begegnen, die vom Nachtdienst zurückgekommen war. Aber die nahm das total selbstverständlich hin. Und so saßen wir eine halbe Stunde später am Frühstückstisch und ich erzählte von Hamburg, Bergbach und von allen möglichen Sachen.
Dann taperten Heiko und seine Mom los, um für die Woche einzukaufen. Ich blieb da. Und nun sitze ich hier an Heikos Schreibtisch, schreibe und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Von links lächelt mich ein kleines Foto an, das muß wohl Matthes, Heikos Freund sein. Ich schaue raus: ein paar Meter gegenüber macht eine Frau alle fünf Minuten das Fenster auf, guckt auf die Straße und macht das Fenster wieder zu. Ich fühle, daß ich nicht hierher gehöre. Aber ich fühle gleichzeitig, daß da immer noch etwas ist, was ich für Heiko empfinde. Ich verstehe es alles nicht. Sie kommen zurück. Ich muß aufhören zu schreiben.

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